Für mich besteht der Kern der Geschichte darin, dass sie Gefühle mitteilt. Dass sie anspricht, was uns Menschen, über alle Grenzen und Unterschiede hinweg, eint. Rund um das Erzählen sind riesige, glanzvolle Industrien entstanden, die Buchindustrie, die Filmindustrie, die Fernsehindustrie, die Theaterindustrie. Am Ende aber handeln Geschichten immer davon, dass ein Mensch zu einem anderen sagt: So empfinde ich das. Verstehst du, was ich sage? Empfindest du genauso?
In allem, was ich bisher von dem britischen Autor und letztjährigen Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro gelesen hatte, lag eine so ungekünstelte und authentische, souveräne Authentizität, dass ich die Lektüre dieser Rede ein klein wenig fürchtete; könnte doch ein persönliches Dokument das hehre Bild, welches ich von dem Menschen Ishiguro vor dem Hintergrund seiner Werke pflegte, untergraben.
Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Ich bin nach der Lektüre sogar noch mehr von der Sensibilität, die Ishiguros Narrative meiner Ansicht nach bedingt und ausmacht, überzeugt; vom Feinsinn, den ich in seiner Prosa immer gespürt zu haben glaubte.
Eigentlich schildert Ishiguro lediglich seinen schriftstellerischen Werdegang, allerdings mit dem Augenmerk auf die kleinen Erkenntnisse, die, in einem Moment an ihn herangetreten, die Konzeption und Ideen ganzer Romane zur Folge haben sollten und sich als Wendepunkte erwiesen, die seine Auffassung vom Schreiben und Erzählen grundlegend veränderten.
Schon sein erstes Buch hätte er nicht geschrieben, wenn er nicht 1979 an einem einjährigen Graduierungskurs für kreatives Schreiben teilgenommen hätte. In einer kleinen Stadt, in einer geräumigen Dachkammer hausend, mit wenigen Kursen an der Universität, war er zurückgeworfen auf seine bisherigen literarischen Versuche. Die Auseinandersetzung damit führte schließlich, wie bei einem Fluchtreflex, dazu, dass er zum ersten Mal über Japan schrieb, das Japan seiner Erinnerung, seiner Vorstellung. Es entstand „A pale view of hills“.
„Diese Monate waren insofern entscheidend für mich, als ich, hätte ich sie nicht erlebt, wahrscheinlich nie Schriftsteller geworden wäre. Seither habe ich oft zurückgeblickt und mich gefragt: Was ging damals in mir vor? Woher kam diese eigenartige Energie? Mein Fazit ist, dass es an diesem Punkt meines Lebens um einen notwendigen Akt des Bewahrens ging.“
Das Bewahren blieb ein wichtiges Element von Ishiguros Werk, aber andere Aspekte traten hinzu. Auch die weiteren Erkenntnisse und wie er zu finden ihnen fand, beschreibt Ishiguro eindrücklich und schlicht: Wie ihn ein gewöhnlicher Filmabend auf die Essenz jeder Geschichte brachte: wir wollen, dass es darin um Beziehungen (oder die Abwesenheit von Beziehungen) geht, die etwas bedeuten. Oder wie ein Besuch in Ausschwitz, wo die schrecklichen Todesbauten der Nazis allmählich verfallen, ihn mit der Frage konfrontierte, ob und wie Erinnern in Gesellschaften gepflegt werden sollte. Wie soll man mit solchen Erinnerungen umgehen?
Diese Überlegungen wirkten sich direkt auf die Romane „Never let go“ bzw. „The buried giant“ aus.
Ishiguros Nobelpreisrede ist keine große Poetikvorlesung. Sie ist etwas viel Schöneres, Menschlicheres: eine Erzählung von den Momenten, in denen Kunst ihren Anfang nimmt, in Regungen, die dem Bedürfnis nach Mitteilung, nach Bewahrung, nach Wahrheit und Verstehen entspringen. Ishiguro verleiht dem Akt des Schöpfens menschliche Züge, ohne ihn zu entzaubern.
Ich bin sehr dankbar für dieses kleine Dokument, diese einfache Schilderung eines Lebensweges und eines daraus erwachsenden Selbstverständnisses, in dem Ishiguro im letzten Abschnitt außerdem noch klar Position bezieht, was die neusten Umbrüche und zersetzenden Dynamiken in unserer Zeit angeht, über die er kurz und bündig schreibt:
Wenn wir heute auf die Zeit seit dem Fall der Berliner Mauer zurückblicken, erscheint sie uns als Epoche der Selbstgefälligkeit und der vertanen Gelegenheiten. Wir haben eine gigantische Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Chancen zugelassen, zwischen Nationen ebenso wie innerhalb von Nationen. […] Die langen Jahre der Austeritätspolitik, die nach der skandalösen Finanzkrise 2008 dem einfachen Volk aufgezwungen wurde, haben uns in eine Gegenwart geführt, in der sich rechtsextreme Ideologien und völkische Nationalismen rasant ausbreiten. Rassimus, ob traditioneller Prägung oder in seinen modernen, professioneller vermarkteten Erscheinungsformen, ist wieder im Kommen. Vorläufig scheint uns jede progressive, einigende Vision zu fehlen. Stattdessen zerfallen selbst die reichen Demokratien des Westens in rivalisierende Lager, die erbittert um Macht und Ressourcen streiten.
Also: Eine in jeder Hinsicht bereichernde Lektüre!
Hier auch noch der Link zu einem Essay, den ich zu Ishiguros Werk verfasst habe, publiziert beim Signaturen-Magazin