Tag Archives: Solidarität

Notiz zum Gedenktag des Widerstandes gegen das Dritte Reich, 20. Juli


Heute vor 75 Jahren verübten einige Personen um Claus Schenk Graf von Stauffenberg ein Attentat auf Adolf Hitler. Am 20. Juli wird allgemein des Widerstandes gegen das Nazi-Regime gedacht.

Mir fällt jedes Jahr das Zitat des evangelischen Theologen Martin Niemöller ein. Ein Eingeständnis seines eigenen Versagens einerseits, aber auch eine ganz wichtige Botschaft:

Widerstand gegen ein Regime, eine willkürliche oder bedrohliche Autorität, gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und/oder Diskriminierung sollte nicht erst dann beginnen, wenn man selbst oder die Angehörigen der eigenen “Gruppe” betroffen sind, sondern in dem Moment, wo man von Ungerechtigkeiten erfährt, Kenntnis hat – im Rahmen der eigenen Möglichkeiten.

Zu glauben, dass man nie zum Kreise derer gehören wird, die betroffen/bedroht sind, ist nicht nur ignorant, sondern auch gefährlich. Denn was einem Menschen angetan wird, kann im nächsten Moment auch einem anderen angetan werden.

 

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Zu George Orwells zweitem Band mit Essays: “Rache ist sauer”


rache-ist-sauer_orwell In kaum einem Werk ist mir ein solches Maß an Scharfsinn, Gewissenhaftigkeit und Menschlichkeit begegnet, wie in den essayistischen Schriften und Berichten von George Orwell. Für mich persönlich ist es nicht übertrieben, bei der Beschreibung dieser 70 Jahre alten Texte von Aktualität, entlarvender Meisterschaft und moralischer Größe zu sprechen – ganz ohne Ironie oder den Wunsch, die Texte durch diese Bezeichnungen bedeutender zu machen, als sie sind.

Was Orwell vor allem eine Sonderstellung gibt, ist sein kompromissloses (jedoch nicht: radikalisiertes) Engagement, die Aufmerksamkeit, die er den Leidtragenden der industrialisierten und ideologisierten Gesellschaft zukommen lässt: den Soldaten an der Front, den Arbeitern in den Fabriken und den armen und von der Gesellschaft vergessenen Schichten der Bevölkerung. Dies alles in Kombination mit einem Intellekt, der größere Zusammenhänge erfassen und darstellen kann, wie sie selten auf den Punkt gebracht werden. Ihm gelingt es einfachste und nahezu nicht zu widerlegende Aussagen zu formulieren, zum Beispiel über den Krieg und die öffentliche Meinung:

“Was die breite Masse der Bevölkerung betrifft, so rühren die erstaunlichen Meinungsumschwünge der heutigen Zeit und die Gefühle, die sich auf- und abdrehen lassen wie ein Wasserhahn, von der Suggestivkraft der Zeitungen und Radios her. Bei den Intellektuellen, würde ich sagen, hat das mehr mit Geld und der Sorge um die persönliche Sicherheit zu tun. Je nach Lage der Dinge werden sie in einem gegebenen Augenblick ‘für den Krieg’ oder ‘gegen den Krieg’ sein, aber in beiden Fällen fehlt ihnen völlig die reale Vorstellung, was der Krieg ist.”

Seine Kritik an den Medien und den oberen Klassen ist sicher nicht allein auf weiter Flur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts – aber nirgendwo habe ich so präzise formuliert gefunden, nirgendwo wird so schnell ersichtlich, ohne Umwege über die Abstrktion, wo der Hund vieler Problematiken begraben liegt: direkt vor unserer Nase, im Aufbau der Gesellschaft, die vor allem auf Unterdrückung und Kontrolle basiert und auf eine immer größeren Ausbeutung und Spaltung hinausläuft. Privilegien waren schon immer alles.

“Was mich am meisten bedrückt, wenn ich an die Antike denke, ist der Umstand, dass diese Hunderte von Millionen von Sklaven, auf deren Rücken ganze Zivilisationen generationenlang beruhten, nichts über sich hinterlassen haben. Wir kennen nicht einmal ihre Namen.”

Nietzsches Wahn von den wenigen Übermenschen, denen alle anderen dienen: längst hat die Geschichte seine Forderung in gewissem Maße eingelöst und wird sie weiter einlösen. Dabei geht es nicht einmal um Namen, sondern vielmehr darum, dass wir ausblenden, unter welchen Bedingungen Menschen leben mussten, während sich „große Geschichte“ ereignete und immer noch leben, während wir den Lebensstandard genießen, den ihre Arbeit gewährleistet.

Die Menschlichkeit: selbst für die meisten aufgeklärten Menschen endet sie am Rand der humanistischen Disziplinen, Schriften und Wissenschaften. Für Orwell endet sie dort nicht. Er weiß, dass ihr wahres Schlachtfeld ein oft nicht wahrgenommenes ist; ein Feld der Ausbeutung, von dem niemand sprechen mag.

Während der zweite Weltkrieg, vordergründig ein Krieg der Ideologien, tobt, schreibt Orwell:

“Den Lebensstandard der gesamten Welt auf das Niveau des englischen zu bringen, wäre kein größeres Unternehmen als der Krieg, den wir gegenwärtig führen. Ich behaupte nicht, und mir ist nicht bekannt, dass sonst jemand es tut, dass damit alles an sich bereits gelöst wäre. Es geht mir nur darum, dass Entbehrung und Knochenarbeit abgeschafft sein müssen, ehe man an die eigentlich menschlichen Probleme herangehen kann.”

Heute gibt es noch weitere Probleme, vom Klimawandel über Epidemien bis zum Atommüll, denen wir uns stellen sollten, anstatt Kriege und Scheinkriege auszufechten.
Es ist, dessen bin ich mir bewusst, eine sehr einfache Position, die Orwell bezieht. Aber obwohl sie einfach ist, macht sie mehr her, als ein Großteil des ganzen Geschnatters, Gezeters und Gebrülls unserer heutigen Debattenkultur, wo einer den anderen moralisch korrigiert und bezichtigt, ohne dass man einfach mal ehrlich von den grundsätzlichen Problemen unserer  Systeme redet. Orwell legt den Finger auf das Wesentliche, was heute viel zu selten getan wird.

Was ich an Orwell auch sehr schätze: dass durch die Schlichtheit und die nie auftretende Selbstüberschätzung in seinem Stil, keine moralisierende Atmosphäre oder Haltung aufkommt. Sein Impetus ist die Wahrheit und dass man sie gerecht betrachte. Selbst wenn er zu so einem schwierigen Thema wie Rache schreibt, bleibt er bei seiner analytischen Verfahrensweise und zeigt, dass es eigentlich ein nicht so schwieriges Thema ist:

“Strenggenommen gibt es so etwas wie Vergeltung oder Rache gar nicht. Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.”

Orwell hat hier meiner Ansicht nach zwar nicht bedacht, dass das Gefühl des Unvermögens durchaus bleiben kann, auch wenn andere Umstände eintreten. Aber unsere Generation, die den Plots von dutzenden Rachefilmen aus Hollywood kennt und denen die Wichtigkeit dieses Gefühls mit der Popkultur eingeimpft wurde, täte gut daran, sich einmal anhand von George Orwells Definition die eigenen Gefühle anzuschauen, um zu begreifen, dass Rache meist nur ein selbstgewählte, erniedrigte Position einem anderen Menschen gegenüber ist, die man auch schlicht überwinden kann.

Vieles, was George Orwell in diesem Band schreibt, ließe sich zusammenfassen mit einem Satz von ihm selbst:

“Die Tatsache, dass man eine derart banale Banalität niederschreiben muss, zeigt, was die Jahre des Rentier-Kapitalismus aus uns gemacht haben.”

Da kann ich nur noch meine Unterschrift druntersetzen. Ich will nicht den Antikapitalisten spielen, will Orwell nicht unter diesem Label abgestempelt, eingeordnet und vergessen wissen. Aber diese schlichte Aussage nagelt fest, was an vielen Stellen im Argen liegt, noch heute.

Es sei zuletzt noch erwähnt, dass es in diesem Band nicht nur um Politik & Gesellschaft geht – auch zu Shakespeare, Krimis und Avantgarde hat Orwell einige interessante Dinge zu sagen.

Orwell-Essays lesen, das heißt, eine gewisse Mündigkeit hochhalten und lernen. Ich bin froh, dass ich diese Erfahrung machen durfte; sie war heilsam und zugleich schmerzlich und ich werde noch öfters auf sie zurückkommen.

Je suis Charlie


09.01.2015

Blut klebt an unseren Händen, in unseren Haaren, streicht dünn
Ränder um unseren Mund. Wie tauchten in, wir umkreisten uns
für so wenig Blut, ein paar Herzspritzer, in der Ferne schmerzt
eine Wunde ohne uns; noch zu wenig Kraft
uns mit zu zerfetzen
hat der freilaufende Tod.

Wir haben einen freilaufenden Tod.

Gestern war er in Paris,
aber ich war nicht dort.
Ist das jetzt die Scham des Überlebenden, die Trauer
oder die Wut?

Wird man sich in ein paar Jahren noch an diesen Tag erinnern
oder wird es dieser Tragödie gehen wie den Tragödien
der alten Griechen, den Opfern vergessener
Völkermorde, den vergewaltigen Frauen, die sich nicht wehren konnten, können,
was schon immer der wichtigste Grund dafür war, übrigens,
jemand anderem NICHTS anzutun;

(ohnehin, wenn wir weiter von
„der Menschheit“ sprechen wollen.)

Jeder geht mit dem Schicksal, das die Welt gerad bewegt,
anders um.
Wir können nicht alle trauern,
mit einer Faust in der Brust
und einem Boxsack in den Augen.
Wir sind nicht alle voller Leid, wenn auch unser Vertrauen
von Neuem in die Zerstörung fiel und wir
es eine Weile nicht mehr finden werden.

Doch was da Trauer in uns ist, das will uns sehen lassen,
wo wir sonst blind sind: Justitia in uns
hört auf die Waagschalen zu halten und fast sich
mit der uralten Geste jedes Menschen auf der Erde
an den Kopf und bedeckt danach die Augen.
Wut zittert wie Espenlaub, das auf dem kalten See treibt, im Wind.
Die Frequenz der Liebe wandert schuldig durch die Brust,
umher.
Wir sahen schon so vieles, aber dies sehen wir nun.

Ohnmacht und gleich im Anschluss unverheilte
Versuche von Rührung und Solidarität
umgeben uns, durchdringen die Anmut, die wir sein woll‘n,
die uns aber unmöglich halten kann
in dieser Flut, die man das Leben nennt
und auch die Freiheit der anderen. Die Freiheit, mit der
niemand mithalten kann,
nicht du, nicht das Gesetz, keine Kapazität.

Die Verbindung zwischen dem Punkt im Kopf, mit dem wir leben
und dem Gefühl allein zu sein.
Wir füllen diese Verbindung mit Glauben, mit Zynismus,
mit Lethargie und Illusionen,
mit jedem Hang, den wir noch spüren können,
dann und wann mit Liebe, Hoffnung,
ein Leben lang geht es
nur so.

Jetzt im Moment spür ich nur die Verbundenheit,
wenn ich „Je suis Charlie“ lese;
die Tränen, mit denen ich kämpfe, das sind
Tränen die ich vergießen will,
weil ich weiß, dass jeder Leben möchte
und die ich nicht vergießen kann, weil ich nicht weiß
und nicht verstehe,
warum irgendjemand töten will.

(Achtung: dieses Gedicht will keine umfangreiche, allgemeine Bewertung der Ereignisse sein; das oft gewählte “wir” soll keine besitzergreifende Tendenz oder Deutungshoheit implizieren; dieses Gedicht ist eine Auseinandersetzung und will auf gar keinen Fall ein tragisches Ereignis selbstbezogen stilisieren; dennoch kann es hier und da so wirken, als würde einer dieser drei möglichen Vorwürfe zutreffen. Wichtig ist mir, dass man diesen Text als ein Gedicht und keine Wortmeldung im eigentlichen Sinne begreift. Nichts darin verlangt nach Zustimmung, auch wenn, wie bei jedem Gedicht, der Versuch gemacht wird, diese Zustimmung, die Berührung mit dem Leser, möglich zu machen; sie ist erhofft und erwünscht, aber wird nicht verlangt, denn ein Gedicht kann und darf nichts verlangen.)

Über einen kleinen Meister der Sprache und des Humanismus: Alfred Polgar und den 1. Band seiner Werkausgabe: Musterung


“Was ist Erkenntnis? Doch zumeist nur der Trugschluss, dem man’s nicht anmerkt. Wahrheit? Der Irrtum, auf den noch keiner gekommen ist. Und welcher Beweis gilt? Jener, der schlauer geführt wird, als sein Gegenbeweis.”
Polgars viel zitiertes, amüsiertes Glaubensbekenntnis.

“Ich glaube an das Gute im Menschen, rate aber, sich auf das Schlechte in ihm zu verlassen.”

“Sonderbar, dass die kleinen Nuancen des Lebens so viel Feindseligkeit unter den Menschen bewirken – und das allen gleiche “Sterben-Müssen” so wenig Solidarität.”

Es gibt wenige Schriftsteller, die es in der kleinen, kurzen Textform zu Ruhm brachten und bringen. Augusto Monterrosso fällt ein, überhaupt die spanischen Minimalisten. Im deutschen ist ein Triumvirat, deren Mitglieder alle etwa zur selben Zeit lebten und wirkten: Robert Walser mit seinen poetischen Nuancierungen, Träumereien und Spielen (siehe: Der Spaziergang), Franz Kafka mit seiner alles erschließenden und alles verklitternden Optik, und als ungekrönter Caesar: der Autor, Essayist und Aphoristiker Alfred Polgar.

Genremäßig gehört Polgar allerdings eher zu einer anderen Riege – zu den berühmtes Caféhausliteraten und Feuilletonisten, die sich in den 20er und 30er Jahren in der Weimarer Republik und Österreich hauptsächlich als Freelancer für Zeitungen und Zeitschriften, mit Theaterkritik, sowie dem Kabarett verdingten. Viel von dem, was hier in diesem ersten Band seiner Werkauswahl enthalten ist, hat die Länge eines Zeitungsartikels, vieles davon wurde auch in diesem Medium zuerst veröffentlicht.

Was die Art angeht, habe ich lange überlegt, mit wem Polgar zu vergleichen wäre. Er ist Oscar Wilde nicht unähnlich, allerdings nur, wenn es um seine Beobachtungsgabe und die Genialität und Knappheit seiner Bonmonts und Beobachtungen geht; anders als Wilde war er ein gemäßigter Dandy, lange nicht so monströs und geltungssüchtig, beflissener, wiederum aber wie Wilde von einer festen Größe, nur ohne die großen Gipfel und Abgründe. Scharfsinn und Zweifel sind immer Polgars vorrangige Waffen; mit ihnen geht er die unterschiedlichsten Themen an.

Dieser erste Band Musterung enthält hauptsächlich engagierte Essays/Prosa; im ersten Teil vor allem pazifistische und antifaschistische Glossen, Satiren, Berichte und Betrachtungen, im zweiten Teil allgemeine Zeitspiegel, wie etwas Strafprozesse, Wiener Lebensart, Anekdoten & politische Vorkommnisse. Wer sich an schöner, geschliffener Sprache erfreuen kann und subtilen Witz und Esprit schätzt wird hier immer wieder auf seine Kosten kommen und eine, vor allem stets sehr anregende, Kurzlektüre finden – wer allerdings mehr auf kleine Geschichten, denn auf Zeitgeschehen und Feuilleton setzt, sollte den Band 2: Kreislauf wählen. Irrlicht: BD 3 enthält Literaturkritiken und Szenen aus dem literarischen Leben.

Wer einen kleineren, beschaulicheren Überblick über Polgars Art und Ceuvre erhalten will, kann auch mit diesem schmalen Band beginnen: Im Lauf der Zeit

Es gibt ein Faustfragment von Lessing, in dem der Geist dem Faust auf die Frage: “Was ist das schnellste auf Erden?” die Antwort erteilt: “Der Übergang vom Guten zum Bösen.”

Um diesen schnellen Übergang weiß und gegen ihn kämpf Polgar mit aller aufgeboten Menschlichkeit und Bissigkeit. In seinem Engagement steht er dem etwas rauerem Tucholsky und auch Karl Kraus nah, auch Erich Kästner und seine weimarer Lyrik bieten sich als Vergleich an; Polgar stemmte sich gegen Gewalt, Willkür und falsche Objektivität, sowie überschüssige Subjektivität. Errare humanum est – jeder unterliegt dieser Bedingtheit und Alfred Polgar wieß die Menschen nur zu gerne süffisant auf ihre Fehler hin, ohne dabei das Augenzwinkern zu vergessen und dem großen Ideal seines lateinischen Credos mit der Besonnenheit eines Mark Aurel zu folgen, der in seinen Selbstbetrachtungen schrieb: “Die Menschen sind füreinander geboren, also belehre oder ertrage sie.”