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Bestechende Biographie über den (ohn)mächtigsten Kaiser der Habsburger


Karl V

Mit dem Begriff Meisterwerk kann man schnell mal um sich werfen – ebenso mit dem Begriff der bedeutenden Persönlichkeit. In diesem Fall aber trifft beides zu: Karl V. war eine bedeutende (und darüber hinaus auch wahrlich: tragische) Figur seiner Zeit und der Weltgeschichte und Heinz Schillings Buch ist ein Meisterwerk der biographischen Literatur.

Dies mag darin begründet liegen, mit welch hohen Maß an (zwar nie überbordenden, aber doch zentralen) Verständnis sich der Autor seinem Gegenstand annimmt. Ich habe schon viele Biographien gelesen, in denen die Autor*innen immer ein wenig mit ihrer Beziehung zur beschriebenen Person zu ringen schienen – und dieses Ringen für Objektivität oder gar Professionalität hielten.

Schilling dagegen beweist, dass nicht eine erkennbare Position zum Gegenstand, sondern Gewissenhaftigkeit und Hingabe für Details letztlich immer noch die beste Methode sind. Gemeint ist nicht etwa die immense, psychologisierende Hingabe eines Stefan Zweig (wobei die auch in mancherlei Hinsicht etwas für sich hat) oder die fatal vom Weg abkommende Hingabe mancher Biograph*innen, die ihre Objekte vor irgendeinem Vorwurf schützen, ihre Geschichte umschreiben wollen, sondern eine behutsame Hingabe, die die Person Karl V. nicht überhöht oder gar die Leser*innen blendet, wohl aber die Geschehnisse und den Charakter gänzlich auszuleuchten versteht.

Die Spannung, die aus diesen genauen Schilderungen entsteht, ist umso bemerkenswerter, da das Buch, beinahe von vorne herein, bekennt, dass es eine Geschichte des Scheiterns erzählt. Eines Scheiterns wohlgemerkt, hinter dem auf der einen Seite Hoffnungen von einer grandiosen Zukunft und Einigkeit und auf der anderen Seite Umbrüche auf beinahe jeglichem Gebiet, von der Religion über die Gesellschaft bis zur Wirtschaft, stehen.

Schilling gelingt es, von einer Geschichte des Hauses Burgund ausgehend und bis zu dem Rückzug Karl V. vom Thron, das Wesen einer ganzen Welt, einer Epoche, im Spiegel eines Mannes, der in ihr zu wirken versuchte, zu zeigen. Das ist große Kunst und sehr lesenswerte Literatur.

Zu der Dreiergeschichte “Luftschlösser” von Almudena Grandes


Luftschlösser “Als wir zu dritt waren, war die Welt so riesig, dass wir sie mit unseren sechs Händen nicht fassen konnten. Als ich nur noch zwei Hände hatte, war sie so klein, so bedeutungslos wie eine Brotkrume zwischen meinen Fingern, ohne dass ich den Grund für diesen Schwund hätte benennen können.”

Drei in einem Bett, in einer Liebe: Umgangssprachlich der flotte Dreier, dramatisch die Dreiecksbeziehung, pornographisch der threeway, gehoben die menagé à trois (wobei manches davon gemeinsame sexuelle Akte impliziert, manches nicht). Die Vorstellung, dass man nicht nur eine Person lieben (geschweige denn mit einer Person sexuell zufriedengestellt sein) kann, ist natürlich längst kein Tabuthema mehr, weder emotional noch sexuell (wobei: emotional vielleicht schon noch ein bisschen).

Es mangelt auch nicht an Geschichten darüber: Michael Cunningham hat mit “Ein Zuhause am Ende der Welt” eine großartige Mann-Mann-Frau-Geschichte verfasst, Phoebe Ann Miller mit ihrem “Auf die andere Art” ebenfalls und in den Werken von John Irving sind Dreiecksbeziehungen schon fast eine Gewohnheit. Viele Hollywoodfilme arbeiten (mal mehr, oft weniger subtil) mit dieser Art von Verhältnis. Ein Beispiel für eine Frau-Frau-Mann Geschichte findet sich in dem meiner Meinung nach eher misslungenen Buch Das Licht und die Geräusche von Jan Schomburg.

Bei Almudena Grandes ist die Geschichte im Übergang von der Jugend- zur Erwachsenenzeit angesiedelt: José (eigentlich José Maria, aber sie benutzt als Alleinstellungsmerkmal nur ihren Männernamen) studiert im vierten Jahr Kunst in Madrid, als sie die ungleichen Freunde Jaime und Marcos kennenlernt – der eine spaßig, galant und gewitzt, der andere bildschön und eher verschlossen. Die beiden studieren ebenfalls Malerei und zu dritt bilden sie bald ein enges Dreiergespann. Eines Abends landen sie zusammen im Bett…

Was folgt ist eine vor allem von Emotionen vorangetriebene Geschichte. Es wird immer aus Josès Perspektive erzählt und es ist spannend und geschickt, wie Grandes ihren Blick und ihre Vermutungen bzgl. der Gefühle ihrer beiden Liebhaber einfließen lässt; ihm die Schwere einer absoluten Gewissheit gibt, obgleich man als Leser/in schnell merkt, dass die Dinge nicht so einfach liegen, sondern dass vielmehr die Ferne der mit Sehnsucht aufgeladenen Episode (erzählt wird mit einem Abstand von 20 Jahren) eine Unabänderlichkeit in die Vorgänge legt, die zu dem Zeitpunkt ihres Stattfindens nicht unbedingt vorhanden war – damals hing viel von jeder einzelnen Entscheidung, jedem Detail ab, was Grandes sehr klug in den Zwischentönen anklingen lässt.

Ihre Sprache ist oft leidenschaftlich, aus dem Innenleben ihrer Figur hervorbrechend, aber nicht zu sinnlich, wodurch sie nicht ins Kielwasser allzu glatter, eher an Schundhefte erinnernder Prosa gerät. Die Erotik liegt mehr in der Dramatik, in der schwierigen und zugleich berauschenden Balance der Beziehung zwischen den jeweiligen Personen. Explizite sexuelle Darstellung gibt es nicht, dafür expliziten Seelenstriptease. Beeindruckend gelingt es Grandes, die Verschiebung in der Wahrnehmung nachzuzeichnen, wie sie über Wochen, über Monate und Jahre vonstattengeht.

Alles in allem ist Luftschlösser ein Buch, das seinem Titel mehr als gerecht wird. Denn genau darum geht es: um Träume, die man lebt und am Leben zu halten versucht, auch wenn die Gefühle bereits andere Wege gehen, die einzelnen und komplizierten Stränge unseres Denkens und Fühlens sich nicht unter dem Hut einer schönen, freien Sache zusammendrängen lassen. Es ist bestürzend und doch sehr gut nachvollziehbar, wie die drei Liebenden im Taumel leben und zunächst so viel Tempo draufhaben in ihrem neuentdeckten Lebensstil, dass sie alle gegenteiligen Anzeichen überfliegen und links liegen lassen – nur um dann zu merken, dass es nichts hilft, irgendetwas zu ignorieren. Es ist da und es wird seinen Verlauf nehmen. Und das wird einen zwangsläufig tangieren.

Über die Launigkeit der Liebe, den Rausch, die Freiheit der Kunst und des Glücks und das Talent oder das Fehlen des selbigen wird hier viel geschrieben. Dazwischen finden sich in “Luftschlösser” aber auch immer wieder ganz andere bestechende Momente, kleine Erkenntnisse, neue Züge. Kurzum: eine lesenswerte Novelle, sehnsuchtsbetont und emotionsgeladen, aber von einem Kern mit klarem Wirklichkeitsanspruch zusammengehalten. Eine Geschichte über die Tragik der Liebe und des Schaffens, mit dem Kopf in den Wolken, auf stabile Füße gestellt.

Zu Patrick Devilles “Viva”


Im Zentrum des sich drehenden Kosmos in Patrick Devilles Roman, der sich mitunter wie eine anekdotische Wanderung durch Geschichtsbücher und biographische Landschaften anfühlt, stehen vor allem übergroße, leicht geheimnisvolle Figuren wie Leon Trotzki, Arthur Cravan, Frida Kahlo, Malcolm Lowry oder B. Traven. Sie sind so etwas wie Außenseiter in ihren Disziplinen und doch Personen mit maßgeblichem Einfluss – und vor allem: es umgibt sie ein Mythos. In einem rasanten Karussell aus Orten und Verflechtungen, Rückblicken und situativen Verdichtungen, lässt Deville den Quell ihres Lebens und Denkens, ihrer Seele, vor den Augen der Lesenden aufsprudeln und wieder in sich zusammen fallen.

Die Stärke des Buches liegt in der leicht unberechenbaren Dynamik, mit der es seine Perspektiven und Schauplätze wechselt und dabei teilweise die assoziative Sprunghaftigkeit der Erinnerung und teilweise die historischen Abläufe für die Bewegung des Textes einbindet. So entsteht ein flirrendes Bild der geschichtlichen Prozesse und eine lebhafte Darstellung der Figurenschicksale, die zeigt, wie die einzelnen Individuen – abseits der neutralen, historischen Perspektive – von den Wellen der Ereignisse hin und hergeworfen werden; und alle nur einen Ort suchen, an dem sie die Gezeiten und Unwetter nicht so hart treffen können, an denen Ruhe vor dem Sturm herrscht. Und doch begeben sie sich auch immer wieder in den Sturm hinein. Im Sturm sind sie schließlich auch lebendig. Aber vielleicht auch nicht mehr lange am Leben.

Mexiko ist der Ort, an den sich einige von ihnen flüchten. Ein Leben wartet hier, vielleicht. Während in Russland und anderen Teilen der Welt Bürgerkriege toben und ein weiterer Weltkrieg sich ankündigt und die Welt schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr zur Ruhe kommt, sind es die vielfach in die bisherigen historischen Zusammenhänge Eingebundenen, die ihnen jetzt kaum mehr entgehen können. Letztlich zeigt dieser Roman vor allem das Brodelnde, das in den ersten 40 Jahren des 20. Jahrhunderts steckte. Man konnte immer im Zentrum des Geschehens sein, wenn man wollte, den Geschehen gab es genug, aber es gab auch noch die Hoffnung, die Idee, dass das Leben fernab des alleszerfressenden Trubels der Revolutionen, Kriege und Abenteuer möglich sein könnte. Zwischen diesen kleinen Hoffnungen und den großen Umbrüchen pendelt das Narrativ dieses Buchs.

Spanisch-Mexikanisches Generationenpanorama bei Antonio Ortuño in “Madrid, Mexiko”


   Spanien und Südamerika, eine geschichtsträchtige, schwierige Beziehung. Unter anderem geht es in Antonio Ortuños virtuos erzählter Familiengeschichte um die Differenz, die zwischen diesen beiden Weltgegenden, trotz ihrer unauslöschlichen Verbindung, liegt.

Aber eigentlich geht es um eine Familie und die einzelnen Geschichten, die die Generationen dieser Familie prägten; Geschichten voller Entschlossenheit und Ideale, aber auch voller Elend und Rache.

Da ist der jüngste Spross der Familie, der 1997 in Guadalajara vor einem Racheakt türmt, da sind seine Vorfahren, die in den Wirren der linken Fraktionskämpfe im spanischen Bürgerkrieg zu überleben versuchen und auch später in Mexiko die Ereignisse nicht hinter sich lassen können. Ums Überleben, darum geht es eigentlich die ganze Zeit, denn in beiden Strängen ist die Gefahr fast immer präsent, das Überleben nicht gesichert, so gut wie verspielt. Die guten Zeiten, von denen erzählt dieses Buch nicht, es erzählt von den Brennpunkten, den Katastrophen, den Kämpfen.

Gekonnt springt der Autor zwischen den Jahrhunderten und Jahrzehnten hin und her und steigert konsequent die Spannung und Dichte in jeder Geschichte. Seine Figuren sind plastisch, wirken hier und dort etwas heruntergebrochen, aber sie spiegeln auch nie vor mehr zu sein als sie sind. Das Buch besticht durch seine kompromisslose und einfache Darlegung, seine Hitze und seine Bedrohlichkeit, durch den Sog der Ereignisse und jeder Moment der Ruhe ist meist ein Moment der Ruhe vor dem Sturm.

In Teilen habe ich Ortuños Buch geradezu atemlos gelesen. Die Geschichte bannte mich, ich bangte, wann die Konflikte unausweichlich werden und wie alles ausgehen würde. Die Sprache bot sich mir die ganze Zeit über mit Bestimmtheit dar, ohne falsche Scheu, ohne große Gesten.

Man könnte also am Ende schlicht sagen: ein lesenswertes Buch. Keine metaphysischen Höhenflüge, dafür ein-zwei großartige Figuren, eine schnörkellose Schilderung, eine spannende Schilderung über Generationen hinweg, gekonnt zum Knäul verwoben, welches mit jedem neuen Sprung enger gezogen wird und ganz am Ende erst zerschlagen. Erzählt wird von Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen, die irgendwie überlebt haben.

Zu Javier Marías Fussballkolumnen in “Alle unsere frühen Schlachten”


alle-unsere-fruheren-schlachten_marias   Javier Marías ist ein großer Fußballfan und noch mehr ein Fan von Real Madrid. So ziemlich alles, was man über die Wurzeln der Königlichen wissen muss, vor allem über die glorreichen Zeiten von Ference Puskás und Alfredo Di Stefano und die Verortung innerhalb der spanischen Fußballwelt und der gesellschaftlichen Zusammenhänge, kann man teilweise aus diesen 34 Kolumnen erfahren.

Doch darüber hinaus sind es auch tagesaktuelle Texte, die sich mit den Ereignissen des spanischen und des Weltfußballs zwischen 1992 und 2001 beschäftigen, mit Phänomenen und Ereignissen, Ergebnissen und Wettbewerben. Es gibt einige Geschichten und Motive, die immer wiederkommen, u.a. der bereits erwähnte Di Stefano, der ein persönlicher Gott von Marías zu sein scheint, außerdem die verschiedenen Temperamente der Clubs in der spanischen Liga, die aus unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlichen Hintergründen, historisch wie ideologisch, kommen-

Marías nicht gerade ein bedächtiger, sondern ein geradliniger Kolumnist, der aus seinem Unmut und seinen Vorlieben keinen Hehl macht, auch wenn er sie zu reflektieren weiß und dies auch tut. Das macht seine Texte manchmal zu einer engen, eigenwilligen Angelegenheit, gibt ihnen aber größtenteils einen erfrischenden und unterhaltsamen Spin, einen kurzweiligen Drive.

Insgesamt gelangt Marías hier und da zu einigen vorzüglichen Meinungsspitzen und sein oft gegen die öffentlichen Debatten eingestellter common sense ist in den meisten Fällen genau mit der Art von Idealismus und Entwirrung verbunden, wie man sie bei einem Position beziehenden Schriftsteller schätzt, selbst wenn es „nur“ um Fußball geht.

Und eigentlich geht es ja nicht „nur“ um Fußball. Denn dieser Sport ist ein Spiegel verschiedenster gesellschaftlicher Prozesse und Systeme, vom Kapitalismus bis zu Massenhysterie, er erzählt von gewählten Feindschaften und Grenzen überwindenden Sympathien und emotionalen Verdichtungen. Von solchen Dingen schreibt auch Marías immer wieder. Und es gelingt ihm dann und wann da Menschliche im Fußball zu spiegeln.

Kurz zu Hemingways “Fiesta”


Wann immer ich einen Hemingway Roman lese, läuft es etwas nach dem gleichen Schema ab: Erst beginne ich und die Geschichte tröpfelt so dahin, dann kommt eine kurze Zeit, in der ich das Buch sehr langatmig finde und mich in den endlosen kurzen, knappen Dialogen verliere und den merkwürdigen Formulierungen und dann, dann werde ich plötzlich ergriffen von dem Sog und bin am Ende vollkommen überrascht, dass ich so berührt bin.

Ja, Hemingway hat mich immer wieder mit der Welt und mit sich selbst versöhnt. Man kann ihm, seinen Büchern und auch seinen Übersetzungen viel nach sagen, aber zweierlei wird mich immer an Hemingway faszinieren und mich ihn immer wieder einen Sprachmeister nennen lassen: Erstens seine knappe Sprache, die nicht karg ist, ganz im Gegenteil, sondern Räume erschafft, in denen so viel mehr gesagt wird, als in den blumigsten Sprachgebilden – und die unglaublich Dichte in jedem seiner Bücher.

Erklären kann ich das hier nicht, nur beschreiben und darauf vertrauen, dass jemand vielleicht weiß, was ich meine, wenn ich von einer Sprache spreche, die so bedacht ist auf ihren, viel offen-lassenden, spartanischen Charakter, dass sie durch diese subtile Kunst des Auslassens, Weglassens, dieser Kenntnis von Vielem, aber der Darstellung von Wenigem, eine so große Kraft des Unsagbaren erschafft, wie sie auch oft in Wirklichkeit empfunden wird. Es ist, als wären Stimmungen in Hemingways Büchern keine Frage des Ausdrucks der Wörter, sondern sie kämen allein aus einem selbst, wenn man versucht das nachzuempfinden, was seine Charaktere fühlen. Als würde Hemingway Romane schreiben, die uns dazu veranlassen, viel von uns selbst nach zu erleben, oder zumindest Ideen von Gefühlen – womit ich nicht pseudophilosophisch werden will, aber anders kann man es nicht formulieren.

Fiesta ist vor allem ein Dialogstück, fast 3/4 des Buches bestehen aus Dialogen. Es geht um Liebe und es geht um das fliehende Glück, die verstreichende Zeit und den Ort an dem man sich zu Hause fühlt und die verlorene Generation, die sich überall ein wenig verlassen fühlt. Man verbringt trunkene Nächte in Paris, der Stadt, in der soviel möglich ist, dass es unmöglich scheint hier irgendwann zu “werden” und nicht nur zu sein. Ein Ausflug nach Spanien, zur Fiesta, wird zum Spiel mit Gefühlen wie Sehnsucht und der Suche nach einem wirklich ausgereizten Leben, doch auch hier ist zwar alles auf die Spitze getrieben, aber auch hier lebt jeder sein leben und stirbt auch – und nicht nur am Ende. Überall wird gestorben, auch wenn man das Leben noch so sehr herausfordert – man könnte sagen: In Fiesta schreibt Hemingway sein eigenes Leben vor; wie Ödipus weiß er hier schon, hat es zwischen den Zeilen niedergeschrieben, dass man weiter nicht kommt, als bis Paris, bis zur Fiesta – und doch hat er es versucht.

-“Sieht man dich in Paris?”
“Nein. Mein Schiff geht am Siebzehnten. Auf Wiedersehen, alter Kerl.”
“Auf Wiedersehen, mein Junge.”
Er ging durch die Sperre an den Zug. Der Träger ging mit dem Gepäck voraus. Ich sah noch, wie der Zug sich in Bewegung setzte. Bill stand an einem der Fenster. Das Fenster verschwand, der Rest des Zuges verschwand – das Gleis war leer.
Ich ging zum Auto zurück.-

“Nada”


“Die ersten Straßenbahnen nahmen ihre Fahrt durch die Stadt auf, ihr Gebimmel drang gedämpft durch die geschlossenen Fenster zu mir, wie damals im Sommer, als ich sieben war und zum letzten Mal zu Besuch bei den Großeltern. Eindrücke stellten sich ein, zwar schemenhaft, doch so lebendig, als brächte sie der Duft von einer frisch gepflückten Frucht. Eindrücke aus dem Barcelona meiner Erinnerung.”

Carmen Laforet gehört sicherlich zu den weniger spektakulären Autoren des 20. Jahrhunderts, in Spanien allerdings ist sie bis heute eine der wichtigsten Erzählerinnen in und nach der Franco-Diktatur. Nada, geschrieben im Alter von 19 Jahren, ist ihr Debütroman und erschien 1944, am Ende des zweiten Weltkriegs. In ihm hat sie, sagen manche, die drückende Atmosphäre des spanischen Lebens unter Franco beschrieben, andere wiederum schreiben dem Roman alleinige autobiographische Intentionen zu.

Aber, wie der Titel schon sagt, das ist Nada, “Nichts”, das sind Schemata, wie sie jeder Roman alleine schon für einen Klappentext oder einen kritischen Ansatz, über sich ergehen lassen muss. Romanleser wissen dagegen, dass man keinen (guten) Roman letztendlich festlegen kann, auf keine einzelne Thematik und kein theoretisches Resümee. Ein guter Roman ist ein vielschichtiger Roman, der auf jeder neuen Seite Einblicke bietet und seine Geschichte nie einseitig werden lässt (Ausnahmen bestätigen die Regel) – was wären all die großen Romane, wenn man aus Ihnen nur ziehen könnte, was man auch allgemein über sie sagen kann.

Gerade wenn wir etwas nicht definieren können, bemerkte Borges klug, wissen wir sehr viel darüber, weil wir dann die Facetten bemerken und mit der Zeit bei der Lektüre etwas entstehen kann, ein Verhältnis zwischen Leser und Buch, das größer ist, als alle seine plastischen Elemente. Und wegen dieser Momente, wegen der kleinen sprachlichen Verblüffungen und Einzigartigkeiten, wegen der einzelnen, tiefgreifenden Szenen und eben dem Gemälde, dass sich geradezu unnachgiebig und ungreifbar in den Stimmungen ergibt, sollte man Romane lesen, die großen Romane der Weltliteratur.

Nada ist ein Roman, der dazugezählt werden kann. Es passiert nicht viel darin, eigentlich passiert sogar fast schon extrem wenig darin, oder doch zumindest wenig, was das Anfangssetting noch sprengt, das nach 40 Seiten bereits aufgebaut ist.

Im Zentrum des Buches steht das Mädchen Andrea und eine Wohnung in der Calle de Aribau, die Andreas Großmutter einst kaufte, als diese noch mitsamt der Straße in den Randbezirken von Barcelona lag und die jetzt, 50 Jahre danach, mittendrin in der Stadt liegt. Andrea, 18 Jahre alt, kommt aus den ländlichen Gegenden Nordspaniens in die Stadt, um in Barcelona Literatur zu studieren.

Als sie 7 war ist sie zuletzt dort und alles hat sich sehr verändert. Die Großmutter ist senil geworden, die Wohnung quillt über von alten Möbeln im muffigem Stadium des Verschleißes und die beiden schwierigen Onkel von Andrea, Román und Juan, leben wieder bei ihrer Mutter: Juan zusammen mit seiner scheinbar lasterhaften Frau und Román in einer Mansarde über der Wohnung.
Die beiden sind sich spinnefeind – warum, das ist ein ewiges, unverständliches Geheimnis.

Einer der Kernsätze des Buches (“Zum ersten Mal überkam mich das dunkle Gefühl, das Interesse und Wertschätzung für jemanden nicht immer zusammengehören”) gibt ganz gut vor in welchen Welten die Konflikte der Familie und auch der anderen Figuren angesiedelt sind: In der Welt zwischen versuchter Zuneigung und der Faszination, der menschlichen Schwäche für das Andere, das Dunkle, Aufregende..

Andrea, die mit Hoffnungen auf Freiheit, Liebe, Selbstbestimmung und Glück nach Barcelona aufgebrochen war, bemerkt schnell, dass es in einem solchen Umfeld in ihrer Zeit in der Calle de Aribau nicht darum gehen wird, endlich über das Leben und ihr eigenes Mauerblümchenwesen zu triumphieren – nein, sie muss diese Zeit, die für sie auch wegen ihres Eintritts ins Erwachsenenalter eine eh schon schwierige und ambivalente ist, einfach nur überstehen – es gelten die Zeilen, die eines der bekanntesten Rilke-Gedichte beenden: “Wer spricht von Siegen/ Übersteh’n ist alles.”

“Oft muss ich an die Nächte in der Calle de Aribau denken zurückdenken. Diese Nächte, die wie ein schwarzer Fluss unter den Brücken der Tage vorüber zogen und faulen, gespenstischen Dunst verströmten.
Ich erinnere mich an die ersten Herbstnächte, die ersten Vorboten der Unrast, die sie entfachten. An die Winternächte mit ihrer klammen Schwermut: das Ächzen eines Stuhls, das mich aus dem Schlaf aufschreckte, und der Schauer, wenn sich zwei leuchtende Augen – die der Katze – in meine bohrten. In diesen eisigen Stunden gab es Augenblicke, in denen das Leben seine Scham abgelegte und ganz nackt vor mir stand, um sich eine Herzensqual von der Seele zu schreien, die für mich nur entsetzlich war. Eine Qual, die der Morgen schnell wegwischte, als hätte sie nie existiert. Dann kamen die Sommernächte. Laue, behäbige Mittelmeernächte über Barcelona, schwer vom goldenen Saft des Mondes und dem feuchten Duft der Meerjungfrauen, die sich ihre Wasserhaare über den weißen Rücken und dem goldenen Schuppenschwanz kämmten. In manchen warmen Nächten steigerte der Hunger, die Traurigkeit und die Energie der Jugend die Ohnmacht meiner Gefühle bis hin zu einem körperlichen Bedürfnis nach Zärtlichkeit, wie es gierig und staubig die ausgedörrte Erde fühlt, die ein Gewitter nahen spürt.”

Auf dem Buchrücken steht, dass das Buch existenzialistisch sei und in gewissem Sinne stimmt das auch. Es ist ein Roman, der mehr durch die Existenz- und Augenblicksängste und durch die vielen Stimmungen von Andrea lebt, als durch die Handlung. Die Handlung ist die Welt und die ist so wie sie ist, voller Vergeblichkeit, Alltag und minderguten/minderschlechten Überraschungen, in scheinbar immer gleichen Kreisen. Aber das wirkliche Chaos, der wirkliche Kampf des Lebens findet in Andrea und findet in der Sprache des Buches statt, in den kleinen Ausbrüchen von inneren Gefühlen und darin getränkten Beschreibungen. Im Kern zeigt uns der Roman eine existenzielle Erfahrung, wie sie eines Camus würdig gewesen wäre: die Erkenntnis, dass das eigene Leben ein Zirkel ist, den wir nicht aus seiner Verankerung reißen könne, so heftig wir auch ziehen, träumen, leben, soweit wir uns auch spannen. Wir bestimmen die Form und Größe unserer Kreise, aber nicht den Ausgangspunkt, der wir einfach sind, in einer Welt, die wir begehen müssen, weil sie unseren Weg enthält – weil sie unsere Existenz, wie sie ist, enthält. Eine Existenz voller Angst, Wünsche, Freuden und Glück enthält. Unsere einzige Existenz, fern aller anderen.

“Ich sah zu, wie der böige Wind dicht über die Erde fegte und den Staub und das Laub in einer Art Totentanz der Dinge aufwirbeln ließ.”

Nada ist ein außergewöhnlicher Roman, ein Kunstwerk der kargen, dann wieder der überwältigenden Sprache. Gerade weil man immer direkt beim Geschehen ist, möchte man das Buch am liebsten in einem Ruck durchlesen; es entsteht ein ungeheuer, lebensechter Sog. Viele Romane sind gewiss umfangreicher, detaillierter, versierter als dieser, aber diesen Sog, diesen ständigen Puls von echtem Leben – ihn findet man selten.

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.