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Ein weiterer Band mit Geschichten von Lydia Davis, der Meisterin existenzieller Aspekte


Es ist wies ist

“und das häuft sich an und baut sich auf, und du weißt, wo du heute Nacht landen wirst, du redest, und immer mal wieder denkst du daran, nein, du denkst nicht, du hast das Gefühl, als wäre es eine Art Schicksal, was passieren wird, wenn du weggehst von da, wo du den ganzen Abend verbringst, egal wo, und das macht dich glücklich, und du planst alles genau, aber nicht im Kopf, nicht wirklich da, sondern irgendwo im Innern des Körpers oder von oben nach unten, es wächst und wächst und staut sich auf“

Seit ein paar Jahren werden Freund*innen der Kurz- und Kürzestgeschichtenliteratur auch in Deutschland mit den Werken von Lydia Davis beglückt (es ist bereits der fünfte Band bei Droschl), in denen sich Tradition und Postmoderne, Psychologie und Absurdität, Realitäten und Metaebenen auf fulminante Art und Weise verquicken.

Hinter dem lapidar erscheinenden Titel „Es ist, wie’s ist“ verbirgt sich also wieder ein Mix aus elegant-cleveren Grotesken und feinen Psychogrammen, vor allem jedoch: ein ganze Galerie an Geschichten, die eine feine, beinah nicht mehr messbare Komik in sich tragen, während sie zugleich ihre Protagonist*innen als die Seiltänzer*innen über dem Abgrund der Dinge darstellen, die sie nun einmal sind – wie wir alle – in ihrer Geworfenheit, all ihrem Versuchen, ihrem Schritthalten mit den eigenen Vorstellungen, dem eigenen Sein.

Die Verhaltensweisen, das Denken dieser Menschen erforscht Davis, spitzt ihre Manien zu und lockert ihre Gewissheiten auf, manchmal in langen, atemlos anmutenden Passagen, die die Geschichten zu einem Strudel werden lassen, in den man als Leser*in mit hineingezogen wird. Davis Augenmerk liegt dabei auf dem Innermenschlichen – das Zwischenmenschliche ist mehr ein Schatten, der sich auf dem Innenleben niederschlägt oder eine Chimäre, die umherschweift, mit der man ringt.

Als winzigen Kritikpunkt könnte man anbringen, dass sich manche der neusten Erzählungen ein bisschen sehr konstruiert ausnehmen, manchmal geradezu Konstruktionen mit Ansage sind, als solche durchgezogen werden. Davis gelingt es zwar immer, ihre Arrangements mit Leben zu erfüllen und den existenziellen Aspekt nicht zu einer Abstraktion verkommen zu lassen, aber dennoch wirken manche Geschichten wie das allzu saubere Knüpfen eines vorbildlichen Knotens.

Wobei: gerade diese Mustergültigkeit, die Davis so vielfältigen und nicht selten ungewöhnlichen Texten innewohnt, ist ja bestechend und kontrastiert ihre Plots und deren Eigenwilligkeit immer wieder fabelhaft. Insofern verfehlt eine solche Kritik ein wenig den Kern dessen, was Davis Geschichten auszeichnet und der der Grund dafür ist, warum so viele Leser*innen sich in ihrer überaus spielerischen und doch existenziellen Prosa wiederfinden.

Wer Davis schon verfallen ist, darf sich hier auf neue Nahrung freuen, Neueinsteiger*innen würde ich eher „Kanns nicht und wills nicht“ oder „Samuel Johnson ist ungehalten“ empfehlen.

Zu “Untrue” von Wednesday Martin


untrue „Aber wenn man aus dem Mund einer fest liierten Frau nach der anderen hört, sie sei in sexueller Hinsicht ungewöhnlich – weil sie mehr Sex möchte, als sie sollte, weil sie den Drang, die Versuchung zum Fremdgehen verspürt –, dann wird man das Gefühl nicht los, in Sachen weiblicher Lust, Sexualität und insbesondere Monogamie sei das »Ungewöhnliche« das »Normale« und das »Normale« bedürfe dringend einer Neudefinition.“

Untreue, Fremdgehen – das sind nach wie vor, auch in unseren liberalen, aufgeklärten und in Teilen sexpositiven Gesellschaften, zwei mächtige Begriffe. Worte sind schließlich nicht nur Namen für etwas, sondern oft auch Chiffren, die im kulturellen/sozialen Kontext etwas darstellen/abbilden, im Fall dieser beiden Worte eine Erschütterung, zumindest eine Verunsicherung, eine Krise (und natürlich, medial angewandt, blinkt das Wort Skandal bei ihnen mit).

Das ist ein Narrativ, Geschichten, die das Wort scheinbar erzählt/erzählen muss, sobald es auftaucht. Dieses Narrativ hat natürlich eine ideologische Komponente, mit vielen Ausläufern. Diesem ideologischen Faktor geht Wednesday Martin in „Untrue“ nach, beschreibt ihr Selbstverständnis des Buches wie folgt:

„Wir haben es hier also mit einem Werk der interdisziplinären Kulturkritik zu tun. Es filtert und verdichtet eine ganze Bandbreite gelehrter Forschungsergebnisse zur weiblichen Untreue und verwebt sie mit meinen ganz persönlichen Ansichten, meinen Interpretationen von Artikeln in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, sozialwissenschaftlichen Studien, aber auch von Songs und Filmen der Popkultur.“

Das Buch ist allerdings, bei aller Gelehrtheit und Struktur, eine ziemlich wilde Mischung aus Erfahrungsberichten, wissenschaftlich-theoretischen Ausführungen und anekdotischen Abschweifungen. Es kommt immer wieder zum Punkt, verzettelt sich aber auch hier und da in faszinierenden bis abenteuerlichen Ideen, die in manchen Fällen ein ganzes eigenes Buch zur Ausarbeitung bräuchten.

So entsteht allerdings ein spannender Überblick mit vielen Anregungen, nicht nur was weibliche Sexualität, sondern vor allem was das Selbstverständnis unserer westlichen Kulturen betrifft. Martin weißt immer wieder darauf hin, dass auch sie sich möglicherweise noch auf zu eingefahrenen Bahnen bewegt, wenn es darum geht, dieses Selbstverständnis zu hinterfragen.

„Und was soll »weibliche Untreue« überhaupt bedeuten in einem Kontext, in dem sich immer mehr Millennials als Postgender bezeichnen – also die säuberliche Trennung in zwei gegensätzliche Kategorien ablehnen, die bisher unser Leben definiert und Bedeutungen wie Heterosexualität und Homosexualität, männlich und weiblich, treu und untreu gestiftet haben?“

Über Fragen der Beziehungsgestaltung und historische und ethnologische Betrachtungen bis zur Psychologie von Sexualität spannt Martin einen teilweise schlingernden Bogen, der letztlich zwar kein konsistentes Gedankengebäude mit zwingenden Schlussfolgerungen tragen kann, aber dennoch in Staunen versetzt und (again) allerhand Anregungen bereithält (ebenso ihre umfangreichen Quellenangaben).

Die Mammutaufgabe, die weibliche Sexualität aus den bequemen Vorstellungen und lange zementierten Grundsätzen patriarchaler Bestimmungen herauszusprengen, geht sie mit viel Verve und Fakten an, viel Enthusiasmus und kämpferischen Ansagen, viel Feuer, aber auch mit unterschiedlichsten Ansätzen. Manche Darstellungen und Annahmen sind etwas zu einseitig und sollten im Hinblick auf Ideen einer individuell und nicht nur kulturell bedingten Sexualität überdacht werden. Aber es stimmt schon, unsere Sexualkultur bedarf einer rigorosen Überarbeitung und dieses Buch leistet hier einen wichtigen Anstoß.

„Es ist frustrierende, wenn man in Endlosschleife zu hören bekommt, Männer hätten eine stärkere Libido als Frauen, als wäre das eine schlichte Tatsache.“

Zu Virginie Despentes “King-Kong-Theorie”


King Kong Theorie Virginie Despentes war schon 2006, als dieser Essayband zum ersten Mal erschien, kein unbeschriebenes Blatt. Sie hatte mit „Baise-Moi“ einen Bestselleroman (und Film) vorgelegt, in dem es u.a. um sexuelle Gewalt, abnorme Gelüste und brutale Rache ging und galt auch ansonsten als skandalumwobene Figur. „King-Kong Theorie“ schlug noch einmal in diese Kerbe, bevor es still um Despentes wurde, was sich erst nach der Veröffentlichung der großartigen Roman-Trilogie über Vernon Subutex, die ihr Preise und viel Anerkennung einbrachte, wieder änderte.

Schon die ersten Seiten dieser manifestartigen Essayaneinanderreihung haben es in sich. Despenstes nimmt von Anfang an kein Blatt vor den Mund und sagt, dass sie für die Hässlichen, die Ungeliebten, die Uninteressanten, die Durchgeknallten und Hysterischen sprechen wird. Vor allem geht es ihr aber darum, einer an den Rockzipfeln verquerer sexueller Vorstellungen hängenden Gesellschaft mal kräftig die Leviten zu lesen. Die erste Salve richtet sich gegen die Festlegung der Frau als universelles Objekt der Begierde.

es macht mich rasend, wenn man mir ständig zu verstehen gibt, dass ich als Frau, die die Männer kaum interessiert, gar nicht da sein sollte. […] Sogar heute, wo viele Romane von Frauen geschrieben werden, triffst du darin nur selten Frauenfiguren, die unscheinbar oder durchschnittlich aussehen und nicht imstande sind, die Männer zu lieben oder sich von ihnen lieben zu lassen. […] Es ist mir Wurst, ob ich Männer geil mache, die mich nicht zum Träumen bringen. […] Ich bin zufrieden mit mir, wie ich bin, eher begehrlich als begehrenswert.

Um Weiblichkeit geht es dann im Weiteren und warum diese immer noch ein Korsett ist, das (auch „ausgelebt“) so sehr mit Vorstellungen und Erwartungen zugepflastert ist, dass man darin keine echten eigenen Wege gehen kann. Weiblich sein, das wird heute zwar gerühmt, aber noch im Rühmen ist es eine Fessel, mit der nur fröhlicher gerasselt wird. Despentes sieht im Weiblichen das ewige Ausbleiben von echtem Selbstbewusstsein auf Seiten der Frauen, die mit einem falschen, als dynamisch dargestellten, weiblichen Selbstbewusstsein abgespeist werden, das mehr ein Selbstbild denn ein Selbstbewusstsein ist.

Denn um zu kämpfen und in der Politik Erfolg zu haben, müssen wir tatsächlich bereit sein, unsere Weiblichkeit zu opfern, weil wir bereit sein müssen, uns zu schlagen, zu triumphieren, unsere Macht auszuspielen. Wir müssen aufhören sanft, freundlich, diensteifrig zu sein, wir müssen uns erlauben, den anderen öffentlich zu dominieren.

Die anderen, das sind die Männer, die partout selbst die schönsten, besten, progressivsten Diskurse und Ideen an sich reißen, einfach weil sie andere dominieren, wenn es ihnen in den Kram passt, wenn sie es können. Bei Frauen dagegen wird solches Verhalten als hysterisch, hyperbolisch, keifend, kalt, unverhältnismäßig etc. wahrgenommen.

Frauen genießen sozusagen den Vorzug, edle Wesen zu sein, nur, dass dieser Titel keine echten und jede Menge Scheinvorteile bietet. Frauen werden idealisiert (die schönsten, mächtigsten, intelligentesten von ihnen, die Schatten auf alle anderen werfen) und sie werden mit lauter Zuschreibungen versehen und davon abweichendes Streben wird entweder verharmlost oder verurteilt. Die hohen Ansprüche, die an Frauen in der Gesellschaft gelegt werden, lassen jeden Fehltritt oder jede Eigenheit zu einem Fehler, einer „Sünde“ werden. Die „edlen Wesen“ sind nicht ausgezeichnet durch, sondern gefangen, gebannt in den hohen Standards, die ihnen als Identität verkauft werden.

Männer verurteilen die Vergewaltigung. Deswegen ist das, was sie tun, immer etwas anderes. […] Hört endlich auf, uns einzureden, die sexuelle Gewalt gegen Frauen sei ein neues oder irgendeiner bestimmten Gruppe eigenes Phänomen.

Im nächsten Kapitel geht es um noch härteren Tobak. Hier spricht Despentes, teilweise aufbauend auf dem ersten Teil, über Vergewaltigungen: warum man nicht darüber spricht, warum sie ein Tabu sind, warum Frauen bis heute größtenteils damit alleingelassen werden – und schildert dann eine Vergewaltigung, die sie selbst erlebt hat. Schildert, warum sie sich nicht wehrte, und wie sie in diesem Moment Teil eines gesellschaftlichen Konstruktes, einer gesellschaftlichen Gewalt wurde, die sie, zusätzlich zu den Ereignissen, überwältigte.

Von dem Augenblick an, da ich kapierte, was uns geschah, war ich überzeugt, dass sie die Stärkeren waren. Eine mentale Sache. Inzwischen bin ich überzeugt, dass ich anders reagiert hätte, wenn sie uns unsere Jacken hätten klauen wollen. Ich war nicht tollkühn, aber oft leichtsinnig. Doch in dem Moment fühlte ich mich als Frau, widerwärtig als Frau, wie ich mich nie gefühlt hatte, wie ich mich nie mehr gefühlt habe. […] Ich bin wütend auf eine Gesellschaft, die mich erzogen hat, ohne mir je beizubringen, einen Mann zu verletzen, der mir mit Gewalt die Beine spreizt, während die gleiche Gesellschaft mir eingetrichtert hat, dass es sein Verbrechen sei, von dem ich mich nie wieder erholen dürfe.

Despentes beschreibt die Vergewaltigung als beides: als furchtbare Erfahrung, aber auch als eine, über die sie hinwegkommt; die sie zwar immer wieder einholt, die aber nie bestimmt, wie sie mit Sexualität und Macht und Ängsten umgeht. Sie verharmlost das Erlebnis nicht, fädelt es minutiös auf – und gerade dadurch bekommt es etwas gleichsam Gewöhnliches UND Schreckliches. Was genau die Dimension ist, die Vergewaltigungen in den meisten Gesellschaften immer noch haben. Sie geschehen nämlich täglich, in jedem Krieg, in der Ehe, unter Bekanntschaften, unter Liebenden, in Arbeits- und Geschäftsverhältnissen. Und sind doch eine der schlimmsten Gewalttaten, die man sich vorstellen kann. Weswegen sie ja auch verurteilt werden. Nur reden sich Männer halt sehr viel zurecht, wenn es um den Willen oder die Wünsche der Frau zum/beim Sex geht.

Kurz überlegt Despentes, warum es nicht schon längst ein Gerät gibt, das eine Frau sich in die Vagina einsetzen kann und das jeden unerlaubt eindringen Penis zerfetzt.

Aber vielleicht ist es ja gar nicht wünschenswert, das weibliche Geschlecht für gewaltsames Eindringen unerreichbar zu machen. Eine Frau muss offen bleiben und ängstlich. Wie sonst sollte sich Männlichkeit definieren? […] Die Vergewaltigung, diese verdammte Tat, von der niemand sprechen darf, vereint in sich eine ganze Reihe grundlegender Glaubenssätze über die Männlichkeit.

Am schlimmsten, so sagt sie, ist, dass sie manchmal Vergewaltigungsphantasieren hat, für die sie sich schämt, die sie aber verfolgen. Sie sieht darin keinen wirklichen Wunsch nach dem Akt der Vergewaltigung, sondern einen gesteigerten Ausdruck ihres Wunsches nach Dominanz, den ihr die Gesellschaft, die sexuellen Normen, eingetrichtert haben; ihre Lust muss immer in der Ohnmacht, im Genommenwerden, im passiven Aufnehmen liegen.

Auch in den folgenden Kapiteln tut sich Despentes weiter in brisanten und heiklen Themen um. Oft sind ihre Thesen steil, aber nie ohne Biss, voller Ecken und Kanten, an denen man sich stößt. Zur Sex-Arbeit, die sie eine ganze Weile ausgeübt hat, berichtet sie vor allem Positives und spricht über die Faszination, sich selbst und seinen Körper als Objekt zu begreifen – also nicht objektifiziert zu werden, sondern diesem Prozess sozusagen zuvorzukommen, selbstbestimmt.

Ich war die Hüterin eines wild begehrten Schatzes […] der Zugang zu meinem Körper erhielt eine extreme Bedeutung […] Mein Körper war ein riesiges Spielzeug geworden.

Despentes macht klar, dass sie nicht versteht, warum Frauen nach wie vor stigmatisiert werden, wenn sie ihren Körper verkaufen, während Männer, die Körper kaufen, kein bisschen stigmatisiert werden. Sex soll also etwas sein, dass Männer wollen, Frauen aber ungern geben, oder nur aus Liebe, nicht gegen so etwas Niederes wie Geld (das erst wieder zu einem hohen Gut wird, wenn der Mann es nach Hause bringt)?

Keine Frau darf aus sexuellen Diensten außerhalb der Ehe Gewinn ziehen. Sie ist keinesfalls erwachsen genug für die Entscheidung, ihre Reize feilzubieten. […] Sie sind immer Opfer.

Auch auf Pornographie kommt sie zu sprechen und bietet hier ebenfalls einen eigenwilligen Blickwinkel. Pornographie ist für sie einerseits ein wichtiges Ventil für unsere Phantasien, andererseits liegt in ihr dasselbe Problem, wie in allen Fiktionen: wenn man anfängt, sie eins zu eins für voll zu nehmen, auf die Wirklichkeit zu übertragen (vor allem die Fiktionen, die unterhalten wollen), dann werden daraus Illusionen, falsche Vorstellungen, gefährliche und hartnäckige.

Man verlangt zu oft vom Porno, ein Abbild der Wirklichkeit zu sein. Als wäre er kein Kino mehr. Man wirft zum Beispiel den Schauspielerinnen vor, ihre Lust nur zu spielen. Aber gerade dafür sind sie da, dafür werden sie bezahlt, das haben sie gelernt.

Natürlich ist Pornographie ein sehr heikles Thema und die teilweise horriblen Arbeitsbedingungen hat Despentes etwas zu wenig im Blick. Despentes plädiert für einen aufgeklärten Umgang mit Pornographie wie auch schon vorher mit Sexarbeit und Vergewaltigung. Die Stigmatisierung und das Tabu sind ihrer Ansicht nach dafür verantwortlich, dass es bei diesen Themen zu wenig Bewegung gibt, sich zu wenig ändert, zu wenig debattiert und gefordert wird, zu viel Misstrauen und Vorurteile herrschen.

Sex, Sex, Sex. In Despentes Buch geht es viel darum und doch ist kaum ein Deut davon erfreulich und damit stellt sie sich, sehr erfolgreich und bemerkenswert, wie ich finde, gegen den ewigen Strom der positivistischen Sexualbücher, Filme, und sonstigen sexualisierten Medien. Natürlich ist Sexualität, einvernehmlich und mit entsprechender Rücksichtnahme und Vorsicht gelebt, etwas sehr Schönes. Aber es wird zu wenig gesprochen über die Versäumnisse und Tabus, die es hier immer noch gibt. Und das sind eben nicht Analsex oder Fisting, Gang-Bangs, etc.

Nein, vielmehr wird zu wenig darüber gesprochen, dass Sexualität noch immer und oft viel mit Gewalt zu tun haben kann. Dass Sexualität immer noch ein Machtinstrument ist, nach dem Geld sicher das Einflussreichste. Und dass die Darstellung von Sexualität bei aller Aufgeklärtheit noch immer fadenscheinig und sehr monokulturistisch sein kann.

Despentes, um nur ein Beispiel zu nennen, spricht zum Beispiel über den weiblichen Orgasmus, der als Errungenschaft gepriesen, aber längst nicht so gelebt wird, werden kann. Denn:

Von einer Möglichkeit wurde der [weibliche] Orgasmus in einen Imperativ verkehrt.

Für eine Frau muss der Orgasmus plötzlich ein Ziel sein und sie muss zum Orgasmus kommen können, muss sich auf den Mann soweit einlassen, damit er sie zum Orgasmus bringen kann. Zwang statt Freiheit.

Despentes Buch ist ein Sammelsurium, ein Schwall, eine Tirade voller Traktate; eine vielleicht nicht immer ausgewogene, aber dennoch großartige Auseinandersetzung mit den blinden Flecken des sexualisierten Zeitalters. Wen einige der angedeuteten Themen interessieren, dem kann ich nur empfehlen, sich mit Virginie Despentes Essays auseinanderzusetzen und sich geistig mit ihnen zu messen; sie vermag es, einiges vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie hat sicher nicht immer Recht, aber sie zwingt die Leser*innen unerbittlich, sich mit der Fragilität von Sexualität auseinanderzusetzen. Denn das ist Sexualität auch: nicht nur kraftstrotzend, vital, hedonistisch, glänzend und eruptiv, sondern auch fragil, widersprüchlich, hässlich, schwierig, eigensinnig. Davor die Augen zu verschließen bringt nichts. Wir müssen miteinander darüber reden, egal wie sehr versucht wird, Normen wie Gräben zwischen uns zu ziehen.

Traditionell sollen sich Frauen und Männer nicht verstehen, verständigen und miteinander aufrichtig sein. Diese Möglichkeit ist offenbar beängstigend.

Zu Margarete Stokowskis “Untenrum frei”


Untenrum frei

Haben wir die Fesseln der Unterdrückung längst gesprengt, oder haben wir nur gelernt, in ihnen shoppen zu gehen?

Man könnte das ganze Buch von Margarete Stokowski – das in 7 Kapitel unterteilt ist, von denen jedes in sich abgeschlossen ist und als Einzeltext gelesen werden kann – als eine lange, ausführliche, von verschiedenen Seiten beleuchtete Antwort auf eine einzige Frage lesen: Warum Feminismus?

Das wäre selbstverständlich eine stark verknappte Zusammenfassung. Natürlich schleift diese Frage einen Rattenschwanz von weiteren Fragen hinter sich her: Was ist Feminismus? Wie wirken sich feministische Positionen auf das eigene Leben aus, wie stellt sich eine unter feministischen Gesichtspunkten betrachtete Wirklichkeit dar? Inwiefern hängen Feminismus und Gendertheorie zusammen? Ist Feminismus grundsätzlich solidarisch mit allen anderen Anti-Diskriminierungsbewegungen? Was will der Feminismus erreichen?

All diese Fragen bindet Stokowski ein und es wird schnell ersichtlich, dass es ihr nicht um einen Feminismus spezieller Prägung, sondern um Feminismus als Ausdruck und Sammelbegriff einer generellen Unzufriedenheit mit den hierarchischen, determinierten, unverhältnismäßigen & ungerechten Gesellschaftsverhältnissen, Normen und Vorstellungen geht, dessen Hauptanliegen und Ziel die Freiheit beim Ausleben der eigenen Persönlichkeit und der Ausformung der eigenen Identität ist (solange dies nicht die Freiheit eines anderen Individuums oder einer Gruppe einschränkt).

Es geht um die kleinen, schmutzigen Dinge, über die man lieber nicht redet, weil sie peinlich werden könnten, und um die großen Machtfragen, über die man lieber auch nicht redet, weil vieles so unveränderlich scheint. Es geht darum, wie die Freiheit im Kleinen mit der Freiheit im Großen zusammenhängt, und am Ende wird sich zeigen: Es ist dieselbe.

Ich werde nicht müde, Camus zu zitieren, der einmal in seinen Cahiers angemerkt hat, dass alle größeren Konflikte der Menschheit letztlich Kämpfe um Privilegien waren und sind. Noch immer sind die Privilegien auf dem Planeten ungleich verteilt, in jeglicher Hinsicht. Hauptsächlich, weil die Menschen die mehr Privilegien haben nicht bereit sind, einen Teil davon abzugeben, damit irgendwann alle dieselben Privilegien genießen können.

Rebecca Solnit hat in ihrem Buch „Wenn Männer mir die Welt erklären“ eindrucksvoll geschildert, dass ein großer Teil der Weltbevölkerung immer noch vom anderen Teil unterdrückt wird. Frauen (und als Frauen definierte oder so wahrgenommene Personen jedweden/r Geschlechts/Genderbezeichnung) üben lediglich 10% der Gewalttaten aus, sind aber selbst häufig Opfer von Gewalt, speziell von sexueller Gewalt. Auch in Deutschland hat mindestens jede vierte Frau einmal sexuelle Gewalt erfahren.

Es gibt in Deutschland und generell in Westeuropa vielleicht keine Zwangsheiraten mehr und keine gesetzlich verankerte sexuelle Repression. Aber immer noch sind unsere Systeme und Vorstellungen von repressiven und problematischen Geschlechterbildern durchdrungen. Das beginnt schon in den banalsten alltäglichen Wortverwendungen, wird deutlich in der pornogeprägten Sexualsprache (z.B.: wenn man in vielen Kontexten bei Frauen von schmutzigen, statt schlicht von sexuellen Phantasien spricht), aber letztlich springt uns diese Problematik überall entgegen. Stokowski spricht in einem Kapitel von einer Studie, bei der den Testpersonen Aussagen vorgelegt wurden, die entweder aus Männermagazinen entnommen waren oder von verurteilten Vergewaltigern stammten.

Die Testpersonen waren nicht fähig zu unterscheiden, welche Sätze aus Männermagazinen stammen und welche von Vergewaltigern. Ja, sie fanden sogar die Aussagen aus den Magazinen tendenziell herabwürdigender.

Stokowskis Buch ist aber nicht bloß eine gute Darstellung solcher systemimmanenter Diskriminierungen und Idiotien, sondern auch das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklungsgeschichte, von der Bravolektüre bis zum Beziehungsalltag als Erwachsene. Die Kapitel beginnen fast immer mit einem Erlebnis aus ihrer eigenen Biographie und sind von solchen Selbstausleuchtungen mal mehr, mal weniger durchzogen. Klug und überzeugend knüpft sie mit Biographischem an größere Zusammenhängen an. Ihre Prosa hat eine coole Dynamik, ist eine bestechende Mischung aus fachlich Gediegenem und genauestens Durchdachtem, tiefergehenden Selbstzeugnissen und hingerotzten und herbeizitierten Klarstellungen. Sie nimmt letztlich keine hohe Warte ein, doziert nicht, sondern begegnet ihren Leser*innen auf Gesprächsniveau, verständnisvoll und unversöhnlich zugleich.

Stokowski spricht davon, wie sie selbst lange nicht glaubte, dass Feminismus wichtig ist oder sich zumindest nicht genauer mit ihm auseinandersetzte. Bis sie begriff, was das mit uns macht, wenn wir die gesellschaftlichen Rollen, in die wir gesteckt werden (auch wenn wir nicht glauben, dass wir uns in ihnen durch die Welt bewegen), nicht hinterfragen. Wenn wir uns nicht mit ihnen auseinandersetzen. Dann gibt es sie trotzdem, dann machen sie trotzdem etwas mit uns.

Wir stecken viel Energie in die Rollen, die wir spielen, weil wir glauben, dass alles eine Ordnung haben muss und so viel anders auch gar nicht geht. Wir geben uns Mühe, die wir oft kaum bemerken, weil sie so alltäglich geworden ist. Und auch, weil es leichter ist, sich an vorhandene Muster zu halten.

Sie spricht über ihre eigenen Erfahrungen mit Sex, Bildung, Sozialgefügen, etc. und schafft es, dabei sowohl die menschliche als auch theoretische Ebene konkret herauszuarbeiten, hervorstechen zu lassen – ein bemerkenswerter Balanceakt, den man ihr als Unentschlossenheit, als Makel ankreiden könnte. Doch dann würde man ignorieren, wie nachdrücklich dieses Buch Dinge auf den Punkt bringt, wie versiert und uneitel es sich innerhalb dieser komplexen Themen bewegt und wie weit es sich an manchen Stellen den Leser*innen öffnet.

Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern aufzuzeigen wirkt manchmal so, als wolle man die Gräben zwischen ihnen vertiefen, obwohl man sie auf Dauer abschaffen will: Ein nerviges Dilemma, aus dem man nicht rauskommt, solange man Probleme beheben will.
Wir müssen zeigen, nach welchen Kriterien sich Reichtum und Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer, Gewalt und Leid verteilen, wenn wir wollen, dass alle dieselben Chancen auf ein glückliches Leben haben – auch wenn oder gerade weil diese Kriterien das sind, was wir auf Dauer abzuschaffen versuchen.

Ja, wir müssen, im Interesse aller, daran arbeiten, dass eine Gesellschaft, in der Gleichberechtigung nicht nur ein Vorsatz, sondern eine verwirklichte, gelebte Realität ist, entstehen kann und das heißt, dass einiges planiert, einiges platt gemacht werden muss. Dass einige Privilegien verschwinden und letztlich alle.

Denn es gibt keine neutrale Sicht auf das Leben, und wir brauchen sie nicht. Wir brauchen Vielfalt – Vielfalt lehrt uns Freiheit.

Margarete Stokowskis Buch hat mir seit langem mal wieder Mut gemacht; etwas in mir angefacht, dass an dieser Welt arbeiten, sie auf positive Weise mitgestalten will. Es ist ein Buch mit vielen Facetten und ich hoffe, ich habe keine von ihnen allzu sehr in der Mittelpunkt gerückt oder unter den Tisch fallenlassen.

Manches hat mich tief berührt, manches schockiert, manches hat meinen Horizont erweitert, manches meine eigenen Gedanken bestärkt. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: am meisten hat mich beeindruckt, wie dieses Buch aufklärerlisch argumentiert, auf theoretischen Ebenen arbeitet und doch durch seine Direktheit, seine Sprache, eben nicht belehrt, sondern kommuniziert, ein Aufruf zum Dialog ist. Aufmerksamkeit erzeugt und nicht nur Wissen.

Solche Bücher braucht es. Bücher, in denen das Abstrakte und das Lebendige zusammenfallen. Die uns Zusammenhänge aufzeigen, Tatsachen vermitteln, die uns aber auch auffordern, in denen wir nicht einfach nur sichere und schweigsame Teilnehmer sein können, sondern die uns mit uns selbst, mit dem Schönen und Schlimmen in uns und um uns, konfrontieren. Bücher, die uns inspirieren.

Sie sagen, dass wir von Hass getrieben sind, weil sie sich wundern, dass da Frauen mal keine Harmonie und Liebe versprühen, sondern Forderungen haben. Aber Wut ist nicht dasselbe wie Hass. Hass will Zerstörung. Wut will Veränderung. Hass ist destruktiv, Wut ist produktiv.

Stokowski zitiert Susan Sontag mit den Worten: „Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen.“ Ich glaube, dass Literatur eine Schule des Sehens, des Zuhörens, des Hinhörens und Fühlens sein kann – „Untenrum frei“ hat es mir mal wieder gezeigt, mich darin bestärkt. Genauso wie Stokowski glaube ich daran, dass es wichtig ist

hinter Sätze, die in Stein gemeißelt sind, ein Fragezeichen [zu] setzen.

Dieses Buch setzt ein paar fette Fragezeichen und fügt meist noch ein fettes Ausrufezeichen hinzu.

Zu “Wie wir lieben: Von Ende der Monogamie” von Friedemann Karig


  Hinter der romantischen Liebe, diesem oft beschworenen Phänomen, steckt eine schöne und wahrhafige Idee, jedoch ist diese Idee durchaus problematisch (wie sehr oft angemerkt wird) weil sie erstens: nicht realistisch sei und zweitens: verklärende Wirkung haben kann, unsinnige Erwartungen und Hoffnungen mit sich bringt, Illusionen fabriziert. Ob die Liebe nun einfach eine Sache von Chemie ist oder ob sie etwas mit den Seelen in unserem Innersten zu tun hat (und ob es letztendlich im konkreten Fall wichtig ist, was die Liebe nun bedingt oder nicht, wenn sie da ist) könnte wohl nur abschließend geklärt werden, wenn die Menschheit sich kollektiv von transzendenten Vorstellungen oder von wissenschaftlichen Analysen verabschieden würde. Das wird in absehbarer Zeit nicht geschehen, denke ich. Ob Liebe also ein Holzweg ist, kann nicht so einfach geklärt werden. Aber wie steht es mit der Monogamie, mit den klassischen Beziehungstypen?

Die Monogamie kurzerhand für tot zu erklären ist schlicht unsinnig und so vorschnell wie Nietzsches Gottesmord (wenn auch vielleicht ähnlich erfolgreich). Allein schon deshalb, weil nicht für alle Menschen Sexualität eine zentrale oder überragende Rolle in ihrem Dasein einnimmt und somit das Argument der sexuellen Unzufriedenheit nicht zwangsläufig immer und überall ziehen muss. Ich erwähne diesen offensichtlichen Fakt nur, um klarzumachen, dass auch ein so ambitioniertes und streckenweise innovatives Buch wie dieses, sich letztlich an eine Zielgruppe richtet und nicht an die Menschheit im Allgemeinen. Gern wird in solchen Büchern von “uns Menschen” geredet, vom Menschen “an sich”. Ja, alle Menschen haben einen Körper, aber davon abgesehen könnte man die gesamte Menschheit niemals, nicht einmal biologisch, unter einen Hut bringen. Man kann sich eine Vorstellung von der Menschheit und der Welt auf sein eigenes Maß zurechtschneiden und gerade wenn man über so umfassende Themen wie Liebe und Geschlechtlichkeit schreibt, ist der Schritt von den gut ausgesuchten Beispielen zu den Vielen und schließlich zu Allen nicht sehr weit. Aber man sollte im Hinterkopf behalten, dass Sexualität, obwohl sie viele Menschen verbindet, doch eine individuelle Angelegenheit ist – wofür dieses Buch ja auch in Teilen wirbt (um dann allerdings wiederum vieles auf die Belange des Körpers zu reduzieren.)

Aber auch wenn die Monogamie nicht totgeredet werden kann, ist es ebenfalls nicht mehr möglich, über die Tatsache hinwegzusehen, dass in Gesellschaften mit emanzipierter Sexualität  die üblichen Beziehungsformen und -ideen oft als zu eng empfunden werden und nicht mehr als erstrebenswert gelten – und es vielleicht auch nicht sind. Das Recht am eigenen Körper sprengte zuerst die Ketten und nun die Grenzen von exklusivorientierten Partner*innenschaften. Sexuelle Treue, ein möglicherweise erst mit dem Sesshaftwerden der menschlichen Spezies wichtig gewordenes Konzept (zur Sicherstellung der klaren Erbfolge), wird derzeit an vielen Ecken und Enden infrage gestellt (und gilt oft als verklemmt und als unsexy; man sollte nie vergessen, dass wir hier auch über Trends reden.) In vielen Fällen überfordern diese propagierten Möglichkeiten natürlich auch.

In einigen Fallgeschichten und mehreren theoretischen Ausführungen, kreist Friedemann Karig seine Vorstellungen zu Partnerschaft, Lust, Freiheit, Beziehung und Erfüllung ein. Wie bereits an anderen Stellen richtig angemerkt wurde, vertritt Karig dabei vor allem die Position des Körpers: seine Bedürfnisse, seine Determinationen. Was nicht bedeutet, dass er ignorant oder unversiert vorgeht und argumentiert. Aber es ist richtig, dass er einen Fokus hat und einige wichtige Aspekte übergeht. Er argumentiert in eine Richtung und das ist auch nicht wirklich verwunderlich, denn wir haben es hier mit einem Plädoyer, mit einer Streitschrift zu tun, einer bestimmten Idee , die propagiert wird, und nicht mit einer differenzierten Studie. Und wenn man das Buch als Ausformung und Unterfütterung einer bestimmten Meinung liest, dürfte es vielleicht leichter fallen, nicht über die Lücken den Kopf zu schütteln, sondern sich auf die interessanten Fakten zu konzentrieren und sich auch in einigen Beispielen wiederzufinden.

Eigentlich könnte ja alles ganz einfach sein: freie Liebe unter allen und dennoch Partner*innen, die gemeinsam wohnen oder Kinder haben und jeder gönnt jedem sein Vergnügen, sein Glück. Ähnlich vernünftig könnte man für den Weltfrieden argumentieren: zerstört alle Waffen, arbeitet alle zusammen, gemeinsam errichten wir eine perfekte Welt für alle. Nicht verkehrt und bitte auch anzustreben, aber derzeit ebenso utopisch wie die Idee der vollkommenen, romantischen Liebe. Der Mensch ist nun mal ein Wesen, in dem auch Unsicherheiten vorhanden sind und in dem Dunkles wirkt, sowie Ängste und Narben und allerlei andere Einschränkungen. Wenn wir uns immer so begegnen könnten, wie Karig es vorschlägt, dann wäre die Abschaffung der Monogamie nicht das einzige Hurra. Es ist selbstverständlich wichtig, zu solchen Utopien den Weg zu weisen, Türen zu Vorstellungen zu öffnen und das gelingt Karig hier und da ganz wunderbar und schlüssig. Aber so mancher Philosoph hat die Welt so beschrieben wie sie sein sollte, nicht wie sie war; kein Manko, aber auch kein himmelschreiender Verdienst.

Viele Menschen in ihren 20ern gieren geradezu nach sexuellen Erfahrungen. Das hat biologische Ursachen, ebenso gesellschaftliche und Teile davon haben auch mit der Sexualisierung unserer Wahrnehmung zu tun; die aber natürlich nicht möglich wäre, wenn es nicht Anlagen in uns gäbe, die daran ein Interesse haben. “Kapital ist die neue Religion und Sex ist ein wichtiger Götze”, wie John Updike einmal schrieb; inwieweit unser Erleben und unsere Vorstellungen von Sexualität durch Werbung und Pornopgraphie und andere Dinge korrumpiert sind, ist schwer auszumachen. Auch wenn das nicht seine Absicht ist, schlägt Karig durchaus mit in diese Kerbe, wenn er die sexuelle Befreiung als körperliche Befreiung propagiert; optimiert euch!, so klingt der Ruf dann und wann. Oder: orientiert euch an den Wurzeln!, ein ebenso problematischer Schlachtruf. Mir ist klar, dass es ihm um ein Ideal geht; aber er trägt darin die problematischen Zeitgeisterscheinungen trotzdem mit.

Im Alter spielt für viele Menschen nachweislich Sicherheit und Verlässlichkeit und Gemeinschaft eine größere Rolle als sexuelle Abwechslung. Bei manchen früher, bei anderen später, bei manchen nie. Wie wir lieben: so wie wir glauben lieben zu müssen, wie wir gelernt haben zu lieben, wie wir lieben können? Dazwischen zu unterscheiden fällt schwer. Und das ist ja auch nur der derzeitige Stand. Inwieweit die Menschheit sich trotz Determination und Kulturpessimismus noch entwickeln kann, ist unklar, wir wissen nur, dass wir vermutlich nicht in der besten aller Welt leben. Aber wohin geht die Entwicklung? Friedemann Karig glaubt, einen Weg gefunden zu haben, der einen Hauch von Paradies verspricht.

Auf eine gewisse Art und Weise transportiert dieses Buch eine sehr romantisierte Vorstellung von heutigen Möglichkeiten in der Welt der Beziehungsmodelle. Aber es weist wichtige Alternativen aus, es zeigt Potentiale, es engagiert sich für einen offeneren Umgang mit dem Thema und zumindest letzteres ist ungemein wichtig und sei dem Buch hiermit hoch angerechnet. Denn auch wenn in diesem Buch nicht steht, wie alle lieben, müssen wir alle uns doch mehr darüber austauschen, wie wir lieben wollen, was das überhaupt heißt, wie es für den Einzelnen gehen kann. Zu diesem Dialog liefert das Buch einen teilweise provozierenden, teilweise fundierten, teilweise inspirierenden Beitrag.

Zu Ali Smiths Erzählung “Girl meets Boy”


“Ich hatte – bevor es uns gab – noch nicht gewusst, das ich mit jeder Faser meines Leibes Licht mit mir führen konnte, so wie ein Fluss, den man von einem Zug aus sieht, ein Fluss, der einen Streifen Himmel in die Landschaft schneidet. Bisher hatte ich nicht gewusst, dass ich so viel mehr sein konnte als nur ich. Hatte nicht gewusst, dass ein anderer Körper dies bei meinem auslösen kann.”

Iphis, die Tochter des Ligdus, eine der schönsten Gestalten aus dem Metamorphosen-Zyklus des Ovid: Geboren als Frau, sollte sie eigentlich nach der Geburt getötet werden. Um sie zu retten, zieht ihre Mutter sie als Junge auf. Dann verliebt sie/er sich in eine Frau …

Doch da die Geschichte in einem Kapitel von Ali Smiths Buch eh noch einmal nacherzählt wird, lasse ich offen wie es weitergeht. “Girl meets boy” geht sowieso einen etwas anderen Weg: Es ist die Geschichte zweier Schwestern, die zu Anfang unterschiedlicher nicht sein könnten.
Anthea, die jüngere, lässt sich eher treiben, weiß nicht was sie wirklich machen soll, während die ältere, Midge, voll im Karriereleben aufgehen will. Beide leben sie im alten Haus ihrer Großeltern in Schottland und gerade hat Midge Anthea einen Job besorgt bei der Firma, in der auch sie gerade arbeitet. Gleich am ersten Tag wird das Gebäude des Unternehmens von einem Sprayer verunstaltet. Anthea sieht zu wie er herunterklettert, sie wendet sich um, und:

“Mein Kopf, in dem geschah irgendetwas. Es war, als erhebe sich ein Sturm auf hoher See, aber nur für einen Moment und nur in meinem Kopf.”

Die ganze Rahmenhandlung ist eher Kulisse, gute gemachte Kulisse, in der vieles, was von Interesse ist, aufgegriffen wird. Trotzdem liegt ein wichtiger Schwerpunkt der 5. Kapitel “Ich”, “Du”, “Wir”, “Die”, “Und jetzt alle zusammen” auf dem Innenleben und der Wahrnehmung der beiden Schwestern; im Blick unter ihre Haut.

Diese Erzählperspektive ist es, die das Buch, neben seiner Thematisierung von klischeehafter Sexualität, so wertvoll macht. Obwohl solche Dinge wie Liebe und Ideal sehr schön scheinend und eher unreflektiert dargestellt werden, obwohl die Rahmenhandlung in ihren Ausläufern etwas dürftig scheint – die Art wie Ali Smith erzählt, lässt Seite für Seite des schmalen Buches vergehen. Die Art wie sie Gespräche darstellt und Gedankengänge: vorzüglich. Ihr Humor: locker und nie überstrapaziert eingesetzt.

“und ich überlegte, ob alles, was ich sah, ob vielleichte jede Landschaft, die wir mit einem flüchtigen Blick bedachten, das Produkt einer Ekstase war, derer wir uns nicht einmal gewahr waren, das Produkt eines Liebesaktes, der sich so langsam und stetig vollzog, dass wir es fälschlicherweise für Alltagswirklichkeit hielten.”

“Girl meets Boy” ist ein schönes, kurzes Werk. Die Mythen-Reihe, in der es erschienen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Mythen der Menschheit von aktuellen Autoren nacherzählen zu lassen. Ali Smith ist vielleicht nicht die Nacherzählung des Ipis Mythos gelungen; aber dieser hat sie zu einer Erzählung inspiriert, die wichtiger kaum sein könnte.

Philip Roths Debüt: “Portnoys Beschwerden”


Portnoy’s Complaint – so heißt dieser Roman, mit dem Philip Roth 1969 zum Bestseller (und zum anerkannten großen Romancier) wurde, in der Originalausgabe. Allerdings passt die deutsche Übersetzung perfekt, denn sowohl in Englisch, als auch auf Deutsch, ist das Attributwort Complaint/Beschwerde mehrdeutig. Es kann Beschwerde im Sinne von Klage bedeuten, aber auch Beschwerde im Sinne von Krankheit oder Leiden.

Alexander Portnoy, wie Roth aufgewachsen in Newark im jüdischen Viertel, ist ein 33jähriger Neurotiker voller Selbstzweifel und Seelenballast – und er ist der festen Überzeugung, dass man ihn bloß dazu gemacht hat. Seine überfürsorglichen Eltern sind Schuld, die ihm das Leben von vorneherein als extrasaubere Sache prophezeit haben, dass er dann mit dem Erwachen seiner Sexualität aber von einer ganz anderen Seite kennenlernen musste, die sich nicht vereinbaren ließ mit der kleinen Gefügigkeit seiner Erziehung und Kindheit. Seine moralische Integrität und Selbstbefindlichkeit schwinden in dem Zwist aus Anerzogenem und Triebhaften, sein Gewissen und sein Geschlecht stehen im dauerhaften Wettstreit. Das ist der Sprengstoff – seines Charakters, und letztendlich des ganzen Buches: fragile sexuelle Realität kontra ebenso fragiler, anerzogener jüdischer Mentalität, zusammengeführt zu einer ständigen Zerreisprobe, gespannt noch durch die menschlich bedingte Sehnsucht. Elterliche Erwartungen und Sex werden zum Sinnbild zweier verschiedener, doch gleichsam in ihrer Problematik schon fast wieder ähnlicher, unvereinbarer Welten, ohne Möglichkeit der Erfüllung oder Verbindung.

Der Aufbau des Buches ist etwas aberwitzig und wirkt zu Anfang etwas unstrukturiert – und doch: es ist sehr gut zu lesen (nicht so perfekt, wie im Vergleich zu anderen Roth-Romanen, aber doch sehr flüssig). Das liegt wohl vor allem an der gut getimten Abstimmung zwischen dem Erzählflusses und den Abschweifungen und Reflexion und dem sich langsam übergreifend aufbauenden Bildes der Romanfigur, die einen mal mit ihren aggressiven Beichten verschreckt und einem dann wieder mit den Momenten durchblitzender Menschlichkeit und Sehnucht näherkommt. Klug werden dem Leser mal die zentralen Problematiken der Figur in Form von Anklagen und Analysen aufgedrängt, dann entdeckt er sie wieder selbst in den einfachen Schilderungen aus seinem Leben – so gesehen ein Meisterwerk der Symbiose zweier erzählerischer Bestrebungen.

Viele mögen das rasante Buch, dass weniger von einem Roman, denn von einem Monolog hat (oder zumindest eine Synthese aus beidem ist), als bloße Satire oder als Analyse lesen (und man kann es auch, gut und problemlos, so lesen). Aber für mich ist es vielmehr eine der besten Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem sexuellen Konfliktpotential, die weit über die bloße Essayistik vieler Betrachtungen hinausgeht und weit über den bloßen Präzedenzfall des Protagonisten. Portnoy ist ein suchender, der die Glorie im Hang des Menschen zur sexuellen Überhöhung sieht. Doch immer wieder, eigentlich ständig, zeigen sich Risse in diesem Glauben, von denen er weiß, dass sie die Bestätigung eines tieferen Unglücks sind – ein Unglück, das ihm gleichzeitig Angst wegen seiner scheinbar nur scheinbaren und doch immer stärkeren Unausweichlichkeit macht. Letztlich zweifeln seine tiefsten Gewissheiten nicht an der Sexualität an sich, aber an ihrem abgeleiteten, beschworenen Symbolplatz in den Beziehungen zwischen Menschen. Denn Sexualität, dass kann man aus diesem Buch lernen, ist kein Verbindungsaufbau – kann es nicht sein – sondern nur die Verbindung selbst, die möglicherweise etwas mit aufzubauen weiß.

Portnoys Beschwerden ist ein Schlüsselroman – und gerade deshalb kein Allerweltsbuch, es wird immer etwas schwierig sein, aber auch immer brandaktuell, längerfristig von Bedeutung. Vielleicht ist es nicht das beste Buch, das je über Sex geschrieben wurde. Aber es ist zumindest das beste, das auf solch erheiternd-vielschichtige Weise darüber geschrieben wurde; das Buch, welches haarklein mit dem spielt, wofür Sex oft gehalten wird. Mit einem Urteil aufräumen will das Buch dabei allerdings nicht, auch nicht sich eins erlauben. Aber es will die Urteile reflektieren. Und das gelingt, wenn der Leser es will, sehr gut.

Link zum Buch

*Diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen

Ein bisschen was zu Philip Roths “Das sterbende Tier”


“Nein, man kann es nicht verstehen. Solange man selbst nicht alt ist, versteht man nur, dass die Zeit den Alten ihren Stempel aufgedrückt hat. Doch wenn das alles ist, was man versteht, fixiert man sie in der Zeit, und das bedeutet, dass man eigentlich überhaupt nichts versteht. Alt zu sein bedeutet für alle, die noch nicht alt sind, dass man -gewesen- ist. Aber wenn sie alt sind, bedeutet es, dass sie trotz Ihrer Gewesenheit, zusätzlich zu ihrer Gewesenheit, über ihre Gewesenheit hinaus noch immer sind. Ihre Gewesenheit ist sehr lebendig.”

Ich las Philip Roth, weil er zum Kanon der modernen Literatur gehört. Ich machte mir keinen Kopf darum, dass es vielleicht noch etwas zu früh für mich sein könnte, ihn zu lesen; doch während des Lesens wurde mir klar, dass hier eine -andere- (möglicherweise nur für Eingeweihte erschließbare) Erfahrung zu mir sprach. Jeder Leser nehme daher zur Kenntnis, dass ich zum Zeitpunkt der Rezension noch keine 20 Jahre alt war. Ich möchte ein Buch gerne durch und durch verstehen und vielleicht kann mir das bei Roth in meinem Alter noch nicht gelingen. Deswegen schreibe ich das hier vorne weg.

“Stellen sie sich das Alter so vor: Es ist eine alltägliche Tatsache, dass ihr Leben auf dem Spiel steht. […] Davon abgesehen ist man unsterblich solange man lebt.”

Das sterbende Tier ist trotz seiner Schmalheit ziemlich vielschichtig: Die Grundgeschichte bildet die Obsession eines gealterten Mannes für eine jüngere Frau, eine seiner Studentinnen – aber damit allein gibt sich Roth noch nicht als Inhalt zufrieden. Denn, in diese Geschichte eingebettet, gibt er uns zusätzlich noch eine kleine Geschichtsstunde in amerikanischer Sexualethik und erzählt uns von einer damit verwobenen Familientragödie.

Der Protagonist sah und sieht die Ehe (uns so schätzt er auch alle anderen Männer ein) als Beraubung der Freiheit, da sie auch zwangsläufig irgendwann den Sex tötet. Und Sex ist für ihn alles, – “denn nur beim Vögeln übt man an allem, was einem verhasst ist und was einen zu Boden drückt, eine reine, wenn auch nur momentane Vergeltung. Nur dann ist man voll und ganz lebendig, voll und ganz man selbst. Die Unsittlichkeit ist nicht im Sex, sondern in allem anderen.” Deswegen verlässt er seine Frau und den kleinen Sohn frühzeitig, weil er das Zentrum seiner Existenz bedroht sieht.

Doch wie weit geht die Freiheit und wie macht man aus einer sexuellen Freiheit ein System, das funktioniert? Und was ist, wenn man sich plötzlich nach Sicherheit sehnt, weil die eigene Freiheit plötzlich mit der der anderen konfrontiert wird, die ja auch genau so frei sind? Und, letztendlich – was ist mit der Liebe. Denn in der Liebe ist Sexualität noch einmal etwas ganz anderes, oder nicht?

Was mich an Roth beeindruckt hat, ist seine Sprache (in einer Übersetzung, klar, aber man kann immer noch seine unglaubliche saubere Stilführung und Erzählweise spüren, wie sie mir auch oft bei ihm vorgeschwärmt wurde), seine durch und durch klare Prosa und zweitens die unglaubliche Verschleierung der Distanz zischen Protagonist und Autor, das Erreichen eines mitteilsamen Grundtons, der authentisch wirkt, wie eine gänzlich in einem Menschen manifestierte Meinung. Ich weiß nicht, ob Roth hier durch David Kepesh, den Protagonisten, spricht, ob es seine Ansichten sind, oder ein gerissener Schachzug, um so eine noch eindringlichere Wirkung zu entfalten. Wahrscheinlich ist es keins von beidem und Roth ist tatsächlich einer dieser Autoren, die einfach Geschichten schreiben, die so durch und durch erlesen sind, dass sie nicht auf einen Nenner zu bringen sind und ewig zwischen zwei Buchdeckeln ihre Möglichkeiten ausloten. Dennoch ist gerade bei diesem Werk wieder einmal sehr interessant, wie versiert Roth es versteht, aus Ansichten die Realität der Gesellschaft zu formen – und uns somit einen unsanften Spiegel vorzuhalten…

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*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen