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Eine Bestandsaufnahme der serbischen Seele – zu Marko Dinićs “Die guten Tage”


Die guten Tage „Ich wurde bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr dazu erzogen, Muslime, Albaner, Kroaten und Gott weiß wen noch zu hassen – das ist ein Verbrechen, für das niemand eine Entschädigung zahlen wird! Wir können uns schließlich nicht wehren, wir halten die Klappe und fressen die ganze Scheiße, schwenken die Fähnchen und schwören irgendeinem Deppen, dessen Namen wir als Kinder nicht einmal richtig aussprechen konnten, die Treue. Mein Lieber, im Grunde wurden wir für die Ohnmacht gezüchtet!“

Wie schafft man es, aus einer Tirade einen Roman zu machen? Vor diesem Problem steht nicht etwa Marko Dinić – wobei auch sein Debütroman „Die guten Tage“ sich in Teilen wie eine Tirade liest, gegossen in eine Narrativ –, sondern der Sitznachbar seines Protagonisten, mit dem dieser im ersten Teil gemeinsam im „Gastarbeiterbus“ von Wien nach Belgrad sitzt und der ihm unentwegt von seinem Buchprojekt erzählt (wobei unklar ist, ob es dieses Projekt wirklich gibt).

Grund für die Reise ist der Tod der Großmutter (des Protagonisten). Es ist eine Rückkehr nach 10 Jahren in der Diaspora – damals hat der Protagonist Belgrad gerade zu fluchtartig verlassen, ist abgehauen, mit Geld von eben jener nun verstorbenen Großmutter und mit ihrem Ehering, beides gab sie ihm, den Ring bringt er nun auf Anweisung seines Vaters zur Beerdigung zurück.

Im ersten Teil changiert das Buch zwischen aufkommenden und/oder geträumten Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Belgrad – auch u.a. während der Zeit des Bombardements von 1999 – und den Episoden im Bus, die zu großen Teilen aus den Monologen des Sitznachbarn bestehen. Letzterer ist eine markante und doch absonderliche Gestalt und man fragt sich mit der Zeit, ob er überhaupt existiert oder nicht doch eine Art Wahnvorstellung ist, in der der Protagonist seine eigenen Ansichten bündelt und ihnen so mal ab- und mal zugeneigt sein kann, weil er sie selbst nicht verkörpern muss, während er sich im permanenten Selbstgespräch befindet.

In Summa ist das Buch ein Ringen mit der Frage nach der Bedeutung der serbischen Herkunft und aller damit einhergehenden Merkmale – eine Bestandsaufnahme der serbischen Seele, so könnte man sagen. Der verhasste und doch auch bemitleidete Vater ist dabei das Sinnbild für den serbischen Nationalismus, den Kadavergehorsam und die Staats- und Volksverherrlichung, die umso verwerflicher sind, je mehr die realen Verhältnisse im Land den Bach runtergehen und das Auseinanderklaffen von Mythos und Wirklichkeit kaum mehr zu leugnen ist. Kurzum: er steht für alles, gegen das sich ein Mensch, der noch ein Leben haben will, noch andere Hoffnungen und Träume hat, auflehnen muss.

Aber auch der Protagonist, der das Land bereits vor 10 Jahren verlassen hat, kann sich nicht lösen von seiner Obsession mit Serbien und all seine Ausfälle und Überlegungen zur Verkommenheit seiner Familie und den gesellschaftlichen Verhältnissen, der Indoktrination und der Perspektivenlosigkeit sind zwar einerseits eine Art Weckruf, eine Kampfansage, aber auch eine Rechtfertigung, eine Verzweiflung, ja vielleicht sogar eine Furcht vor dem Anteil, der von dieser Abscheulichkeit in seinem eigenen Selbst vorhanden ist. Ich habe mich an ein Gedicht des tschechischen Dichters Jan Skácel erinnert gefühlt (übersetzt von Reiner Kunze):

“kindheit ist das was irgendwann
gewesen ist und aus dem Traum nun hängt
ein faden fesselrest den man
zersprengen kann und nie zersprengt”

Dinićs Erstling weißt eine beachtliche Sprachgewalt auf, die wohl nicht umsonst entfernt an Louis-Ferdinand Céline erinnert (und irgendwo auch, in ihrer Eklatanz und gleichzeitigen Ambivalenz, an Curzio Malaparte). In seinen eigenen Gedanken-Schleifen aus Abscheu und Indifferenz gefangen, bleibt der Protagonist, bei aller Offenheit, eine fast schon undurchsichtige Figur, in der sich verschiedene Dilemmata und Klarheiten mit gleicher Intensität spiegeln. Die Verkommenheit, die er anprangert, ist geschminkt mit Trauer, die Wut, die er loslässt, schlägt auch ein bisschen über ihm selbst zusammen.

Man könnte dem Roman vorwerfen, dass er nirgendwo hinkommt, sich um sich selbst dreht. Aber genau das ist wohl auch der Punkt. Es gibt keinen Ausweg, denn der Protagonist ist nicht gedacht als touristisches Ausflugsziel für Leser*innen, die mal in Serbien einen Entwicklungsroman durchleben wollen. Vielmehr leidet er unter genau jener Ohnmacht, die im ersten Zitat beschrieben wird. Er ringt mit dieser Ohnmacht und findet doch außerhalb von ihr und seinem Ringen wenig vor, das ihm Halt gibt. So gelingt Dinić das außergewöhnliche Portrait einer geschädigten Seele, einer von vielen.

Zu der Anthologie “Grand Tour”


Grand Tour

Grand Tour, das ist ein etwas altbackener Titel für eine doch sehr beachtliche Anthologie, die uns mitnimmt auf eine Reise (oder sieben Reisen, denn als solche werden die Kapitel bezeichnet) in 49 europäische Länder und eine Vielzahl Mentalitäten, Sprachen, Stimmen und Lebenswelten, ins Deutsche übertragen von einer Gruppe engagierter Übersetzer*innen (und das Original ist immer neben den Übersetzungen abgedruckt).

Laut dem Verlagstext knüpft die von Jan Wagner und Federico Italiano betreute Sammlung an Projekte wie das „Museum der modernen Poesie“ von Enzensberger und Joachim Sartorius „Atlas der neuen Poesie“ an – vom Museumsstaub über die Reiseplanung zur Grand Tour, sozusagen.

Dezidiert wird die Anthologie im Untertitel als Reise durch die „junge Lyrik Europas“ bezeichnet. Nun ist das Adjektiv „jung“, gerade im Literaturbetrieb, keine klare Zuschreibung und die Bandbreite der als Jungautor*innen bezeichneten Personen erstreckt sich, meiner Erfahrung nach, von Teenagern bis zu Leuten Anfang Vierzig.

Mit jung ist wohl auch eher nicht das Alter der Autor*innen gemeint (es gibt, glaube ich, kein Geburtsdatum nach 1986, die meisten Autor*innen sind in den 70er geboren), sondern der (jüngste erschlossene) Zeitraum (allerdings ist die abgedruckte Lyrik, ganz unabhängig vom Geburtsdatum der Autor*innen, nicht selten erst „jüngst“ entstanden).

Wir haben es also größtenteils mit einer Schau bereits etablierter Poet*innen zu tun, die allerdings wohl zu großen Teilen über ihre Sprach- und Ländergrenzen hinaus noch relativ unbekannt sind. Trotzdem: hier wird ein Zeitalter besichtigt und nicht nach den neusten Strömungen und jüngsten Publikationen und Talenten gesucht, was selbstverständlich kein Makel ist, den ich der Anthologie groß ankreiden will, aber potenzielle Leser*innen sollten sich dessen bewusst sein.

Kaum überraschen wird, dass es einen gewissen Gap zwischen der Anzahl der Gedichte, die pro Land abgedruckt sind, gibt. Manche Länder (bspw. Armenien, Zypern) sind nur mit ein oder zwei Dichter*innen vertreten, bei anderen (bspw. England, Spanien, Deutschland) wird eine ganze Riege von Autor*innen aufgefahren. Auch dies will ich nicht über die Maßen kritisieren, schließlich sollte man vor jedem Tadel die Leistung bedenken, und würde mir denn ein/e armenische/r Lyriker/in einfallen, die/der fehlt? Immerhin sind diese Länder (und auch Sprachen wie das Rätoromanische) enthalten.

Es wird eine ungeheure Arbeit gewesen sein, diese Dichter*innen zu versammeln und diese Leistung will ich, wie gesagt, nicht schmälern. Aber bei der Auswahl für Österreich habe ich doch einige Namen schmerzlich vermisst (gerade, wenn man bedenkt, dass es in Österreich eine vielseitige Lyrik-Szene gibt, mit vielen Literaturzeitschriften, Verlagen, etc. und erst jüngst ist im Limbus Verlag eine von Robert Prosser und Christoph Szalay betreute, gute Anthologie zur jungen österreichischen Gegenwartslyrik erschienen: „wo warn wir? ach ja“) und auch bei Deutschland fehlen, wie ich finde, wichtige Stimmen, obwohl hier natürlich die wichtigsten schon enthalten sind. Soweit die Länder, zu denen ich mich etwas zu sagen traue.

Natürlich kann man einwenden: Anthologien sind immer zugleich repräsentativ und nicht repräsentativ, denn sie sind immer begrenzt, irgendwer ist immer nicht drin, irgendwas wird übersehen oder passt nicht rein; eine Auswahl ist nun mal eine Auswahl. Da ist es schon schön und erfreulich, dass die Anthologie zumindest in Sachen Geschlechtergerechtigkeit punktet: der Anteil an Frauen und Männern dürfte etwa 50/50 sein, mit leichtem Männerüberhang in einigen Ländern, mit Frauenüberhang in anderen.

„Grand Tour“ wirft wie jede große Anthologie viele Fragen nach Auswahl, Bedeutung und Klassifizierung auf. Doch sie vermag es, in vielerlei Hinsicht, auch, zu begeistern. Denn ihr gelingt tatsächlich ein lebendiges Portrait der verschiedenen Wirklichkeiten, die nebeneinander in Europa existieren, nebst der poetischen Positionen und Sujets, die damit einhergehen. Während auf dem Balkan noch einige Texte um die Bürgerkriege, die Staatsgründungen und allgemein die postsowjetische Realitäten kreisen, sind in Skandinavien spielerische Ansätze auf dem Vormarsch, derweil in Spanien eine Art Raum zwischen Tradition und Innovation entsteht, usw. usf.

Wer sich poetisch mit den Mentalitäten Europas auseinandersetzen will, mit den gesellschaftlichen und politischen Themen, den aktuellen und den zeitlosen, dem kann man trotz aller Vorbehalte „Grand Tour“ empfehlen. Wer diesen Sommer nicht weit reisen konnte, der kann es mit diesem Buch noch weit bringen.