“Die ersten Straßenbahnen nahmen ihre Fahrt durch die Stadt auf, ihr Gebimmel drang gedämpft durch die geschlossenen Fenster zu mir, wie damals im Sommer, als ich sieben war und zum letzten Mal zu Besuch bei den Großeltern. Eindrücke stellten sich ein, zwar schemenhaft, doch so lebendig, als brächte sie der Duft von einer frisch gepflückten Frucht. Eindrücke aus dem Barcelona meiner Erinnerung.”
Carmen Laforet gehört sicherlich zu den weniger spektakulären Autoren des 20. Jahrhunderts, in Spanien allerdings ist sie bis heute eine der wichtigsten Erzählerinnen in und nach der Franco-Diktatur. Nada, geschrieben im Alter von 19 Jahren, ist ihr Debütroman und erschien 1944, am Ende des zweiten Weltkriegs. In ihm hat sie, sagen manche, die drückende Atmosphäre des spanischen Lebens unter Franco beschrieben, andere wiederum schreiben dem Roman alleinige autobiographische Intentionen zu.
Aber, wie der Titel schon sagt, das ist Nada, “Nichts”, das sind Schemata, wie sie jeder Roman alleine schon für einen Klappentext oder einen kritischen Ansatz, über sich ergehen lassen muss. Romanleser wissen dagegen, dass man keinen (guten) Roman letztendlich festlegen kann, auf keine einzelne Thematik und kein theoretisches Resümee. Ein guter Roman ist ein vielschichtiger Roman, der auf jeder neuen Seite Einblicke bietet und seine Geschichte nie einseitig werden lässt (Ausnahmen bestätigen die Regel) – was wären all die großen Romane, wenn man aus Ihnen nur ziehen könnte, was man auch allgemein über sie sagen kann.
Gerade wenn wir etwas nicht definieren können, bemerkte Borges klug, wissen wir sehr viel darüber, weil wir dann die Facetten bemerken und mit der Zeit bei der Lektüre etwas entstehen kann, ein Verhältnis zwischen Leser und Buch, das größer ist, als alle seine plastischen Elemente. Und wegen dieser Momente, wegen der kleinen sprachlichen Verblüffungen und Einzigartigkeiten, wegen der einzelnen, tiefgreifenden Szenen und eben dem Gemälde, dass sich geradezu unnachgiebig und ungreifbar in den Stimmungen ergibt, sollte man Romane lesen, die großen Romane der Weltliteratur.
Nada ist ein Roman, der dazugezählt werden kann. Es passiert nicht viel darin, eigentlich passiert sogar fast schon extrem wenig darin, oder doch zumindest wenig, was das Anfangssetting noch sprengt, das nach 40 Seiten bereits aufgebaut ist.
Im Zentrum des Buches steht das Mädchen Andrea und eine Wohnung in der Calle de Aribau, die Andreas Großmutter einst kaufte, als diese noch mitsamt der Straße in den Randbezirken von Barcelona lag und die jetzt, 50 Jahre danach, mittendrin in der Stadt liegt. Andrea, 18 Jahre alt, kommt aus den ländlichen Gegenden Nordspaniens in die Stadt, um in Barcelona Literatur zu studieren.
Als sie 7 war ist sie zuletzt dort und alles hat sich sehr verändert. Die Großmutter ist senil geworden, die Wohnung quillt über von alten Möbeln im muffigem Stadium des Verschleißes und die beiden schwierigen Onkel von Andrea, Román und Juan, leben wieder bei ihrer Mutter: Juan zusammen mit seiner scheinbar lasterhaften Frau und Román in einer Mansarde über der Wohnung.
Die beiden sind sich spinnefeind – warum, das ist ein ewiges, unverständliches Geheimnis.
Einer der Kernsätze des Buches (“Zum ersten Mal überkam mich das dunkle Gefühl, das Interesse und Wertschätzung für jemanden nicht immer zusammengehören”) gibt ganz gut vor in welchen Welten die Konflikte der Familie und auch der anderen Figuren angesiedelt sind: In der Welt zwischen versuchter Zuneigung und der Faszination, der menschlichen Schwäche für das Andere, das Dunkle, Aufregende..
Andrea, die mit Hoffnungen auf Freiheit, Liebe, Selbstbestimmung und Glück nach Barcelona aufgebrochen war, bemerkt schnell, dass es in einem solchen Umfeld in ihrer Zeit in der Calle de Aribau nicht darum gehen wird, endlich über das Leben und ihr eigenes Mauerblümchenwesen zu triumphieren – nein, sie muss diese Zeit, die für sie auch wegen ihres Eintritts ins Erwachsenenalter eine eh schon schwierige und ambivalente ist, einfach nur überstehen – es gelten die Zeilen, die eines der bekanntesten Rilke-Gedichte beenden: “Wer spricht von Siegen/ Übersteh’n ist alles.”
“Oft muss ich an die Nächte in der Calle de Aribau denken zurückdenken. Diese Nächte, die wie ein schwarzer Fluss unter den Brücken der Tage vorüber zogen und faulen, gespenstischen Dunst verströmten.
Ich erinnere mich an die ersten Herbstnächte, die ersten Vorboten der Unrast, die sie entfachten. An die Winternächte mit ihrer klammen Schwermut: das Ächzen eines Stuhls, das mich aus dem Schlaf aufschreckte, und der Schauer, wenn sich zwei leuchtende Augen – die der Katze – in meine bohrten. In diesen eisigen Stunden gab es Augenblicke, in denen das Leben seine Scham abgelegte und ganz nackt vor mir stand, um sich eine Herzensqual von der Seele zu schreien, die für mich nur entsetzlich war. Eine Qual, die der Morgen schnell wegwischte, als hätte sie nie existiert. Dann kamen die Sommernächte. Laue, behäbige Mittelmeernächte über Barcelona, schwer vom goldenen Saft des Mondes und dem feuchten Duft der Meerjungfrauen, die sich ihre Wasserhaare über den weißen Rücken und dem goldenen Schuppenschwanz kämmten. In manchen warmen Nächten steigerte der Hunger, die Traurigkeit und die Energie der Jugend die Ohnmacht meiner Gefühle bis hin zu einem körperlichen Bedürfnis nach Zärtlichkeit, wie es gierig und staubig die ausgedörrte Erde fühlt, die ein Gewitter nahen spürt.”
Auf dem Buchrücken steht, dass das Buch existenzialistisch sei und in gewissem Sinne stimmt das auch. Es ist ein Roman, der mehr durch die Existenz- und Augenblicksängste und durch die vielen Stimmungen von Andrea lebt, als durch die Handlung. Die Handlung ist die Welt und die ist so wie sie ist, voller Vergeblichkeit, Alltag und minderguten/minderschlechten Überraschungen, in scheinbar immer gleichen Kreisen. Aber das wirkliche Chaos, der wirkliche Kampf des Lebens findet in Andrea und findet in der Sprache des Buches statt, in den kleinen Ausbrüchen von inneren Gefühlen und darin getränkten Beschreibungen. Im Kern zeigt uns der Roman eine existenzielle Erfahrung, wie sie eines Camus würdig gewesen wäre: die Erkenntnis, dass das eigene Leben ein Zirkel ist, den wir nicht aus seiner Verankerung reißen könne, so heftig wir auch ziehen, träumen, leben, soweit wir uns auch spannen. Wir bestimmen die Form und Größe unserer Kreise, aber nicht den Ausgangspunkt, der wir einfach sind, in einer Welt, die wir begehen müssen, weil sie unseren Weg enthält – weil sie unsere Existenz, wie sie ist, enthält. Eine Existenz voller Angst, Wünsche, Freuden und Glück enthält. Unsere einzige Existenz, fern aller anderen.
“Ich sah zu, wie der böige Wind dicht über die Erde fegte und den Staub und das Laub in einer Art Totentanz der Dinge aufwirbeln ließ.”
Nada ist ein außergewöhnlicher Roman, ein Kunstwerk der kargen, dann wieder der überwältigenden Sprache. Gerade weil man immer direkt beim Geschehen ist, möchte man das Buch am liebsten in einem Ruck durchlesen; es entsteht ein ungeheuer, lebensechter Sog. Viele Romane sind gewiss umfangreicher, detaillierter, versierter als dieser, aber diesen Sog, diesen ständigen Puls von echtem Leben – ihn findet man selten.
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*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.