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Widerständiges


Gestern, am ersten November 2021, wäre Ilse Aichinger 100 Jahre alt geworden. Es gibt wohl nur wenige moderne Schriftstellerinnen, denen trotz eines so schmalen Werkes eine so große Verehrung zuteil geworden ist ihr. Sie gilt als Meisterin der kurzen Prosa, ist so etwas wie eine literarische Ikone und es gibt wohl kaum eine*n Student*in des kreativen Schreibens (oder auch der Germanistik, Literaturwissenschaft, etc.), die*der nicht mit ihrer Spiegelgeschichte in Berührung gekommen ist oder mit sonst einer ihrer filigranen Erzählungen.

Nun ist zum Anlass ihres Geburtstags bereits Ende September dieser Band mit (genau hundert) verstreuten Publikationen erschienen, deren Spanne vom Jahr 1948 bis zum Jahr 2005 reicht. Betitelt ist der Band mit „Aufruf zum Mißtrauen“, ein programmatischer Titel (und der Titel eines Textes im Buch), der gewisse zentrale Aspekte von Aichingers Schreiben und Denken gut zusammenfasst, aber zumindest auf mich auch ein bisschen irreführend wirkt, so als handle es sich bei den verstreuten Publikationen vor allem um Glossen, Pamphlete und dergleichen.

Das ist nicht der Fall, vielmehr erwartet die Leser*innen ein Mix aus Gedichten, Feuilleton, Briefen, Beiträgen für Anthologien und andere Gelegenheitsschriften, dramatischen Fragmenten/Szenen, u.v.a.

Die Beiträge sind chronologisch geordnet, es gibt keine Gruppierung/Einteilung nach Art der Texte, was zunächst etwas beliebig anmutet, aber den Leser*innen eben die Gelegenheit gibt, dem einzigen roten Faden des Buches zu folgen, nämlich der mannigfaltigen Darstellung von Aichingers Positionen und ihrer Entwicklung.

Ich muss zugeben, dass ich mich, obwohl durchaus begeisterter Aichinger-Leser, mit dem Band etwas schwergetan habe. Das Konzept (100. Geburtstag = 100 Texte) klingt zunächst griffig, aber in der Praxis hätten vielleicht etwas weniger Texte dem Band gutgetan. Denn mancher Beitrag wirkt, trotz seiner unbestreitbaren Relevanz für die Aichinger-Forschung, deplatziert, weil nicht unbedingt von Interesse für Leser*innen, die sich mit Aichinger als Autorin, aber nicht unbedingt als Person auseinandersetzen wollen.

So erscheint der Band streckenweise weniger wie ein Lesebuch, das unbekannte Glanzstücke Aichingers dem Publikum präsentieren soll, und mehr wie eine Werkausgabenkomplettierung (was aber vermutlich nicht der Fall ist, denn es ist unwahrscheinlich, dass die Zahl der Beiträge ein Zufall ist).

Trotzdem gibt es natürlich einige wichtige und auch starke Beiträge. Besonders interessant fand ich Aichingers Auseinandersetzung mit den Geschwistern Scholl. Aber auch ihre Gedanken zu Thomas Bernhards „Heldenplatz“, zu Gert Jonke und der Gruppe 47 fand ich sehr anregend, ebenso eine Rezension zu einem Buch von Julian Schutting. Und gefreut habe ich mich, dass auch ein paar mir unbekannte Gedichte von Aichinger enthalten sind.

Meine Bedenken habe ich angebracht und abseits dieser will ich von Kauf und Lektüre des Bandes nicht abraten. Es stellt einen guten Querschnitt durch unterschiedlichste Aspekte von Aichingers Werk und Wirken dar. Vielleicht ist auch gerade die unterschiedliche Relevant der Beiträge für manche Leser*innen eine spannende oder angenehme Abwechslung.

Zu “Königinnen” von Daniela Sannwald/Christina Tilmann


Königinnen Daniela Sannwalds und Christian Tilmanns Buch ist vor allem ein Buch über den Mythos, der sich um die zehn in diesem Buch behandelten Herrscherinnen gebildet hat. Keiner der Texte ist eine stringente Biographie, es sind stets Auslotungen der Präsenz, der Gestalt, die die Frauen im kulturellen Gedächtnis hinterlassen haben, gespiegelt in den Adaptionen ihrer (vermeintlichen) Lebensläufe und -motive (vor allem durch den Film), nebst Spekulationen zu Liebe und Charakter.

Wer also Kurz-Biographien erwartet, der wird enttäuscht werden. Interessant wird es für diejenigen, die sich gerne mit der Macht der Populärkultur auseinandersetzen wollen und wie sie von Personen der Macht angezogen wird, sie einspinnt und permanent neu erfindend, bis von der Wahrheit nur noch Versatzstücke übrig sind. Das Buch zeigt – wie gesagt: vor allem anhand von Verfilmungen – wie die Leben der Königinnen mal so mal so ausgelegt werden und wie unterschiedliche die Gewichtungen sind. Das ist vor allem spannend, weil es sich meist um mächtige Frauen handelt; eine Kombination, die anscheinend die Inszenierung herausfordert und wenig Raum für Ambivalenzen lässt (man denke an die Sissi-Filme).

In Verfilmungen werden Frauencharaktere oft in Rollenbilder hineingezwängt, sie müssen oft einen bestimmten Archetyp bedienen; oftmals sind es längst überlebte wie die gefallen Frau, die keusche Frau, die lüsterne Frau, die missgünstige Frau, etc.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Autorinnen des Buches ein bisschen diese übergreifenden Tendenzen miteinbringen. Ansonsten ist das Buch aber zu empfehlen, als Reflexionsgrundlage und nicht zuletzt als Film- und Serientippsammlung.

Zu den Porträts in “Über Geist und Macht” von Wilhelm von Sternburg


QU_Sternburg_U1_Entwurf.indd Dieser schöne Band versammelt biographische Studien, Abrisse und Essays von Wilhelm von Sternburg, die zwischen 1993-2017 in verschiedenen Publikationen (hauptsächlich der Frankfurter Rundschau) erschienen. Unter den Protagonist*innen finden sich ein paar der üblichen Verdächtigen (Schiller, Heinrich Böll, Stefan Zweig, Günter Grass, bei den Politikern Bismarck, Churchill und Willy Brandt), aber auch unbekanntere oder vergessene Namen wie Gustav Freytag, Bruno Frank, Elisabeth Langgässer und wenig thematisierte wie Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Golo Mann oder Herbert Wehner.

Mit Ausnahme von Lessing und Schiller waren alle Persönlichkeiten des Buches auf die eine oder andere Weise Zeitgenossen und Akteur*innen während der Entwicklungen und Verwerfungen der deutschen Nationalgeschichte zwischen 1848 und den Zeiten der Bonner Republik. Und obgleich Sternburg auch ein feinsinniger literarischer Rezipient ist – die Texte dieses Bandes (wie auch schon der Titel „Über Geist und Macht“ andeutet) richten ihr Hauptaugenmerk auf die zeitgeschichtlichen Aspekte des Werks, den Charakter und die Integrität, die Verwicklungen und Positionen der jeweiligen Geistes- und Machtgrößen.

Bei einigen Namen bleiben die Texte eher so etwas wie ein gut ausbalanciertes summa summarum (wobei es auch dann an interessanten Einblicken nicht fehlt). Zu Schiller beispielsweise gibt es selbstverständlich tiefere, mannigfaltigere Arbeiten (z.B. von Thomas Mann oder Rüdiger Safranski). Bei solchen Namen spürt man, das Sternburg klug gesammelt hat und mehr das bekräftigt, was zu Schiller bereits gesagt wurde und weniger eine eigene Deutung anstrebt (wenn er sie auch, hier und da, einfließen lässt). Auch bei Joseph Roth, dem ein längerer Text gewidmet ist, bewegt sich Sternburg etwas im Kreis, verdeutlicht und untermalt, stößt aber nicht wirklich in eine eigene Schilderung vor.

Sehr verdienstvoll sind hingegen die Beiträge zu den Unbekannteren – und das Highlight sind ein paar mutige Klarstellungen. Sehr fasziniert hat mich der längere Text zu Gustav Freytag, in dem Sternburg nicht nur die Geschichte des damals sehr erfolgreichen Literaten und Feuilletonisten erzählt, sondern auch ein nachvollziehbares Bild des Antisemitismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts zeichnet und beides in der Entwicklungsgeschichte des Publizisten Freytag zusammenbringt. Seine Texte zu Bismarck und zu fast allen anderen politischen Personen, die er portraitiert, haben eine Schonungslosigkeit, die sich stets ohne Verdammnis artikuliert – was oft ausgewogen wirkt, nur selten zu friedfertig und versöhnlich. Insgesamt legt er eine beeindruckende Differenziertheit an den Tag und bei den Publizisten und Politikern deckt er deren Schwächungen und Verfehlungen mitunter so konsequent auf, das man sie in in einem neuen, unspektakuläreren Licht sieht.

Nur Lob habe ich auch für seine Texte zu Böll und Grass. Bei Böll macht Sternburg klar, welch engagierten Geist und wichtigen (sicher auch großen, aber vor allem wichtigen) Künstler die Bonner Republik mit dieser Persönlichkeit hatte und wie erschreckend Boulevardpresse, Feuilleton und Regierung diesen Menschen teilweise behandelt haben. Aber er stellt ihn eben nicht als Opfer dar, sondern als den agierenden Humanisten, Vertreter der Entrechteten und eigenwilligen Zeitgenossen, den seine eigenen Schriften auch widerspiegeln. Und ich fühle mich Böll durch Sternburgs Darstellung wieder genauso verbunden, wie zu der Zeit, als ich vieles seiner Romane und Kurzgeschichten las.

Bei Grass wird Sternburg noch entschiedener zum Verteidiger und beklagt offen die verheerende Dimension der Verrisse und den Unbill, den man Grass Werk und dem geistesgegenwärtigen Prinzip darin über Jahrzehnte entgegenbrachte und -bringt. Obwohl schon ein älterer Text, ist er wohl nach wie vor aktuell. Natürlich hat Grass sich mit seinem Gedicht über Israel und seinen schwierigen Memoiren „Beim Häuten der Zwiebel“ weiter in Verruf gebracht, bevor er starb. Aber sein episches Werk ist zu großen Teilen nach wie vor seltsam verpönt, viele Dimensionen darin werden verkannt und falsch oder missgünstig oder nur autobiographisch gedeutet.

Andere Beiträge, bspw. zu Stefan Zweig und Lion Feuchtwanger, sind schön zu lesen, manchmal etwas unordentlich strukturiert, was mir persönlich aber sympathisch ist. So wirkt es, als Reise man kreuz und quer durch den Geist und das Leben der Person. „Über Geist und Macht“ ist letztlich eine tolle Kombination aus Schmöker und Geistesgut – etwas, das man auf dem Feld der Essays leider allzu selten antrifft. Lesenswert!

Ein leichthändiges Märchen, ein wunderbarer Film: “Grand Budapest Hotel”


Dynamisch und doch erzählerisch-bedächtig – virtuos & bunt und doch wieder schlicht – eigensinnig, aber nie abstrakt. Wes Andersons Filme sind schon allein deswegen jedes Mal ein Erlebnis, weil ihre Art sich nicht ganz erklären oder in Worte fassen lässt. Egal um welch Materie er seine leichtfüßig-tiefgehenden Erzählungen spinnt, immer haftet dem Stoff die Aura des Absonderlichen, des Kuriosen an, aber auf so sanfte und kunstvolle Weise, dass die Erfahrung der Kuriosität auf eine besondere Ebene gehoben wird – eine menschliche Ebene, die Anderson jedem Ambiente, jeder Geschichte entlockt – ohne darauf verzichten zu müssen, seine Zuschauer durch vielerlei Formen von Witz, Wendung und mit einer Vielzahl von Figuren zu unterhalten.

Wenn man zum ersten Mal einen Wes Anderson sieht, sollte man sich bewusst machen, dass die leichte Apathie und Irritation, die in jeder Szene seiner Filme auftauchen kann, ein Stilmittel ist, dass seine Filme begleitet wie eine stilistische Kadenz. Natürlich kann man diese Tatsache als störend empfinden – ebenso wie den Umstand, dass seiner Handlungsführung stets eine schwer zu bändigende Fabulierfreude innewohnt, die zwar nie ausufert, aber auch nie Ruhe gibt. Wer aber gerade diese freie und unbändige Form mag, wer Filme als Orte zwischen Fiktion und Wirklichkeit, voller Möglichkeiten, Ideen und Charakteren, erleben will, die Leinwandwelt als eine den Gesetzen der Realität leicht entzogene Chance zur Schönheit sehen kann, als Möglichkeit über die Wahrheit, die Liebe und viele andere Dingen mit einem gewissen Anstrich von Phantasie zu erzählen, die diese Entitäten nicht verschleiert, sondern sie im Gegenteil manchmal noch besser einzufangen versteht, der wird sich in diesem und wohl auch in jedem anderen Wes Anderson Film sehr wohl fühlen.

“Grand Budapest Hotel” ist in gewissem Sinne ein Krimi, aber auch eine Hommage an die goldenen Jahre Europas, vor und zwischen den Weltkriegen; ein Märchengebäude, gebaut aus lauter echten Kultur- und Historienbruchstücken, Accessoires und Atmosphären. Es ist ein Kino der Optik wie auch der Erzählfreude, unopulent, trotzdem mit einer großen Detailfreude und -fülle, einer Zelebrierung, in der Ernst und Spaß sehr, sehr nah beieinander liegen. Während vordergründig allerhand Charaktere in den Todesfall einer alten Grande Dame verwickelt werden, herrscht in den einzelnen Szenen und Kapiteln jeweils die ein oder andere Idee vor – die ganze Zeit schwebt eine leichte Parodie über allem, nicht maßgeblich und auch nicht die eigentliche Absicht – sie ist nur ein Stilmittel, ein Funke, der die Dynamik des Ganzen in Schwung hält.

Wer meine Meinung nicht teilt, dem mag es albern erscheinen, aber ich finde das wesentliche Element in Andersons Filmen ist (neben der Vergeblichkeit, die Anderson nie auswalzt, nie vertieft, sie nur erscheinen lässt, als schlichtester Zusatz des Daseins) die Schönheit. Die Schönheit die Liebe, die Schönheit der Kindheit, die Schönheit der Exzentrik, die Schönheit der Angst oder, im Fall von Grand Budapest Hotel, die Schönheit der Epoche, der Kultur von damals. Damit will ich nicht sagen, dass Andersons Filme Wohlfühlfilme sind, zuckersüß oder irgendwas in der Art. Denn wenn ich von Schönheit spreche meine ich damit nicht eine der Ausprägungen von Schönheit wie Rührung, Zärtlichkeit, Glanz, Epos oder Künstlichkeit, Anspruch und Glamour. Es wird nichts herausgestellt – es ist einfach die Schönheit der Sache selbst, mit all ihren Fehlern und Farben, ihrem Wesen. Eine Schönheit, die in ihrem Widerschein eine Spur von Wahrhaftigkeit besitzt.

Deswegen sind Andersons Filme, wenn man sie mag, auch immer wieder eine Art vollendetes Erlebnis. Es bleibt kein Zwiespalt zurück. Nicht, weil seine Filme übergroß sind oder er als Regisseur unfehlbar. Aber die schlichte Ehrlichkeit, die unverfängliche Eigenheit, der unaufdringliche Witz, all das, was seine Erzählungen ausmacht, bietet sich dem Zuschauer immer an, als Welt, als Geschichte, stellt aber nie Anforderungen, weder durch große Special-Effects, noch durch reißerische Dilemmas, aufgezwungenes “Vor den Kopf stoßen” oder den erhobenen Zeigefinger. Seine Filme wühlen einen nicht auf – sie sind wie ein gutes, wunderbar geschriebenes Buch: sie bieten einem die Möglichkeit einer einzigartigen Geschichte, in jeder Zeile, mit vielen Auftritten und vielen Feinheiten. Nicht mehr und nicht weniger.

Nachtrag: Das der Film von tollen Schauspielern nur so übersprudelt, dürfte wohl bekannt sein. Am Anfang (und auch noch später) kann man immer wieder, auch noch bei der kleinsten Rolle, in ein bekanntes Gesicht blicken – an die 15-20 große bis kleine Hollywoodstars treten auf, manchmal nur für wenige Sekunden. Hervorheben muss man Ralph Fiennes, der die Hauptrolle so gut spielt, jede Szene wie aus dem Ärmel schüttelt, in keinem Moment zuviel und nie zu wenig in die Rolle legt und den unvergesslichen Charakter ausfüllt wie es wohl sonst keiner gekonnt hätte. Man freut sich einfach, dass diese Rolle und dieser Schauspieler zusammengefunden haben!

Zu Stefan Zweigs gesammelten Gedichten in “Silberne Saiten”


“Treten möcht’ ich durch die offene Pforte
Und im Dämmer einer Liebste Worte
Flüstern, bis Gewährung ihre Wangen rötet,

Dort, wo hinter goldumglänzten Gittern,
Rote Rosen vor Erwartung zittern
vor dem Herbst, der sie in seinen Armen tötet…”

Stefan Zweig, Novellist, Essayist und Historiker, veröffentlichte bereits im Alter von 19 Jahren seinen ersten Gedichtband, der auch prompt freundlich durchgewinkt wurde. Der Titel dieses ersten Werkes entstammte einer Zeile aus einem Roman, den schon Rilke mit besonderer Intensität rühmte: “Silberne Saiten”, entnommen aus dem Buch Niels Lyhne, welches Rilkes als sein Lieblingsbuch (nach der Bibel) bezeichnete.

“Ist denn wirklich Traum das Leben,
Sinnen süßer als das Schaun?”

Rilke und Hofmannsthal waren die Vorbilder dieser ersten 50 Gedichte. Sie sind überwiegend schön, sehnsuchtsvoll, leidenschaftlich, in klassischen Reimen, blumig, kreisend. “Mehr Traum, weniger Leben, aber deswegen nicht weniger Schönheit”, schrieb Zweigs Freund Emile Vernhaegen in einem Brief. Dieser Meinung kann ich mich anschließen.
Später kamen noch die “Frühen Kränze”, verstreute Verse und längere Gedichte zu Ehren von Künstlern hinzu (Rodin, Mahler, Dostojewski (letzteres auch enthalten in Sternstunden der Menschheit). Immer ist seine Lyrik stillvoll und ein an den rilkschen Symbolismus angenäherter Ton, der alle Dinge zum Kreisen ihrer Selbst und ihrer Verbindungen macht, dominiert, vor allem in den Gedichten der mittleren Periode, die an die Ding-Gedichte aus den Neuen Gedichten erinnern.

“Die Tage stiegen längst die goldenen Leiter
Des Sommers nieder, Spätglanz wärmt das Land.
Die Schatten wachsen früh und fallen breiter
Von allen Bäumen in des Abends Hand.”

Es ist fast unumgänglich Zweigs Lyrik als eines der letzten Werke der klassischen Dichtertradition sehen (Zweig starb 1942 durch Selbstmord), ihn selbst als einen der letzten Dichter, der noch frei sagen konnte, dass “des Herzens Hammer nicht/ So ohne Antwort in die Stille fällt”. In der heutigen Dichtung ist es üblich, dass des “Herzens Hammer” in die Stille fällt, oder sogar dabei etwas zum Verstummen bringt. Zweigs Gedichte sind der letzte Markstein empfindsamer, teilweise schwärmerischer, teilweise besinnlicher Poesie; er war der letzte Sänger, der mit Empfindungen wie mit impressionistischen Farben malte, auf Leinwände des Überschwangs, der ohne Zweifel beinahe jedes schöne Wort gebrauchte und doch die Wirklichkeit im Fokus all seiner Wortwünsche hatte.

Und man muss dieses Werk, trotzdem Zweig später gute und sogar teilweise beeindruckende Langgedichte schrieb, als ein Nebenwerk betrachten. Die Prosa war sein Metier, das er auf sehr elegante, gefühlsbetonte Weise beherrschte. Zweig selbst, sollte erwähnt werden, war auf viele seiner Gedichte stolzer, als auf seine Prosa.

Zweigs letztes Gedicht, geschrieben an seinem 60. Geburtstag ist ein Abbild der meisten seiner lyrischen Produkte: streng, voller Klangfreude, sinnend, einfach und schlicht.

“Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne klar.

Vorgefühl des nahen Nachtens
Es verstört nicht – es entschwert!
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nicht mehr begehrt.

Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemisst
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.

Niemals glänzt der Ausblick freier
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.”

Es lohnt sich diese schönen lyrischen Spiele zu lesen, sich von ihnen in die Bilder einer erstaunlich klaren Welt tragen zu lassen. Ihre ungemein ergreifende Ansprache an den Leser wirkt zwar oftmals etwas gerahmt und überbrisant, aber man verzeiht es Zweig, wenn man die innersten Ringe seiner Eindrücke durch die Augen streifen lässt. Er war lyrisch ein Träumer und so sollte man ihn lesen: als jemanden, der glaubte, die Welt könne ewig bestehen in einer zweiten Welt.

“Denn jenen ist das Leben noch die Hülle
Und wer vom Tage borgt, ist ihm verpflichtet,
Doch der bloß träumt, hat seine wahre Fülle.

Ihm ist die Stirn zu Ewigem gerichtet,
Und was hier irdisch gilt, gilt ihm geringe,
Die Welt besitzt nur, wer sie sich erdichtet.
[…]
Im Spiel herab. Ich habe nichts versäumt,
Denn selbst dein Letztes, deinen Kern der Kerne,

Denn auch den Tod, längst hab ich ihn geträumt -”

Link zum Buch

Kleine Prosa-Ode auf Zweigs “Schachnovelle”


Jedes Buch kann eine neue Liebe sein, meist eine, die begeistert, aber bald an Intensität verliert und vergessen wird. Doch manche werden zu alten Lieben – es sind die ganz besonderen Bücher, die Schätze, die vielleicht nicht mal einen Ehrenplatz im Regal haben, aber die wir immer wiederfinden, die wir nicht weggeben, bei denen wir immer genau wissen, wo sie stehen. Für mich ist die Schachnovelle so eine seltene alte Liebe. Und obwohl mir das Schachspiel mehr Bewunderung und Faszination als spieltiefentechnisches Begreifen abgewinnt, oder vielleicht gerade deswegen, würde dieses Buch in der Liste meiner liebsten Werke jederzeit auftauchen. Es ist bemerkenswert, schön geschrieben und gleichsam fesselnd, so gekonnt und doch so malerisch einfach. Ein Buch, das man immer wieder lesen kann, wie sonst nur ein heißgeliebtes Gedicht.

Es können oft die letzten Erzählungen eines Schriftstellers sein, die die einfachste und doch wunderbarste Seite seiner Erzählkunst enthüllen. So bei Hemingway (Der alte Mann und das Meer), Kipling (Genau-so Geschichten) und auch in gewissem Sinne bei Kafka (Der Bau) oder Albert Camus (Das Exil und das Reich). So auch bei Stefan Zweig, der viele großartige Erzählungen geschrieben hat (und auch einige schöne Gedichte: siehe Silberne Saiten) die dennoch alle nicht die Schachnovelle erreichen, in ihrer Schlichtheit und Eleganz, ihrer Konsequenz und ihrer symbolischen Geschichte.

Ungern möchte ich hier zu viel von der Handlung dieses Buches vorwegnehmen. Denn ihre Einzigartigkeit liegt auch in der Beschaffenheit des Erlebnisses, das man hat, wenn man die Geschichte zum ersten Mal lesen darf. Es sei aber gesagt, dass Zweig auf höchste eigene, fast schon innovative Weise die Nazidiktatur in sein Buch mit einbindet; jedoch spielt sie nur am Rande spielt eine Gastrolle. Denn eigentlich geht es um Schach und um die Faszination und die ambivalente Anschauung zu diesem Spiel – ist es System, ist es Schulung, Instinkt oder Mathematik? Doch werden darüber keine Reden geschwungen und psychologischen Vorträge geschwungen – Zweig geht direkt auf das Thema zu und lehnt seine meisterhafte Studie zweier Charaktere und ihrer Lebensgeschichten, die am Ende beide Schach als wichtige Komponente innehatten, daran an. Ein kluges Setting ermöglicht es ihm dabei, diese zwei völlig verschiedenen Menschen einander gegenüberzustellen – eingebunden in eine Geschichte, die wahrlich unvergesslich und in sich selbst, in ihrer Idee schon klassisch ist.

Stefan Zweig hat einige Erzählungen verfasst, die in ihrer Psychologie und ihrer beinahe nachzuempfindenden Schilderung und Erzählweise, oft großen Eindruck beim Leser hinterlassen. So die Novelle mit dem bezeichnenden Titel Angst oder natürlich eine der besten Geschichten über die Schwelle zwischen Kindheit und Jugend, zwischen Unschuld und Unwissen, Brennendes Geheimnis. Doch obwohl diese Texte Erkenntnis- und Verständnisblitze durch die Adern des Lesers jagen, sind sie doch nichts im Vergleich zu den beiden unsterblichen Geschichten, die Zweig uns mit Brief einer Unbekannten und diesem Buch geschenkt hat. Klar, wir wollen erfahren werden, lernen und reflektieren, aber eins wollen wir noch mehr: Geschichten lesen. Und so eine ist dieses Buch. Einfach eine runde, vollendete Erzählung – eine Geschichte, wie sie nur im Buche steht. Wie sie erfunden wurde, um gelesen zu werden.

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*Diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen