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Zu Ali Smiths “Von Gleich zu Gleich”


Ich weiß noch, wie ich das erste Mal ein Buch von Ali Smith las, kann mich gut an meine Begeisterung erinnern. Es hieß „Girl meets boy“ und war eine moderne Fassung/Variation des Mythos von Iphis (und Teil einer ganzen Reihe mit modernen Versionen zu einigen antiken/klassischen Mythen und Geschichten – auch sehr lesenswert ist hier Margarete Atwoods Buch zur Odyssee, in dem Penelope die Protagonistin ist). Ein kleines, tapferes Märchen ist „Girl meets boy“ und gleichsam eine kluge Erzählung über die Zuschreibungen Mädchen/Junge.

Wie bei Sarah Waters sind Smiths Hauptfiguren eigentlich immer Frauen, die Frauen lieben. So auch in „Von Gleich zu Gleich“, der Übersetzung ihres Debütromans „Like“, welcher bereits 1997, zwei Jahre nach ihrer ersten, preisgekrönten Sammlung mit Short-Storys, erschien. Die Protagonistinnen heißen hier Amy und Ash, eine Engländerin und eine Schottin. Ihre zerrissene Liebesgeschichte wird in zwei Teilen erzählt, in denen jeweils eine andere Perspektive zur Geltung kommt.

Der erste Teil ist eine eher ruhige Schilderung der Geschichte zwischen den beiden Frauen, vom ersten Kennenlernen über Schwierig- und Abhängigkeiten bis zum Ausgang ihrer Beziehung. Der zweite Teil ist Ashs Tagebuch, in dem ein ganzes Panorama an Kunst-, Literatur- und sonstigen Referenzen, nebst politischen Kommentaren und persönlichen Einträgen, entfaltet wird, in dem aber auch zahlreiche Lücken des ersten Teils (zumindest teilweise) geschlossen werden.

Alles in allem lässt Smith ihren Leser*innen viel Interpretationsraum und findet schnell zu eine geschickten Erzählton, der das Geschehen lebendig hält, aber viel Raum für Andeutungen und Zweideutigkeiten lässt. Was wirklich zwischen beiden Frauen alles vorfällt, wer wie fühlt und bis wohin manche Andeutung führt, lässt sich so nur bis zu einem gewissen Grad wirklich feststellen – vieles bleibt ambivalent.

Und das ist wohl auch der Reiz dieses Buches, das man bestimmt mehrmals zur Hand nehmen kann, ohne es jemals gänzlich auszuschöpfen. Trotzdem ist es kein übertrieben ehrgeiziges Buch, sondern vollbringt dies Wunder der Unausschöpflichkeit auf kleinstem Raum, im Zuge einer verwinkelten, spannenden, aber nicht überaus komplexen Story. Kurzum: der Roman hält gut die Balance zwischen Ambition und Unterhaltung, eine seltene Glanzleistung.

Zu der Anthologie “Grand Tour”


Grand Tour

Grand Tour, das ist ein etwas altbackener Titel für eine doch sehr beachtliche Anthologie, die uns mitnimmt auf eine Reise (oder sieben Reisen, denn als solche werden die Kapitel bezeichnet) in 49 europäische Länder und eine Vielzahl Mentalitäten, Sprachen, Stimmen und Lebenswelten, ins Deutsche übertragen von einer Gruppe engagierter Übersetzer*innen (und das Original ist immer neben den Übersetzungen abgedruckt).

Laut dem Verlagstext knüpft die von Jan Wagner und Federico Italiano betreute Sammlung an Projekte wie das „Museum der modernen Poesie“ von Enzensberger und Joachim Sartorius „Atlas der neuen Poesie“ an – vom Museumsstaub über die Reiseplanung zur Grand Tour, sozusagen.

Dezidiert wird die Anthologie im Untertitel als Reise durch die „junge Lyrik Europas“ bezeichnet. Nun ist das Adjektiv „jung“, gerade im Literaturbetrieb, keine klare Zuschreibung und die Bandbreite der als Jungautor*innen bezeichneten Personen erstreckt sich, meiner Erfahrung nach, von Teenagern bis zu Leuten Anfang Vierzig.

Mit jung ist wohl auch eher nicht das Alter der Autor*innen gemeint (es gibt, glaube ich, kein Geburtsdatum nach 1986, die meisten Autor*innen sind in den 70er geboren), sondern der (jüngste erschlossene) Zeitraum (allerdings ist die abgedruckte Lyrik, ganz unabhängig vom Geburtsdatum der Autor*innen, nicht selten erst „jüngst“ entstanden).

Wir haben es also größtenteils mit einer Schau bereits etablierter Poet*innen zu tun, die allerdings wohl zu großen Teilen über ihre Sprach- und Ländergrenzen hinaus noch relativ unbekannt sind. Trotzdem: hier wird ein Zeitalter besichtigt und nicht nach den neusten Strömungen und jüngsten Publikationen und Talenten gesucht, was selbstverständlich kein Makel ist, den ich der Anthologie groß ankreiden will, aber potenzielle Leser*innen sollten sich dessen bewusst sein.

Kaum überraschen wird, dass es einen gewissen Gap zwischen der Anzahl der Gedichte, die pro Land abgedruckt sind, gibt. Manche Länder (bspw. Armenien, Zypern) sind nur mit ein oder zwei Dichter*innen vertreten, bei anderen (bspw. England, Spanien, Deutschland) wird eine ganze Riege von Autor*innen aufgefahren. Auch dies will ich nicht über die Maßen kritisieren, schließlich sollte man vor jedem Tadel die Leistung bedenken, und würde mir denn ein/e armenische/r Lyriker/in einfallen, die/der fehlt? Immerhin sind diese Länder (und auch Sprachen wie das Rätoromanische) enthalten.

Es wird eine ungeheure Arbeit gewesen sein, diese Dichter*innen zu versammeln und diese Leistung will ich, wie gesagt, nicht schmälern. Aber bei der Auswahl für Österreich habe ich doch einige Namen schmerzlich vermisst (gerade, wenn man bedenkt, dass es in Österreich eine vielseitige Lyrik-Szene gibt, mit vielen Literaturzeitschriften, Verlagen, etc. und erst jüngst ist im Limbus Verlag eine von Robert Prosser und Christoph Szalay betreute, gute Anthologie zur jungen österreichischen Gegenwartslyrik erschienen: „wo warn wir? ach ja“) und auch bei Deutschland fehlen, wie ich finde, wichtige Stimmen, obwohl hier natürlich die wichtigsten schon enthalten sind. Soweit die Länder, zu denen ich mich etwas zu sagen traue.

Natürlich kann man einwenden: Anthologien sind immer zugleich repräsentativ und nicht repräsentativ, denn sie sind immer begrenzt, irgendwer ist immer nicht drin, irgendwas wird übersehen oder passt nicht rein; eine Auswahl ist nun mal eine Auswahl. Da ist es schon schön und erfreulich, dass die Anthologie zumindest in Sachen Geschlechtergerechtigkeit punktet: der Anteil an Frauen und Männern dürfte etwa 50/50 sein, mit leichtem Männerüberhang in einigen Ländern, mit Frauenüberhang in anderen.

„Grand Tour“ wirft wie jede große Anthologie viele Fragen nach Auswahl, Bedeutung und Klassifizierung auf. Doch sie vermag es, in vielerlei Hinsicht, auch, zu begeistern. Denn ihr gelingt tatsächlich ein lebendiges Portrait der verschiedenen Wirklichkeiten, die nebeneinander in Europa existieren, nebst der poetischen Positionen und Sujets, die damit einhergehen. Während auf dem Balkan noch einige Texte um die Bürgerkriege, die Staatsgründungen und allgemein die postsowjetische Realitäten kreisen, sind in Skandinavien spielerische Ansätze auf dem Vormarsch, derweil in Spanien eine Art Raum zwischen Tradition und Innovation entsteht, usw. usf.

Wer sich poetisch mit den Mentalitäten Europas auseinandersetzen will, mit den gesellschaftlichen und politischen Themen, den aktuellen und den zeitlosen, dem kann man trotz aller Vorbehalte „Grand Tour“ empfehlen. Wer diesen Sommer nicht weit reisen konnte, der kann es mit diesem Buch noch weit bringen.

 

Zu Ali Smiths Erzählung “Girl meets Boy”


“Ich hatte – bevor es uns gab – noch nicht gewusst, das ich mit jeder Faser meines Leibes Licht mit mir führen konnte, so wie ein Fluss, den man von einem Zug aus sieht, ein Fluss, der einen Streifen Himmel in die Landschaft schneidet. Bisher hatte ich nicht gewusst, dass ich so viel mehr sein konnte als nur ich. Hatte nicht gewusst, dass ein anderer Körper dies bei meinem auslösen kann.”

Iphis, die Tochter des Ligdus, eine der schönsten Gestalten aus dem Metamorphosen-Zyklus des Ovid: Geboren als Frau, sollte sie eigentlich nach der Geburt getötet werden. Um sie zu retten, zieht ihre Mutter sie als Junge auf. Dann verliebt sie/er sich in eine Frau …

Doch da die Geschichte in einem Kapitel von Ali Smiths Buch eh noch einmal nacherzählt wird, lasse ich offen wie es weitergeht. “Girl meets boy” geht sowieso einen etwas anderen Weg: Es ist die Geschichte zweier Schwestern, die zu Anfang unterschiedlicher nicht sein könnten.
Anthea, die jüngere, lässt sich eher treiben, weiß nicht was sie wirklich machen soll, während die ältere, Midge, voll im Karriereleben aufgehen will. Beide leben sie im alten Haus ihrer Großeltern in Schottland und gerade hat Midge Anthea einen Job besorgt bei der Firma, in der auch sie gerade arbeitet. Gleich am ersten Tag wird das Gebäude des Unternehmens von einem Sprayer verunstaltet. Anthea sieht zu wie er herunterklettert, sie wendet sich um, und:

“Mein Kopf, in dem geschah irgendetwas. Es war, als erhebe sich ein Sturm auf hoher See, aber nur für einen Moment und nur in meinem Kopf.”

Die ganze Rahmenhandlung ist eher Kulisse, gute gemachte Kulisse, in der vieles, was von Interesse ist, aufgegriffen wird. Trotzdem liegt ein wichtiger Schwerpunkt der 5. Kapitel “Ich”, “Du”, “Wir”, “Die”, “Und jetzt alle zusammen” auf dem Innenleben und der Wahrnehmung der beiden Schwestern; im Blick unter ihre Haut.

Diese Erzählperspektive ist es, die das Buch, neben seiner Thematisierung von klischeehafter Sexualität, so wertvoll macht. Obwohl solche Dinge wie Liebe und Ideal sehr schön scheinend und eher unreflektiert dargestellt werden, obwohl die Rahmenhandlung in ihren Ausläufern etwas dürftig scheint – die Art wie Ali Smith erzählt, lässt Seite für Seite des schmalen Buches vergehen. Die Art wie sie Gespräche darstellt und Gedankengänge: vorzüglich. Ihr Humor: locker und nie überstrapaziert eingesetzt.

“und ich überlegte, ob alles, was ich sah, ob vielleichte jede Landschaft, die wir mit einem flüchtigen Blick bedachten, das Produkt einer Ekstase war, derer wir uns nicht einmal gewahr waren, das Produkt eines Liebesaktes, der sich so langsam und stetig vollzog, dass wir es fälschlicherweise für Alltagswirklichkeit hielten.”

“Girl meets Boy” ist ein schönes, kurzes Werk. Die Mythen-Reihe, in der es erschienen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Mythen der Menschheit von aktuellen Autoren nacherzählen zu lassen. Ali Smith ist vielleicht nicht die Nacherzählung des Ipis Mythos gelungen; aber dieser hat sie zu einer Erzählung inspiriert, die wichtiger kaum sein könnte.