Tag Archives: Schriftsteller

Zu William Boyd “Eines Menschen Herz”


Eines Menschen Herz Man sollte vorsichtig sein mit Superlativen, aber “Eines Menschen Herz” ist eines der fesselndsten Bücher, die ich je gelesen habe. Dabei bin ich gar kein großer Freund von dicken Wälzern. Aber ähnlich wie in den besten Büchern von John Irving ergibt sich auch in diesem Buch aus dem Mix von Spannung und allmählicher Vertrautheit mit den Figuren ein Sog, ein epischer Bogen, der einen nach einer Weile nicht mehr loslässt und einen letztlich mit den simpelsten Wendungen und Szenen direkt ins Herz treffen kann, weil das Schicksal der Erzählung daran festgewachsen ist.

Auch ich habe mich, wie wohl manche/r, am Anfang mit der Form schwer getan – das fiktive Tagebuch eines Schriftstellers, das klingt schon ziemlich plakativ. Und in manchen Momenten, in denen Boyd seinen Protagonisten mit großen Namen zusammentreffen lässt (Hemingway, Picasso, Herzog von Windsor, Pollock, etc.) ist das Buch auch nah dran, plakativ zu sein.

Aber gerade in diesen Momenten zeigt sich auch Boyds Klasse, den meist wirken das Zusammentreffen und die Umstände ganz natürlich und klugerweise verlagert Boyd nie das Zentrum des Geschehens auf die populären Namen und Ereignisse, sie geben lediglich Gastspiele in dem Leben, das ansonsten hauptsächlich im Umfeld der Freund*innen & Beziehungen stattfindet. Es liegt ein Funken echter Eleganz in der Art, wie Boyd seine Erzählung immer wieder neu strukturiert, justiert und doch bei aller Weltgewandtheit, immer wieder auf das Wesentliche des einzelnen Lebens zurückkommt.

Es gibt ein paar schwächere Episoden in dem Buch, aber keine dauert sehr lange. Mit seinem langen Atem gelingt es Boyd, einem wirklich Tür und Tor zur Seele seines Protagonisten zu öffnen, ein paar geschickte Unterbrechungen und Zwischenspiele, Takt- und Ortswechsel sorgen für die nötige Authentizität und auch für die nötige Dynamik. Am Ende war ich atemlos, bewegt, erschüttert und zu gleichen Teilen entsetzt und beglückt davon, wie ein Leben im Zeitraffer vorbeiziehen kann, wie es sich füllt und doch immer kleiner wird. Für diese Erfahrung in Buchform bin ich William Boyd sehr dankbar.

 

Zu Friedrich Christian Delius neuem Buch “Die Zukunft der Schönheit”


Die Zukunft der Schönheit „Da wollte jemand gehört, verstanden, erlöst werden, da wollte jemand raus aus der Nummer und nicht rein in die Nummer, da stand jemand unter Beschuss des Schlagzeugs und schoss zurück, da steckte jemand wie von Geigensaiten eingeschnürt in der Falle und wehrte sich, da wollte jemand aus dem Feuer gerettet werden –“

Ich bin sehr froh, dass mir vor einigen Jahren das Buch „Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer“ in die Hände fiel, ein schmaler Sammelband mit Wortmeldungen, Vorwörtern, Kommentaren und anderen Kurztexten von Friedrich Christian Delius.

Nicht nur enthielt dieser Band einige sehr klare, auf den Punkt gebrachte gesellschaftspolitische Analysen, wie ich sie in dieser Schnörkellosigkeit eigentlich nur von George Orwell kannte, den Texten darin war allgemein eine Direktheit zu eigen, ein gleichsam kämpferischer, unbequemer, aber nicht versponnener oder zu weit gehender Ton, der mich richtiggehend begeisterte.

Mittlerweile habe ich viel von Delius gelesen, nicht alles mit derselben Begeisterung, aber immer wieder fasziniert von der Art, mit was für Themen er sich auseinandersetzt und wie er sie anpackt. Großartig sein sarkastischer, kirchenkritischer Monolog in „Die linke Hand des Papstes“, sehr aufschlussreich und spannend der biographische Band „Als die Bücher noch geholfen haben“, aber auch das frühe Buch über Siemens ist genial, etc. etc.

In „Warum ich schon immer Recht hatte“ findet sich auch ein kurzer, wunderbarer Nachruf auf den Schriftsteller Nicolas Born. Ich erwähne dies nicht nur, weil dieser knappe Text eine der schönsten literarischen Liebeserklärungen ist, die ich kenne, sondern auch weil darin eine Dimension von Delius Schreiben aufblitzt, die in seinem neuesten Buch „Die Zukunft der Schönheit“ eine wichtige Rolle spielt. Denn so kritisch, sarkastisch und unbequem Delius oft ist, in vielen seiner Texte zeigt er sich auch anders: als empfindsamer Beobachter, als feinsinniger Chronist.

Ausgehen tut das Buch von einem Erlebnis in New York, am 1. Mai 1966. Delius ist mit dabei, als die Gruppe 47 ihren legendären Amerikaaufenthalt zelebriert (diese Reise hat er sehr genau in „Als die Bücher noch geholfen haben“ geschrieben), in dessen Rahmen sich Handke zum neuen Kafka ausrufen lässt, politische Positionen ins literarische Geschäft Einzug halten und Delius Susan Sontag anhimmelt. Am 1. Mai nun, einem der letzten Tage in den USA, lässt Delius sich von zwei Jazzfans, Schriftstellerkollegen, in einen Jazzclub mitnehmen, um ein Konzert des Saxophon-Avantgardisten Albert Ayler und seiner Band anzuhören.

Das Konzert beginnt und Delius erscheint die Musik sofort fremd, schwer erträglich, mit ihrer Dissonanz, sehr verquer. Aber um nicht wie ein Snob oder undankbar zu wirken, versucht er sich darauf einzulassen. Schon bald regt ihn die Musik zu Überlegungen an – zunächst, weil er auf der Flucht vor ihr ist, dann aber, weil er in ihr die Fragen seiner Zeit, die Elemente seiner Sehnsucht, den Soundtrack zu seinem eigenen Lebensweg zu erahnen beginnt.

Formal ist das Buch ein gezähmter Stream of consciousness, in dem sich Text und Musik die Bühne teilen, ineinandergreifen, aber auch einander überfallen, herüberschwappen, sich durchdringen. Die Musik wird zur fortlaufenden Projektionsfläche für Delius Eindrücke und immer mehr zum Sound für alles, was gerade aktuell ist: Vietnam, sexuelle Befreiung, neue Musik, neue Welt, Atomkrieg, Aufbruch, Repression, Jugend, etc. Sie bringt Delius dazu, sich in Gedanken zu entblößen, seine eigenen Scheidewege zu sehen, seine eigene Entwicklung zu begreifen. In diesen Momenten, im Verlauf des Konzerts, entfaltet sich für ihn die Übersichtlichkeit der Gegenwart, des Lebens, durchzogenen von einigen eigenen Gewissheiten.

Was ist schon die Herkunft gegen die Zukunft? Wir können nicht ändern, woher wir kommen, aber wir können entscheiden, wohin wir gehen, oder? The soul is a streetcar named desire. Delius blickt in seine Vergangenheit und, darauf aufbauend, auf das, was noch kommt, hoffentlich noch kommt. Wir stehen alle täglich vor unserem Leben, einem fortlaufenden Spiel der Ereignisse, an dem wir nur in diesem Moment, der gerade ist, teilnehmen können. Delius fächert sein Leben auf, mit den Szenen, die einem im Gedächtnis bleiben, den prägenden Erlebnissen, die einen nicht loslassen. Da ist so viel, was klar ist und so viel, das unklar bleibt; weshalb geschrieben wird, gedacht, gemalt – und musiziert. Die Zukunft der Schönheit, man hat sie selbst in der Hand.
An der Musik schöpfen heißt oft in uns schöpfen, das dürfte jedem schon einmal aufgefallen sein. Delius zeichnet diese Erfahrung meisterhaft nach.

In Teilen hat mich „Die Zukunft der Schönheit“ an eine Erzählung von Julio Cortázar erinnert: „Der Verfolger“, ein Buch über des Saxophonisten Charlie Parker und die Unmöglichkeit der Perfektion, die Sehnsucht nach dem genau-getroffenen Ton und der Aufhebung der Zeit im Moment größter lautlicher Schönheit. In Delius neuem Buch wird die Zeit nicht durch den perfekten Ton, sondern durch das Gegenteil aufgehoben: eine Kakophonie, in der doch wieder der Wunsch nach Ausdruck mitschwingt, die Themen der Zeit sich artikulieren. Natürlich ist der Mensch unentwegt auf der Suche nach Perfektion – aber er selbst ist und bleibt ein Chaos. Ein Chaos, ohne das es wohl das Potenzial für Schönheit nicht gäbe; wobei genau dieses Chaos, das die Zukunft der Schönheit sichert, die Gegenwart der Schönheit schnell übersieht, sie verschleißt, verliert. Traurig, aber schön: gibt es eine bessere Definition für die Musik? Für unsere Existenz?

Delius ist ein eindringliches Portrait der seelischen Zusammensetzung eines Menschen gelungen. Mit seiner unruhigen Sprache, allgemein mit seiner Unruhe, ist es eine belebende Leseerfahrung. Eine Lektüre, die, neben allerlei Denkanstößen, kleine Rückstände von Ewigkeit im eigenen Empfinden zurücklässt.

Vladimir Nabokovs “Das wahre Leben des Sebastian Knight”


[…] und außerdem wusste er, dass im Grunde keine Idee wirklich existiert, wenn ihr nicht die Worte genau nach Maß angelegt werden.

Romane, die als Weltliteratur oder gehobene Literatur bezeichnet werden, haben nicht gerade den Ruf leicht lesbar zu sein. In kaum einem Genre herrscht aber auch eine so große Bandbreite an Formen und somit auch nahezu nirgends eine so große Bandbreite an Verständlichkeitsstufen: von Simmel und Konsalik (deren Büchern einige Gralshüter des Romans wie Kundera oder Vargas Llosa – möglicherweise zurecht – die Bezeichnung Roman absprechen würden) bis zu Arno Schmidt und Oswald Wiener ist es ein weiter Weg und doch steht auf den Büchern dieser grundverschiedenen Literaten das Wort Roman geschrieben. Irgendwo in der Mitte aber gibt es jene Romane, die bereits eine vielfältige, subtile Erfahrung bereithalten und dennoch nicht besonders schwer zugänglich sind, keine großen Mühen und Anstrengungen vom Leser erwarten. Manche Romane von Kundera und Vargas Llosa gehören dazu, Werke von Camus oder André Gide, Carson McCullers und Nicole Krauss und es wären noch einige Autor*innen zu nennen, bevor diese Liste fertig wäre.

Einer, der in dieser Liste auch nicht fehlen dürfte ist Vladimir Nabokov. Kaum ein Autor ist ein besserer, lebendigerer Inbegriff der hohen Narration, die beileibe nicht schwer zugänglich ist oder sich allzu sehr in Formspielen oder perspektiven Verzerrungen ergeht. Von seinen frühen russischen Romanen bis zu jenen späten Meisterwerken „Lolita“ und „Pnin“ hat er es bravourös und virtuos vermieden, etwas Verkopftes zu Papier zu bringen und ist dennoch kein unmoderner Autor (wenngleich einige Gralshüter der Avantgarde und neuer Roman- und Kunstbegriffe ihn vielleicht so bezeichnen würden).
Nabokov stammte aus Russland, in dem es zwei Romanciers gab, die ebenfalls zur Hochliteratur gezählt werden und dennoch fesselnd sind, ja geradezu Bestsellercharakter haben: Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski. Man könnte auch noch den großartigen Erzähler Anton Chechov hinzufügen. Es liegt mir fern ihn in eine Reihe mit diesen dreien zu stellen, aber Nabokov hat vielleicht auf kluge Art und Weise von ihnen gelernt, nicht was die Themen und was die Sprache anging, aber in Sachen Bodenhaftung und narrativer Eleganz ist er ihnen, behaupte ich, gar nicht so fern.

„Das wahre Leben des Sebastian Knight“ war der erste Roman, den Nabokov auf Englisch schrieb, mehr aus Notwendigkeit, denn aus einem Wunsch heraus. Er war auch zum Teil eine Art selbsterlegte Auftragsarbeit, mit der Nabokov sich bei einer Geldmöglichkeit bewerben wollte. Diese Entstehungsgeschichte flößt nicht gerade Vertrauen ein und man könnte zunächst glauben, man hielte eines jener Bücher in der Hand, die der Verlag herausgegeben hat, obwohl der Roman nicht die Höhe des sonstigen Werkes erreicht (Ähnliches ist ja schon geschehen, bei Witold Gombrowicz und „Die Besessenen“ zum Beispiel) und nur weil man die Rechte am Gesamtwerk besitzt.

Doch weit gefehlt: in seiner eigenen, schummrig-kristallinen Art ist dieser Roman ein Meisterwerk, eine Schönheit. Es gibt kaum ein Buch, das ich in den letzten Jahren mit so viel Genuss und mit so wenig Frust gelesen habe. Es ist leicht, trägt aber in jedem Satz eine tiefe Bedeutsamkeit in sich und die Sprache ist, selbst in der Übersetzung (die Dieter E. Zimmer augenscheinlich wundervoll angefertigt hat) eine echte Augenweide, auf der so manches grandiose sprachliche Bild wie ein Windstoß das Gras, die Bäume und den Körper des Lesers rauschen, wehen und zittern lässt.

Erzählt wird die Geschichte eines jungen Exilrussen, der sich auf die Spuren seines kürzlich verstorbenen Halbbruders, eben jenes Sebastian Knight, begibt. Sebastian war Schriftsteller und der Protagonist möchte nun ein Buch über ihn und sein Schaffen schreiben, eben jenes, das wir in Händen halten: „Das wahre Leben des Sebastian Knight“. Anlass ist zum einen der Tod des Bruders, der den Erzähler erkennen lässt, dass er sehr wenig über dessen Leben wusste (obgleich er sein Schaffen immer aufmerksam verfolgt hat) und zum anderen das stümperhaft-blasierte biographische Buch von Sebastians ehemaligem Sekretär, das, davon ist der Protagonist fest überzeugt, ein völlig falsches Bild von dessen geistigen Haltungen, Interessen und Antrieben zeichnet.

Also macht sich der Protagonist auf die Suche, beginnend bei der gemeinsamen Kindheit, mit Ausflügen in die Welten der Bücher, die Sebastian schrieb, immer der dünner werdenden Fährte seiner Lebenswege hinterher. Genau auf dem Grat der Gefälle entlang, von dem das Buch auf der einen Seite in die Schlucht des bloßen Berichtes, auf der anderen in den Abgrund seines eigenen Aufhängers fallen könnte, bewegt sich die Erzählung, mit einer kleinen Fülle von anekdotischen und illuminierenden Momenten beladen, in die Existenz der Figur Sebastian Knight herein, überhöht ihn nicht, verwirft ihn nicht, überfüttert den Leser nicht mit Details. Der meist weit entfernte und nun tote Bruder bekommt eine dem Sujet angemessen Aufladung angediehen, er wird aber vor allem menschlich sichtbar, nicht als Figur, als angelegte Idee. Und die Entfernung bleibt, von kurzen Momenten der Nähe durchzogen, von kurzen Erkenntnissen über ein anderes Dasein.

Es ist kein spannendes und kein gewaltiges Buch, kein großer Wurf, aber ein sehr starker, reicher Roman.

 

                                                                                                  3-499-22545-x

Über Matthias Engels neusten Roman “Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun”


“Der November verstrich. Um den Jahreswechsel herum fragte der ungeduldige Verleger noch einmal nach und forderte einen Umfang von mindestens 100.000 Wörtern. Wilde antwortete in einem knappen Telegramm, die englische Sprache habe aber keine 100.000 schönen Wörter.”
Seite 226

Sie nebeneinanderzustellen wirkt, als würde man einen willkürlichen Eingriff in die Struktur der literarischen Übersichtlichkeit machen und zwei Fäden aneinanderhalten, die sonst fern voneinander, in unterschiedlichen Diskursen, Welten und Ansichten, verlaufen: Oscar Wilde und Knut Hamsun, beide Schriftsteller, beide mit ihren Namenszügen in den Rang eines Klassikers aufgestiegen, beide … ja enden denn da schon die Parallelen??

Nein, meint Matthias Engels, der in seinem neusten Roman die Lebensläufe von Wilde und Hamsun schildert, am Anfang dünn verknüpft durch einen gleichzeitigen Amerikaaufenthalt im Jahre 1882. Im Folgenden werden Lebensstationen der beiden Schriftsteller beleuchtet: in wohlausgesuchten Szenen und Dokumenten (hauptsächlich bei Wilde), aber auch längeren Beschreibungen, mit Innenansichten der Figuren (hauptsächlich Hamsun).

Diese Gewichtung in der Art der Annäherung hat eine gewisse, den beiden Figuren innewohnende Anlage und Schlüssigkeit; sie erfordern jeweils eine andere Herangehensweise, weil ihre Lebensumstände mehr in die eine oder andere Richtung tendierten. Trotzdem verlagert dies, zusammen mit dem restlichen Aufbau, die Aufmerksamkeit des Lesers ein wenig zu sehr auf Oscar Wilde – das spricht natürlich für das Einfühlungsvermögen des Autors beim Wesen seiner Charaktere. Wilde hätte immer mehr Aufmerksamkeit erreicht als Hamsun. Dennoch ist es fast ein bisschen unfair, dass Wilde so Großes zu bieten hat, und Hamsun nur so Karges. Daraus entspinnt sich mehr eine einseitige Bedeutsamkeit, als eine schöne Spannung.

Es bleibt die Frage, warum sie nebeneinander gestellt wurden. Soll hier, im Vergleich dieser beiden großen Köpfe, auch eine größere Darstellung gemacht, eine tiefere Konfrontation abgebildet werden? Zwischen einem Menschen, dessen Leben Kunst war und einem Menschen, der alles für die Kunst tun wollte, dessen Leben aber nie Kunst wurde? Im Nachdenken über den Roman ergeben sich einige Aspekte, die in dem Neben/Gegeneinander von Wilde und Hamsun interessant hervortreten; aber vieles davon erscheint fast zu sehr vom spekulativen Akt hervorgebracht und nicht im Text verankert, nicht intendiert zu sein.

Nach Amerika enden die Überschneidungen, es gibt noch ein-zwei ganz profane Parallelen – bis zum Ende, wo beide dann fallen, beide ihrer Neigungen wegen geächtet und verurteilt werden: bei Wilde ist es ein Liebesverhältnis mit einem schönen jungen Mann, bei Hamsun die Nähe zum Verbrecherregime der Nazis. So unterschiedlich sie auch sind, Porzellan und Metall, am Ende sind sie zerbrochen und verbogen.

Stilistisch ist das Buch ein wenig durchwachsen, oft sehr flott und gut geschrieben, stellenweise dann wieder etwas gezwungen. Manchmal fallen zu genau fixierte, zu breite Beschreibungen auf; andere Wendungen werden übertrieben oft verwendet. Bei all seiner Unterhaltsamkeit und guten Komposition -was man ihm beides nicht absprechen kann und was ihn sehr lesenswert macht – ist der Roman auch etwas zu oberflächlich geraten. Es saust alles ein bisschen vorbei, selten bemerkt man eine Tiefe, die über die Situation, die Schilderung hinausweist. Für Wildes Niedergang lässt Engels sich Zeit und gut gewagt und sehr gelungen sind seine Introspektiven von Hamsun, mit das Beste im ganzen Werk. Manchmal gefällt sich das Buch dann wieder zu sehr in von Quellen belegten Anekdoten und dankbaren Aufhängern – kein großer Kritikpunkt, der aber das Buch stellenweise verwässert und zu glatt werden lässt für einen Roman.

Wieso sind die Herren wundersam? Der Titel ist letztlich das Schlechteste an dem Werk: viel zu heischend (mit zwei ebensolchen Adjektiven), umständlich und eher die sporadisch-anekdotische Seite des Buches einfangend und nicht seine Glanzleistungen. Aber Gott sei Dank hat Engels seine Figuren eben nicht wundersam, sondern dezent-authentisch und mit einem feinen Gefühl für die Facetten, in denen sie sich am besten spiegeln, auftreten lassen. Er gibt Wilde sein Verhängnis und Hamsun sein Alleinsein und um diese Pole kreist ihr Leben, schimmernd und scheinend, bis es hineinstürzt.

Es bleiben Schmökergeist und Wissen, jedoch ein bisschen zu wenig Faszination, die meist unaufgeblüht im Wind des Erzählens schwingt. Sie ist vorhanden, als eine Ahnung hinter Wort und Eindruck, die sich zwischen den Seiten wenden ließ, aber nie ganz greifen. Bei Wilde breitet sich das Wesen aus, wirft sich in Schale; bei Hamsun liegt es im tiefen Blick, den er uns aus den Sätzen entgegenwirft. Zwischen diesen beiden Welten liegen Räume der Literatur, der Existenz, der Überzeugung. Und auch diese Räume kann man, neben vielen anderen, von Matthias Engels neuem Roman gut erreichen – doch sie liegen manches Mal noch etwas zu weit abseits der Wege, die ein Roman für uns, zum Schlendern, Wandern, Laufen, auftut und bestimmt.

Über Irvings Roman “Letzte Nacht in Twisted River”.


“Romane sind Pflanzen auf den Feldern des Lebens.”
Johann Wolfgang von Goethe

Romane schreiben – Irving vergleicht diese Arbeit gerne mit dem Ringen. Der Roman ist der Gegner und du musst ihn richtig angehen, damit dir das Schreiben gelingt. Und auch wenn dieser Vergleich sicherlich ein wenig hinkt, ein Fitzelchen Wahrheit muss daran sein, denn sonst würde John Irving nicht bereits über einen so langen Zeitraum hinweg tolle Romane schreiben.

Eine anderer Teil von Irvings Arbeitsidee liegt darin, dass er keinen Roman beginnt, bevor er den letzten Satz nicht kennt; und er schreibt keinen Roman, der sich nicht um ein paar neue besondere Orte/Gegenden und Berufe & Milieus herum aufbaut, deren Wesen er vorher einige Monate lang sorgfältig studiert hat: Bisher waren das u.a. der Zirkus, das Waisenhaus, ein Hotel. Und im Kern ist jeder Roman trotzdem der gleiche, ein neuer Ansatz für dasselbe Ziel: Eine Geschichte von einem Menschen, so erzählt, dass man weiß, was das Leben mit sich bringt, was man aufs Spiel setzt, wenn man es lebt, was Verlust, Liebe und Bestimmung bedeuten; was alles passiert wenn man eine Lebensgeschichte erzählt. Das ist in jedem Irving-Roman enthalten, manchmal mehr, manchmal weniger episch.

Mit “Letzte Nacht in Twisted River” ist Irving sicherlich kein neuer Garp gelungen, kein besseres Buch als Owen Meany, kein Jahrhundertwerk amerikanischer Romankunst. Nein, er hat einfach einen großen, vielschichtigen und überaus kulinar-akribischen Roman geschrieben, der, ausgehend von einer verrückt anmutenden Idee zu einem großen und kleinen Panorama eines amerikanischen Lebens gerät und auf seine ganz eigene Art eines der besten Bücher ist, die Irving geschrieben hat – einfach, weil es teilweise so herrlich einfach und auch ein wenig hinterwäldlerisch daherkommt und es sich nicht gerade schwer macht, dabei aber fast schon wieder gnadenlos ist, mit jedem neuen Kapitel und jeder neuen Wendung. Es ist tatsächlich, um das Wort wieder aufzugreifen, “episch”, im besten und im schlimmsten Sinne des Wortes.

Ich respektiere alle Leute, die diesen Roman nicht mögen, die meinen, der Plot gehe von einer irrsinnigen Idee aus oder die Längen des Romans seihen nicht zumutbar, sondern schlichtweg zum Haare raufen und ich verstehe jeden, der sich fragt, warum er so viele Seiten lesen soll, wenn Irving schon auf den ersten 150 Seiten so wenig zur Sache kommt und einfach nur so dahin erzählt, als wäre es nicht wichtig, von der Beschreibung zum Wesentlichen zu kommen.

Doch die Pflanze schenkt die Frucht erst im letzten Abschnitt ihres Wachsens. Erst, wenn dieser Roman wachsen kann (und wer nicht warten kann, muss ihn ja nicht lesen) und seine Natur entfaltet und seine zahllosen Geschichten erst richtig beginnt und dann zu Ende erzählt hat, wird er einem wirklich den Atem nehmen, der einem am Anfang beinahe ausgehen wollte.

Und ist nicht jeder große, wunderbare Roman so, gewinnt er, mal abgesehen vom Stil, nicht erst mit der Bravour der Länge, wenn letztlich alles ausgebreitet ist? “Fegefeuer der Eitelkeiten”, die Romane von Dickens oder das jüngst erschienene Werk von Marisha Pessl “Die amerikanische Nacht” und Chabon’s “Kavalier & Clay”? Ist eine gute Geschichte nicht eine, die dann, wenn sie einen ganz fesselt, einen auch entlässt? Darüber gibt es sicherlich verschiedene Ansichten, aber, um einmal über die Maßen sentimental zu werden: Irvings Geschichten sind in diesem Sinne Blumen. Sie wachsen und wachsen und es scheint die Sonne und es gibt Regen, sie wachsen, immer mehr, und der größte Moment ist dann, wenn sich die Blüte öffnet und man den Deckel schließt. Und dann erst merkt, wie reich man beschenkt wurde. Dann ist da die ganze Wucht, die zwischen den ruhigen Zeilen versteckt war. Die Zeilen, in denen so viel geschah, all diese Teile, diese Stationen, Personen, Momente. Dinge, die nun fehlen.

Noch zur Handlung des Buche:
Die Lebensgeschichte eines Vaters und eines Sohnes auf der Flucht vor einem Verbrechen, das eigentlich ein Unfall war, gezogen über 40 Jahre, wobei zwischen den einzelnen erzählten Ausschnitten der Lebensstationen immer größere zeitliche Sprünge sind, die in der nächsten Episoden wieder mit aufgearbeitet werden. So entsteht das Bild eines Lebens, und gleichzeitig ein Bild von Amerika von Vietnam bis zum 11. September; außerdem hat John Irving zum ersten Mal (soweit ich weiß) einen Schriftsteller als Protagonisten gewählt, sodass es neben vielen Exkursen in den Fachbereich der Gastronomie, die das Gewerbe des Vaters darstellt, auch zahlreiche Ideen, Anmerkungen und Geschichten zum Schreiben, der Literatur und dem Beruf des Schriftstellers gibt und man fast so etwas wie ein kleines Selbstportrait vermuten kann. Aber Irving schreibt eben auch keine Autobiographie, er schreibt großartige, dicke Romane – was darin fiktiv, was erdacht und was aus der Wirklichkeit entwendet wurde, ist in dem Strom dieser breiten Geschichten, die uns zugeführt werden, im Wesentlichen unwesentlich.