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Dem eigenen auf den Grund, die Gründe


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Wenn du dem Kern der Geschichte nicht nahekommen kannst, dann stimmt etwas mit der Erzählweise nicht.

Vermutlich gibt es kein Buch, dass angehenden Schriftsteller*innen beibringen kann, gute Bücher zu schreiben (es mag allerdings manche geben, die sie vor den ersten Fehlern bewahren und ihnen eine Menge Zeit sparen). Manche Autor*innen aber vermögen einen guten Einblick in ihr Handwerk zu geben und daraus lassen sich dann durchaus einige Rückschlüsse ziehen, was das Schreiben generell angeht; diese Einblicke taugen nicht als Richtlinien, aber vielleicht doch als Wegweiser.

Neben Mario Vargas Llosas Briefe an einen jungen Schriftsteller und Geheime Geschichte eines Romans ist Terézia Moras Nicht sterben bisher eines der besten Bücher, dass ich über das Handwerk des Schreibens gelesen habe. Natürlich gibt es zahllose Ratgeber auf diesem Gebiet (zu den besseren gehört hier noch Schreiben für ewige Anfänger von Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger), aber dergleichen erscheint mir oft zu anorganisch, statisch, beflissen.

Da sind mir Berichte aus der Werkstatt wie bei Llosa oder hier bei Mora lieber. Allein schon deshalb, weil sie neben den Einblicken in die Entstehung von Texten auch die Hintergründe und Verbindungen zum Leben des*der Schreibenden offenlegen. So kann man als Leser*in direkt eine der wichtigsten Grundlagen des Schreibens begreifen: dass dieser Tätigkeit keine Alternative zum Leben ist, keine andere Welt, sondern sehr eng mit dieser verbunden ist, nur aus einem Zwischenspiel heraus entsteht.

Manche meiner Recherchegänge bestehen ausschließlich aus Verirren. Ich tröste mich damit, dass ich auf diese Weise eben nicht das finde, was ich mir zu finden vorgenommen habe, sondern das, was wirklich da ist.

In fünf Kapiteln breitet Mora ihre literarische Biografie aus. Sie beginnt beim ersten Buch, dem Erzählband “Seltsame Materie” und schildert, warum die Erzählungen so und nicht anders entstehen konnten, wie die zentralen Erfahrungen ihrer Kindheits- und Jugendjahre die Texte inhaltlich aber auch formal prägten.

Schon dieses erste Kapitel bringt den Leser*innen die Essenz von guter Literatur nah: Notwendigkeit. Es mag hübsche Geschichten geben, unterhaltsame Bücher, die nicht aus Notwendigkeit, einem inneren Bedürfnis, einem Verlangen nach Bericht, nach Niederschrift, entstanden sind. Aber Kunst entsteht, so würde ich behaupten (und Mora würde da glaube ich zustimmen) aus Notwendigkeit (wobei nicht automatisch Notwendigkeit gute Kunst hervorbringt).

Auch die weiteren vier Kapitel halten zahllose anschauliche Details über das Schreiben, über Konzeption und Figurenaufbau bereit. Mora zeigt, wie bestimmte Entscheidungsprozesse vonstattengehen, warum sie an manchen Aspekten zunächst scheiterte und wie sie dieses Scheitern durch neue Ansätze überwand.

Wer sich dafür interessiert, wie Leben und Werk zusammenhängen und was es bedeutet, schriftstellerisch tätig zu sein, dem kann ich Nicht sterben nur ans Herz legen. Und wer Passagen wie die folgende gern liest, ist auch herzlich eingeladen, den neben allem anderen ist das Buch natürlich auch ein stilistischer Genuss, voller Erkenntnisse und Ideen, die wie nebenbei auftauchen und dennoch Eindruck hinterlassen.

Zusammengefasst kannst du dein Eigenes gefunden haben, aber das bedeutet noch lange nicht, das bedeutet keineswegs, nicht im Geringsten, dass deswegen etwa Extraraum und Extrazeit im Universum dafür entstanden wäre. Nix. Stattdessen: Tage, an denen sich alles und jeder dagegen verschworen zu haben scheint, dass du dein Eigenes tust. Von früh um 5, wenn du denkst, ihnen zuvorkommen zu können, bis um Mitternacht, wenn du schließlich aufgibst: Gezerr und Geschrei, wohin du dich auch wendest. [] Es ist weder mehr Raum noch mehr Zeit dafür, es ist nur da, was immer da war: das ununterbrochene Strömen der Welt, und das Wenigste davon ist so, dass es die Klarheit der Gedanken und Empfindungen fördert. Zwischen dir und der Welt besteht die ungleiche Situation, dass sie: ist, während du: versuchst, etwas zu tun.

Zu “Erinnerungen an Leningrad” von Joseph Brodsky


Erinnerungen an Leningrad In “Erinnerungen an Leningrad” sind zwei autobiographische Essays von Joseph Brodsky zusammengefasst, die er beide im amerikanischen Exil und auf Englisch verfasste. Im ersten Text von 1976 (also vier Jahre nach seiner Ausweisung aus Sowjet-Russland) setzt er sich mit seiner Jugend, dem Aufwachsen und Leben in seiner alten Heimat auseinander. Im zweiten Text, geschrieben 1984, stehen der Tod und die Beziehung zu seinen Eltern im Mittelpunkt; zwölf Jahre hatten diese vergeblich gehofft, ihn in den USA besuchen zu dürfen, ihn noch einmal zu sehen.

Es ist zugleich berührend und profan, wie Brodsky seine Erfahrungen in Russland und mit der sowjetischen Realität schildert, wie er seine Einschätzungen in poetische, manchmal auch kuriose Bilder kleidet und wie liebevoll und doch auch ein bisschen sardonisch er die Beziehung zu seinen Erinnerungen inszeniert. Der erste Text bietet auch heute und in seiner Kürze ein beeindruckendes Bild von den Verhältnissen in Sowjetrussland (der zweite ebenso, aber eher nebenbei); es ist keine vollendete Analyse, aber sie trifft, so hatte ich das Gefühl, ein paar wesentliche Punkte.

Der zweite Text, halb Elegie, halb Meditation, fließt dahin, in kurze Kapitel unterteilt, die sich immer wieder den Eltern auf verschiedene Weise annähern, sprüht aber auch vor kleinen Ideen, Zuspitzungen, rührenden bis komischen Details. Langsam kristallisiert sich durch die vielen Annäherungen ein Bild des Zusammenlebens heraus. Es ist ein Text, der die universelle und doch ganz persönliche Beziehung zu den Eltern darstellt, die Hoffnungen, die Glücksfälle, die Schwierigkeiten, die Klüfte, und die Sprünge über die Klüfte, die Atempausen und den Trab.

Ich kann nur dazu raten, Brodsky zu lesen – er war wirklich das, was man einen Meister des Essays nennen darf, selbst wenn man sparsam mit solch heiklen Bezeichungen umgehen will. Ohne gelehrig oder verkopft zu wirken, vermitteln diese Texte viel Besonderes und auch viel Allgemeines, stellen es nah zueinander, führen vom einen zum anderen, geschickt und anschaulich. Angenehm und faszinierend, so könnte man diesen Stil, diese Dynamik, auf der Gefühlsebene beschreiben. Ganz viel Ruhe liegt in diesen Texten, aber auch ganz viel wohlformulierte Unruhe.

 

Zu “Schreiben für ewige Anfänger” von Andreas Thalmayr


Schreiben für Anfänger Nach „Das Wasserzeichen der Poesie“ (darf in keinem Lyrik-Bücherschrank fehlen) und „Lyrik nervt!“ hat Andreas Thalmayr (alias HME) wieder zugeschlagen, diesmal mit einem handlichen Büchlein, das schon im Titel den gewohnten Schalk des Verfassers anklingen lässt und ansonsten etwas Ähnliches wie Mario Vargas Llosas „Briefe an einen jungen Schriftsteller“ erwarten lässt, nur pointierter.

In der Tat ist dieses Buch vor allem mit dem Amüsement liiert und wer einen Schreibratgeber oder ein Rekapitulieren des Schriftsteller*innenalltags erhofft, der sollte lieber zur Llosas Buch oder Sol Steins „Über das Schreiben“ greifen oder nach einem anderen Werk dieses Kalibers schauen.

In „Schreiben für ewige Anfänger“ wird nämlich vor allem – in 27 fiktiven Briefen von Thalmayr an einen zunächst ganz am Anfang stehenden und dann im Verlauf mit einem Debüt aufwartenden Autor – anekdotisch parliert; die Leser*innen kennen nur Thalmayrs-Briefe, die des Autors sind nicht enthalten, es wird nur auf sie angespielt, Bezug genommen.

Bonmots und Randbemerkungen, sowie literarische Anspielungen, sind die Hauptzutaten. Darüber hinaus wird hauptsächlich auf hohem Niveau (und hintersinnig) gejammert und ausschweifend gewarnt: Der fiktive Autor soll sich ja nicht vereinnahmen lassen, man wird einiges von ihm erwarten, was er nie wollte, es eröffnen sich viele Abgründe im Betrieb und in der Medienlandschaft, die Thalmayr leichtfüßig und streifend durchexerziert.

Thalmayrs Hinweise lesen sich wie ein Abschreckungskatalog, wobei der beschriebene Umfang der Belastung und all die Fragen nach Do’s und Dont’s eher nur Schriftsteller*innen höheren Kalibers betreffen werden, die aber durch all das (und das leere weiße Blatt) wohl tatsächlich ewige Anfänger*innen sind.

Fazit: ein amüsantes Büchlein, das zwar hier und dort zu denken gibt, aber von Anfang wenig Ernsthaftigkeit verströmt, sodass es eher eine kurzweilige Lektüre bleibt, ein kleines Insight mit viel Vergnügen und wenig Lehrreichem.

Im Anhang befinden sich noch drei Supplements: Christoph Martin Wielands „Über das Urheberrecht“, ein Auszug aus dem genannten Buch von Llosa und „Ratschläge für einen jungen Schriftsteller“ von Danilo Kiš.

Zu Reiner Kunze neuem Gedichtband “die stunde mit dir selbst”



die stunde mit dir selbst besprochen beim Signaturen-Magazin

Alben, die ich sehr schätze – Erster Eintrag: “Blood on the tracks”


Bob Dylan - Blood on the tracks

Ich habe in meiner Schulzeit zu den Leuten gehört, die viele CDs hatten (und LPs, allerdings nur ein paar wenige) und in dieser Zeit habe ich sie rauf und runter gehört. Es gibt nicht viele Alben, die man mehr als einmal vom Anfang bis zum Ende hören kann. Alben, die (für das eigene Ohr) fast ohne Schwächen sind, die genügend Abwechslung haben oder eine gelungene Sturktur.1 Alben, bei denen es reizvoll ist, sie immer wieder anzuhören; sie sind wie ein Gedicht oder ein Buch, das man immer wieder liest. Eine Galerie von Klängen, die man immer wieder betreten mag.

Beim letzten Durchsehen meiner Sammlung wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass ich viele CDs eigentlich weggeben könnte, weil die entscheidenden Lieder längst digital gesichert sind und ich die CDs – sei es zum Hören oder einfach als eine Art Schatz, als Münze oder Juwel in meinem Drachenhort – nicht wirklich haben will; dafür sagen sie zu weniger über das aus, was ich bin(/sein will) und mag(/mögen will?).

Also sortierte ich aus, schmiss weg, verschenkte. Einige Alben überlebten diesen Prozess natürlich und irgendwie habe ich das Bedürfnis, diese Alben zu teilen. Wie meine Lieblingsbücher haben sie mich schon eine Weile begleitet und werden mich weiterbegleiten.

Den Anfang macht direkt ein Album, das ich tatsächlich für perfekt halte. Ich habe irgendwo mal gelesen, dass es unter Bob Dylan-Fans einen Streit gibt, welches Album das beste sei und sich ungefähr gleichviele Fürsprecher*innen für „Blonde on Blonde“, „Highway 61 revisited“ und „Blood on the tracks“ finden lassen (während andere sich noch darüber streiten, ob er singen kann). Trotz großer Sympathie für „Blonde on Blonde“ – „Blood on the tracks“ hätte immer meine Stimme.

Bob Dylan hat in Interviews oft gesagt, dass dieses Album ihm aus einer Schaffenskrise geholfen habe – oder besser gesagt: das Resultat einer beendeten Schaffenskrise ist. Ich muss zugeben, dass mich herzlich wenig interessiert, welche Bedeutung dieses Album in seinem Schaffen einnimmt – die besten Kunstwerke überwinden ihre Kontexte vollends oder gehen ganz und gar in ihnen auf und bei „Blood on the tracks“ trifft ersteres zu. Reporter*innen haben sich den Mund fusselig gefragt, ob er in diesem Album die Trennung von seiner Frau verarbeitet habe und noch jede Menge anderes Zeug.

Aber kein Label – egal ob „Trennungsalbum“ oder „Symbol neuer Schaffenskraft“ – vermögen in meinen Augen dieses Album zu definieren, zu vereinnahmen. Es ist unbeugsam, wüst, es ist fabulierend, es ist zärtlich, rotzig, euphorisch, bitter, aberwitzig, blitzgescheit und noch einiges mehr; vor allem aber kann es für sich selbst stehen.

And everyone of them words rang true
And glowed like burnin’ coal
Pourin’ off of every page
Like it was written in my soul
From me to you
Tangled up in blue

Schon beim ersten Lied „Tangled up in blue“, diesem Gedicht auf das Leben – das Abenteuer, in dem jeder von uns ein/e Protagonist*innen ist – ist alles da: die Heftigkeit und Zartheit, die in Begegnungen liegen. Die herantretende Unvermeidlichkeit und wie es nach ihr doch weiter geht, mit einer neuen Kerbe am Bootsrumpf, die sich wie ein Leck anfühlt.

„Tangled up in blue“ ist ein wunderbarer Startschuss. Der Song fächert auf, worum es in dem Album noch gehen wird, nimmt aber nicht zu viel vorweg; springt von einer Strophe in die nächste, während einem beim Zuhören das Gefühl beschleicht, es gehe Großes, Wichtigeres vor sich, das einem das Lied gleichsam offeriert und entzieht.

Am Ende steht man bei diesem Auftakt wieder vor dem nichts, obwohl so viel aufgefächert wurde. Wie ein Teaser, der die besten Momente des Films einfängt, ist „Tangled up in blue“ ein Portrait des ganzen Albums – und sein Spiegel.

People tell me it’s a sin
To know and feel too much within
I still believe she was my twin
But I lost the ring
She was born in spring
But I was born too late
Blame it on a simple twist of fate

Musik kann auf viele Arten mitreißend sein: Weil sie einen zum Tanzen animiert. Zum Mitsingen. Weil sie eine Lebensweise ausdrückt, eine Haltung, eine Meinung. Weil sie ausgeklügelt ist, ein Ohrenschmaus für Kenner. Oder weil die Melodien mit den Worten zusammen ein Netz weben, in dem, gezogen durch einen riesigen Ozean, sich plötzlich dein Herz befindet, schlagend, zappelnd.

Der zweite Track „Simple twist of fate“ ist so ein Netz für mich. Eine Art Soft-Blues, nicht zu eingängig, nicht zu beschwingt, mit viel Lakonie gewürzt – wenn er ein Gericht wäre, wäre er angenehm scharf. Keine Bitterkeit weit und breit und diese Abwesenheit von Bitterkeit ist beeindruckend, weil doch in diesem Lied alles nur auseinanderbricht. Doch kein Widerstand, nur Abfinden.

Dabei spricht so viel Kleines darin für sich, der Song liest es auf, wie von den Bäumen gefallene Blätter, die sagen: es war Zeit. Das muss akzeptiert werden, dass es Zeit war (oder nicht die Zeit war). Aber über Jahre hinweg bleibt dieser Stich: war es ein simple twist of fate, war es NUR ein simple twist of fate? Solche Gedanken fängt das Lied ein, webt sie in das dünne Leinen, unter dem es sich hin- und herzwälzt. Sanft, bedächtig, geradezu beschaulich, erzählt Dylan die allertraurigste Geschichte: Über das „es hat nicht sollen sein“, in dem sich spiegelt „ich wüsste zu gern, ich hätte gern, ich hab dich gern.“

Time is a jet plane, it moves too fast
Oh, but what a shame if all we’ve shared can’t last
I can change, I swear, oh
See what you can do
I can make it through
You can make it too

“You’re a big girl know” ist eine Zwischenstufe, bedächtig auch, noch nicht wirklich bitter, aber zuckend hier und da, sich zusammenreißend, ins Langen und ins Appellieren driftend, gefangen zwischen Klimpern und vielem, das in der Stimme anschwillt, aus den Worten tropft. Ein Lied, das nicht loslassen will (und für einen Dylan-Song auch ungewöhnlich lange nach dem Ende des Textes noch weiterläuft.)

Gäbe es ein Lied, das man einer Person, mit der man Ähnliches wie in „Simple twist of fate“ erlebt hat, hinterher- oder zuschicken würde, so wäre es wohl dieses. Es ist ein Epilog zum vorangegangenen Track und im Prinzip ein Prolog zu „Idiot wind“. Die Reihenfolge folgt dem Muster jeder unerwünschten Trennung: Zuerst will man nicht weg, dann will man zurück, und wenn man merkt, dass man nicht zurück kann, will man nur noch weiter, will der Vergangenheit, die einen nicht mehr aufnimmt, möglichst demonstrativ den Rücken kehren.

„You’re a big girl now“ ist das Mauerblümchen des Albums und trotzdem ein großartiges Lied, in all seiner Schlichtheit. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie es Dylan in diesem Album gelingt, für jeden seiner Songs den richtigen Umfang, die richtige Art des Kreisens um ein Thema zu finden. Fast scheint es, als würde dieser Song, der weniger ambitioniert und konzipiert daherkommt als „Simple twist of fate“ und „Idiot wind“, weniger geschlossen, ins Banale ragen, zu sehr verankert sein in einer bestimmten Emotion. Aber gerade diese verwaschene Schmalheit macht dieses Lied schön. Es nimmt sich die Freiheit, zwischen den Stühlen zu singen.

I ran into the fortune-teller
Who said beware of lightning that might strike
I haven’t known peace and quiet
For so long I can’t remember what it’s like
There’s a lone soldier on the cross
Smoke pourin’ out of a boxcar door
You didn’t know it, you didn’t think it could be done
In the final end he won the wars
After losin’ every battle

I woke up on the roadside
Daydreamin’ ’bout the way things sometimes are
Visions of your chestnut mare
Shoot through my head and are makin’ me see stars
You hurt the ones that I love best
And cover up the truth with lies
One day you’ll be in the ditch
Flies buzzin’ around your eyes
Blood on your saddle

Es gibt viele bittere Lieder, viele von ihnen sind gleichzeitig auch melancholisch, andere schrill. „Idiot Wind“ ist nicht melancholisch und nicht wirklich schrill. Es ist eine Ballade reiner Bitterkeit, musikalisch großartig arrangiert und von einer Stimme getragen, die sich die Seele aus dem Leib zu singen scheint, weil sie sonst anfangen müsste zu brüllen. Das Lied lädt seine Bitterkeit aber nicht einfach ab, sondern schneidet mit ihr, zerreißt, schmeißt sie. Es ist Befreiung und Verurteilung, torture und cure in einem.

Schlicht eine Wucht. Ein Song, bei dem das Wort „großartig“ auf jeder Ebene zutrifft. Mitreißend. Und am Ende, in genau dem richtigen Moment, einsichtig, wenn man es gar nicht mehr erwartet.

Was kann auf so eine bittere, tosende Stafette folgen?

I’ve seen love go by my door
It’s never been this close before
Never been so easy or so slow.
Been shooting in the dark too long
When somethin’s not right it’s wrong
Yer gonna make me lonesome when you go.
[…]
Situations have ended sad,
Relationships have all been bad.
Mine’ve been like Verlaine’s and Rimbaud.
But there’s no way I can compare
All those scenes to this affair,
Yer gonna make me lonesome when you go.

Mundharmonika und sanfte Fröhlichkeit. Der Wind hat sich gedreht, Ring frei für eines der schönsten Liebeslieder überhaupt. Ein Text voller einfachster, funkelnder Sätze und ein Refrain, der ein schlichtes Bekenntnis ist, leichter als Luft, und doch so schwer, wie einem das Herz werden kann: „You’re gonna make me lonesome when you go“.

Ein Satz, der ein Ruf ist, eine Narbe, ein Nagel, ein Winken, eine Inschrift, ein Fluch. Was da alles drinsteckt, wie viele Emotionen dieser einzelne Satz (und erst das ganze Lied) transportiert: Einsamkeit, Zuneigung, Angst, Hoffnung, Melancholie, Dankbarkeit, etc.

Und das alles haut uns Dylan mit einem beschwingten Lied von unter drei Minuten um die Ohren, tänzelnd auf einem dünnen Seil, auf sechs dünnen Saiten, süßlich, ohne ein Spur von Klebrigkeit. Kurzweilig, wie etwas Unverhofftes, begegnet uns dieses Lied. Auf gewisse Weise ist es das Schönste des ganzen Albums.

Look at the sun
Sinkin’ like a ship
Look at the sun
Sinkin’ like a ship
Ain’t that just like my heart, babe
When you kissed my lips?

Wenn das Album ein Schulhof wäre, dann wäre “Meet me in the morning” der Typ, der auf cool macht, cool rüberkommt, aber eigentlich gar nicht so cool ist. Ich mag die Lässigkeit dieses Stücks und auch die Seltsamkeit des Textes, den leichten Aberwitz. Trotzdem ist diese dubiose Hymne sicher der schwächste Song. Er zwinkert einem zu, sieht gut aus, aber man hat nicht das Gefühl, dass da wirklich „blood on the track“ ist.

Trotzdem – wenn „Meet me in the morning“ nicht da wäre, würde es fehlen. Es ist die staubige Straßenkreuzung, der Moment im Nirgendwo, den das Album braucht. Etwas Übliches, unverfängliches. „Meet me in the morning“ verschafft den Zuhörer*innen eine kurze Pause und liefert außerdem ein ordentliches Pausenprogramm. Man kann sich anschauen, was war und sich auf das freuen, was noch kommt, während man nebenbei der Lässigkeit des Stückes lauscht.

Backstage the girls were playin’ five-card stud by the stairs
Lily had two queens, she was hopin’ for a third to match her pair
Outside the streets were fillin’ up, the window was open wide
A gentle breeze was blowin’, you could feel it from inside
Lily called another bet and drew up the Jack of Hearts

Das längste Stück, platziert an siebter Stelle: “Lily, Rosemary and the jack of hearts”. Eine rasante Ballade, ein Narren- und Schurkenstück, eine Wild-West-Erzählung mit viel Couleur. Fast beiläufig beginnt es, steigert sich mit jeder Strophe, unbarmherzig und fabulierend, in der Intensität, in welcher viele kleine Pointen und Wendungen funkeln.

Der „jack of hearts“ ist einerseits der Herzbube im herkömmlichen Kartenspiel, andererseits auch der gutaussehende Verführer, der gerissene, sympathische, aber skrupellose Jüngling (und, btw: eine Marvelfigur).

Obwohl es nicht mein liebstes Stück ist, habe ich es öfter gehört als alle anderen (außer vielleicht „Tangled up in blue“). Es lässt einem kaum Zeit zum Luftholen und am Anfang hörte ich es vor allem deshalb mal um mal, um den Text Stück für Stück nachzuvollziehen, herauszuhören. Auch heute entdecke ich noch neue Kleinigkeiten oder erfreue mich an alten Lieblingsstellen.

We had a falling-out
Like lovers often will
And to think of how she left that night
It still brings me a chill
And though our separation
It pierced me to the heart
She still lives inside of me
We’ve never been apart
[…]
If she’s passin’ back this way
I’m not that hard to find
Tell her she can look me up
If she’s got the time

Manchmal werden Menschen unerreichbar für uns. Gäbe es nur jemanden, der ihnen Hallo von uns sagen könnte oder: Wie geht es dir? fragen könnte. Vielleicht sogar ein „Vermisst du mich?“ überbringen könnte, ganz unproblematisch. „If you see her, say hello“ ist ein Lied des Haderns, schafft es aber, dieses Hadern von seiner liebevollsten Seite zu präsentieren, auch wenn der ganze Umfang seiner Problematik durchscheint. Es steht an der Schwelle zum Verzagen, blickt aber fast die ganze Zeit über die Schulter.

Die Stimme versucht stark zu sein, fliegt sich aber selbst davon. Es ist das haltloseste Stück des Albums. Mit Gitarrenklängen, die klingen, als würde jemand mit baren Händen etwas ausgraben, während die Stimme versucht ruhig zu bleiben, unverfänglich, sich nicht zu verhaken in den Nachfragen, der verlassenen Hoffnung, in der sie immer noch steht, ohne zu warten, ohne zu wissen warum, aber noch nicht bereit, wegzugehen.

I’ve heard newborn babies wailin’ like a mournin’ dove
And old men with broken teeth stranded without love
Do I understand your question, man, is it hopeless and forlorn
Come in, she said
I’ll give ya shelter from the storm

Popsongs are cheesy or corny. Eine solche Bemerkung fegt “Shelter from the storm” einfach vom Tisch. Ich bin verliebt in dieses Lied (in die Studio-Version und die Live-Version vom Album „Hard Rain“ gleichermaßen), seinen zärtlich-lapidaren Stil, seine Fülle, seine Offenheit. Wäre der Song eine Person, ich würde sie wunderschön finden – nicht im begehrlichen Sinne, sondern unverfänglich – ihre Art, ihre Ausstrahlung. Gut, diese Liebeserklärung ist jetzt schon etwas corny.

Um es noch schlimmer, aber auch eindeutiger zu machen: In einem Gedicht von W. H. Auden heißt es: „life remains a blessing/although you cannot bless“. Ich kann und will sagen: This song blessed me and blesses me.

Mehr kann ich auch gar nicht sagen. Hört ihn euch an. Lasst euch einspinnen. Lasst euch wiegen von diesem Lied, in dem Grausamkeit und Seligkeit, Heimatlosigkeit und tiefe Zuneigung vorbeiziehen wie Autos auf einer Straße vor der Tür, unterlegt vom Klang einer Gitarre, die sagt: „Es wird nicht alles gut, aber es wird alles und geht wieder vorbei.“ Und: “Lass zu, was dich liebt.”

Buckets of rain
Buckets of tears
Got all them buckets comin’ out of my ears
Buckets of moonbeams in my hand
You got all the love
Honey baby, I can stand

I’ve been meek
And hard like an oak
I’ve seen pretty people disappear like smoke
Friends will arrive, friends will disappear
If you want me
Honey baby, I’ll be here

Nachdem am Ende von “Shelter from the storm”, in den letzten Tönen, die Hand von der Gitarre abzurutschen scheint, könnte das Album eigentlich zu Ende sein. Es ist doch alles gesagt, geschrien, geflüstert, gebeichtet. Aber nein.

Die Gitarre setzt noch mal ein. Sehr bestimmt, mit einem Hauch Verspieltem. Und direkt das erste Bild wirft seinen Schatten über das ganze Lied: Eimer voller Regen, die eigentlich Eimer voller Tränen sind. Tränen, die einem „zu den Ohren wieder rauskommen“.

„Buckets of rain“ summiert noch einmal die vielen Emotionen des Albums in wenigen, fastschon kargen Strophen. Bitterkeit, Verlassenheit, Zuneigung und Hoffnung dämmern in den Versen, die wie Wassertropfen von den Saiten der Gitarre perlen. Unfertig wirkt der Song, verstreut alle Erkenntnisse des Albums, anstatt sie zu bündeln.

Ich denke, dass das meine ganz persönliche, nicht im Text oder in der Musik zu verortende Phantasie ist – aber sobald das Lied beginnt, sehe ich eine Person, die Eimer eine Treppe hinauf oder eine Straße entlang trägt. Über den Rand schwappen die Tränen, laufen herunter. Er trägt diese Eimer überall mit sich herum, alle anderen tragen auch welche mit sich herum, aber niemand kann die Eimer der anderen sehen. Nur wenn sie übervoll sind oder etwas über den Rand schwappt, sieht man die Tropfen, die über die Wangen gleiten.

Schön, traurig, meditativ. Der letzte Track bleibt hinter den meisten anderen zurück, macht nicht viel her. Aber mit seiner rustikalen Art bleibt er einem fast am längsten in Erinnerung. Sein Klang erstreckt sich auf die nächsten Stunden, wie ein Zauber. Eine Tür die ins Schloss fällt. Ein würdiger Schluss.

Zu den Essays von Fritz J. Raddatz in “Schreiben heißt, sein Herz waschen”


Schreiben heißt sein Herz waschen Er schied die Geister und an ihm schieden sie sich. Fritz J. Raddatz war einer der beharrlichsten Kritiker und Rezensenten, Feuilletonisten und Essayisten der Bundesrepublik, ein Lauttöner und Feinsinniger, ein Dauerläufer des Kulturellen & rasanter Stilist – und gleichsam einer, der ehrfürchtig vor den Werken verharrt, in denen eine Authentizität und Wahrhaftigkeit aufleuchtet, die (nach seiner Ansicht) gerade aus dem Grundzwist des künstlerischen Arbeitens – der Differenz zwischen Werk und Leben, Meinung und Ästhetik, Handlung und Darstellung – entsteht und nicht aus irgendeiner Auflösung dieses Zwistes, einem Ausweichen oder Verhüllen des Dilemmas.

In diesem Band wurden (anlässlich von Raddatz 75. Geburtstag) einige seiner besten essayistischen Texte gesammelt. Am Anfang stehen zwei große Panoramen, von denen das erste sich mit der Frage nach der Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Ideologien des 20. Jahrhunderts und den Akteur*innen der Literatur dieser Zeiten auseinandersetzt. Es ist keine große Abrechnung, sondern wirklich eine „Schau“, in die zahllose Klarstellungen und Einsprüche, Bloßstellungen und Zweifel eingeflochten sind und die wie eine Havarie von einem Schauplatz zum nächsten rollt, entziffernd, anklagend, aufdröselnd, unterscheidend.

Der zweite Text (der Band erschien 2006) setzt sich mit der Frage auseinander, warum es noch immer die Literat*innen älteren Kalibers sind, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben und deren Bücher als stilprägend gelten. Raddatz führt aus (und sein Essay ist beides: eine Geschmacksdarlegung und dennoch in Teilen eine gute Analyse zeitgenössischer Literatur), dass dies mit dem existenziellen Gehalt der Bücher zu tun hat, der bei den älteren Schriftsteller*innen gegeben ist, bei der jüngeren Pop- und Verkaufsschlager- und Ich-Literatur nicht.
Eine steile These, die einige Werke jüngerer Autor*innen sofort widerlegen könnten, allerdings nur im Einzelnen – insgesamt verfehlt Raddatz Kritik die Gegenwart nicht so weit, wie es einem das Augenrollen und die desinteressierten, abschlägigen Handbewegungen vieler Leute glauben machen wollen. Es gibt eine Krise des Existenziellen in der Literatur, wie auch in der Gesellschaft, die sich auf ungute Weise zu entladen beginnt. Auch die Bücher mit den besten Stilen und den schönsten Geschichten sind aufgrund dieser Krise zur Bedeutungslosigkeit verdammt (selbst wenn sie massenhaft gelesen werden).

Dann folgen noch einige, teilweise grandiose, Porträts zu Literat*innen wie Thomas Mann, Christa Wolf, Robert Musil, Walter Kempowski, u.a.
Vor allem die Texte zu Musil und Mann (bei beiden geht es vorrangig um ihre Tagebücher und die daraus destillierte Selbstwahrnehmung und Positionierung gegenüber der Welt) sind sehr empfehlenswert. Der Christa Wolf-Text ist eine Lehrstunde in politsicher Dialektik und die Kempowski-Arbeit eine wunderbare Lobeshymne, die die ganze Kraft und das Darstellungsgenie von Kempowskis Echolot und seinen anderen Werken darlegt.

Die Texte haben schon einige Jahre auf dem Buckel; viele Ausschläge darin sind eher Anekdotenhappen und nicht unbedingt relevant für den literarischen Diskurs. Aber der Kern von Raddatz Kritik, Elan und Verve ist es umso mehr. Denn sein Beharren auf der existenziellen, differenziert zu betrachtenden Komponente der Kunst und ihrer Verschlingung mit dem Leben, der Politik, der Zeit, findet sich heute viel zu selten. In dem Maß, in dem sich die Politik gleichsam radikalisiert und banalisiert, beginnt auch die Kunst sich zu radikalisieren und gleichsam zu banalisieren. Nicht als Ganzes, nicht in jedem einzelnen Werk, das widerständig sein mag – aber doch stetig, fast scheint es: unaufhaltsam.

Raddatz ist nicht das Gegengift zu dieser Entwicklung – die vielleicht produktiver und wichtiger ist oder ausgehen wird, als ich befürchte. Aber seine Ideen und Hinweise reißen klare Wunden dort, wo sonst klammheimlich Entzündungen schwelen oder die Zellen schweigend verfallen würden. Er prescht in manches Thema zu ungestüm hinein, aber er hat immer wieder einen feinen Blick für das Wesentliche – und der ist niemals verkehrt!

Zu “Die verborgene Bibliothek” von Alberto Manguel


Die verborgene Bibliothek

Als Diodorus Siculus im 1. Jahrhundert Ägypten besuchte, las er über dem in Ruinen liegenden Eingang der alten Bibliothek den eingravierten Schriftzug »Klinik der Seele.« Vielleicht ist das das höchste Ziel einer jeden Bibliothek.

Nicht viele Lektüren gibt es, die Geborgenheit verheißen. Jede begeisterte Leserin/jeder begeisterte Leser kennt und besitzt wohl solche Bücher, die ihn nicht nur unterhalten oder inspirieren, sondern ihr oder ihm das Gefühl geben, gut aufgehoben zu sein in der Welt, nicht allein zu sein mit seinen Gefühlen, Vorlieben, Hoffnungen und Wünschen.

Alberto Manguel – ein Autor, dessen ganzes essayistisches Werk ums Lesen, um die Bandbreite der Erkenntnisse und Freuden die in Begegnungen mit Büchern liegen, kreist – hat einige Bücher geschrieben, die mir ein Gefühl von Geborgenheit geben, die die Zuneigung, die ich Büchern entgegenbringe, beflügeln und meine Überzeugungen zu Themen wie Humanität und den Glauben an die wichtige Funktion, die das Geschichtenerzählen in unserer Kultur einnimmt, widerspiegeln. Manguel schreibt:

Schon immer haben Bücher für mich gesprochen.

und das ist eine Erfahrung, die ich nur allzu gut kenne. Und die er meisterhaft heraufbeschwören kann.

Sein neustes Buch ist im Prinzip ein Mix aus den Motiven seiner früheren Bücher (gruppiert um einen biographischen roten Faden). Ausgangspunkt ist das Verpacken seiner Bibliothek, die über Jahre, wie er selbst, in Frankreich zu Hause war und jetzt in dutzenden Kartons zwischengelagert wird. Wie es dazu kam und wie dieser scheinbare Abschied dann doch einen neuen Anfang markierte, schildert er in dem Hauptstrang des Textes; der ist sowohl Lebensbilanz als auch, wie immer, ein Bekenntnis zur Schönheit und Kraft der Literatur.

In zehn Abschweifungen greift er außerdem verschiedene Themenkomplexe auf, die immer wieder die Idee der Bibliothek streifen, aber auch andere kulturelle, ethische oder historische Abzweigungen nehmen. Manguel besitzt die erstaunliche Fähigkeit, in derselben Passage ein Thema zu erörtern und eine Geschichte zu erzählen, eine Eigenschaft, die seinen Texten eine ganz bestimmte Art von Faszination verleiht, wie ich sie sonst nur aus den Texten von Jorge Luis Borges oder Joseph Brodsky kenne.

Literatur, Lesen und Schreiben, sind eine einsame und zugleich universelle Angelegenheit. Literatur ist etwas, dass sehr viel mit uns als Individuum zu tun hat und uns doch die Möglichkeit gibt, mit anderen Menschen viel zu teilen. Auch dieser Widerspruch, der die tiefsten Gründe unserer Existenz mitbedingt, ist immer wieder Thema in Manguels Erörterungen.

Wir suchen zeitlebens voller Sehnsucht nach unserer anderen Hälfte. Und doch sind all das Händeschütteln und Umarmen, alle akademischen Debatten und Kontaktsportarten nicht genug, um die Individualität, zu der wir verurteilt worden sind, aufzubrechen. […] Wir sind verdammt zur Singularität.
Jede neue Technologie birgt in sich auch die Hoffnung auf Wiedervereinigung.

Auch unsere neuen digitalen Technologien konnten dieses Versprechen (das sie noch deutlicher als alle Technologien vor ihnen zu proklamieren schienen) nicht halten. Auch die Literatur kann nicht für immer die Grenzen zwischen uns und anderen einreißen. Aber sie kann kurze Übergänge, störungsfreie Übertragungen, Austausch und Einbezug ermöglichen, anregen.

„Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt“ schrieb Ilse Aichinger und die Literatur, die Kunst, hat sich dieser Aufgabe von jeher angenommen.

Und die Kunst, speziell die Literatur, hat in Manguel längst einen ihrer wundervollsten Fürsprecher, Verteidiger und Idealisten gefunden. Das neue Werk ist wieder voller wunderbarer Zitate, Anekdoten, Erläuterungen und Anregungen; es erschafft und öffnet wieder Türen und Fenster.

Ich bekenne ganz ohne Scheu: ich habe mich auch in dieses neuste Buch wieder vernarrt, in seine Verbindung aus Menschlichkeit und Gelehrtheit, aus Melancholie und Begeisterung. Lesen Sie Manguel! Es gibt nur wenige Schriftsteller*innen, die einen so gastfreundlich aufnehmen und kaum welche, die man mit so viel Hoffnung und neuen Ideen wieder verlässt.

Ein Jahr vor seinem Tod traf Kafka während einer Kur in Müritz seine Schwester Elli und ihre drei kleinen Kinder. Eines der Kinder stolperte und fiel. Die anderen beiden wollten schon laut loslachen, doch um zu vermeiden, dass sich das Kind für seine Tollpatschigkeit schämte, rief Kafka ihm in bewunderndem Ton zu: »Wie toll du fallen kannst! Und wie gut du wieder aufgestanden bist!« Vielleicht können wir (wenn auch wohl vergeblich) darauf hoffen, dass eines Tages jemand kommen und auch diese erlösenden Worte sagen wird.

Zu Kazuo Ishiguros Nobelpreisrede


Mein 20. Jahrhundert Für mich besteht der Kern der Geschichte darin, dass sie Gefühle mitteilt. Dass sie anspricht, was uns Menschen, über alle Grenzen und Unterschiede hinweg, eint. Rund um das Erzählen sind riesige, glanzvolle Industrien entstanden, die Buchindustrie, die Filmindustrie, die Fernsehindustrie, die Theaterindustrie. Am Ende aber handeln Geschichten immer davon, dass ein Mensch zu einem anderen sagt: So empfinde ich das. Verstehst du, was ich sage? Empfindest du genauso?

In allem, was ich bisher von dem britischen Autor und letztjährigen Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro gelesen hatte, lag eine so ungekünstelte und authentische, souveräne Authentizität, dass ich die Lektüre dieser Rede ein klein wenig fürchtete; könnte doch ein persönliches Dokument das hehre Bild, welches ich von dem Menschen Ishiguro vor dem Hintergrund seiner Werke pflegte, untergraben.
Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Ich bin nach der Lektüre sogar noch mehr von der Sensibilität, die Ishiguros Narrative meiner Ansicht nach bedingt und ausmacht, überzeugt; vom Feinsinn, den ich in seiner Prosa immer gespürt zu haben glaubte.

Eigentlich schildert Ishiguro lediglich seinen schriftstellerischen Werdegang, allerdings mit dem Augenmerk auf die kleinen Erkenntnisse, die, in einem Moment an ihn herangetreten, die Konzeption und Ideen ganzer Romane zur Folge haben sollten und sich als Wendepunkte erwiesen, die seine Auffassung vom Schreiben und Erzählen grundlegend veränderten.

Schon sein erstes Buch hätte er nicht geschrieben, wenn er nicht 1979 an einem einjährigen Graduierungskurs für kreatives Schreiben teilgenommen hätte. In einer kleinen Stadt, in einer geräumigen Dachkammer hausend, mit wenigen Kursen an der Universität, war er zurückgeworfen auf seine bisherigen literarischen Versuche. Die Auseinandersetzung damit führte schließlich, wie bei einem Fluchtreflex, dazu, dass er zum ersten Mal über Japan schrieb, das Japan seiner Erinnerung, seiner Vorstellung. Es entstand „A pale view of hills“.

„Diese Monate waren insofern entscheidend für mich, als ich, hätte ich sie nicht erlebt, wahrscheinlich nie Schriftsteller geworden wäre. Seither habe ich oft zurückgeblickt und mich gefragt: Was ging damals in mir vor? Woher kam diese eigenartige Energie? Mein Fazit ist, dass es an diesem Punkt meines Lebens um einen notwendigen Akt des Bewahrens ging.“

Das Bewahren blieb ein wichtiges Element von Ishiguros Werk, aber andere Aspekte traten hinzu. Auch die weiteren Erkenntnisse und wie er zu finden ihnen fand, beschreibt Ishiguro eindrücklich und schlicht: Wie ihn ein gewöhnlicher Filmabend auf die Essenz jeder Geschichte brachte: wir wollen, dass es darin um Beziehungen (oder die Abwesenheit von Beziehungen) geht, die etwas bedeuten. Oder wie ein Besuch in Ausschwitz, wo die schrecklichen Todesbauten der Nazis allmählich verfallen, ihn mit der Frage konfrontierte, ob und wie Erinnern in Gesellschaften gepflegt werden sollte. Wie soll man mit solchen Erinnerungen umgehen?
Diese Überlegungen wirkten sich direkt auf die Romane „Never let go“ bzw. „The buried giant“ aus.

Ishiguros Nobelpreisrede ist keine große Poetikvorlesung. Sie ist etwas viel Schöneres, Menschlicheres: eine Erzählung von den Momenten, in denen Kunst ihren Anfang nimmt, in Regungen, die dem Bedürfnis nach Mitteilung, nach Bewahrung, nach Wahrheit und Verstehen entspringen. Ishiguro verleiht dem Akt des Schöpfens menschliche Züge, ohne ihn zu entzaubern.

Ich bin sehr dankbar für dieses kleine Dokument, diese einfache Schilderung eines Lebensweges und eines daraus erwachsenden Selbstverständnisses, in dem Ishiguro im letzten Abschnitt außerdem noch klar Position bezieht, was die neusten Umbrüche und zersetzenden Dynamiken in unserer Zeit angeht, über die er kurz und bündig schreibt:

Wenn wir heute auf die Zeit seit dem Fall der Berliner Mauer zurückblicken, erscheint sie uns als Epoche der Selbstgefälligkeit und der vertanen Gelegenheiten. Wir haben eine gigantische Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Chancen zugelassen, zwischen Nationen ebenso wie innerhalb von Nationen. […] Die langen Jahre der Austeritätspolitik, die nach der skandalösen Finanzkrise 2008 dem einfachen Volk aufgezwungen wurde, haben uns in eine Gegenwart geführt, in der sich rechtsextreme Ideologien und völkische Nationalismen rasant ausbreiten. Rassimus, ob traditioneller Prägung oder in seinen modernen, professioneller vermarkteten Erscheinungsformen, ist wieder im Kommen. Vorläufig scheint uns jede progressive, einigende Vision zu fehlen. Stattdessen zerfallen selbst die reichen Demokratien des Westens in rivalisierende Lager, die erbittert um Macht und Ressourcen streiten.

Also: Eine in jeder Hinsicht bereichernde Lektüre!

 

Hier auch noch der Link zu einem Essay, den ich zu Ishiguros Werk verfasst habe, publiziert beim Signaturen-Magazin