Desaparecidos, mit diesem Namen werden in einigen Ländern Südamerikas, in denen es in den 60er, 70er, 80er und 90er Jahren Militärdiktaturen gab, zur damaligen Zeit von der Regierung verschleppte und ermordete Personen bezeichnet. Es sind “Verschwundene”, bei denen Familie und Freunde vom einen auf den anderen Tag nicht mehr wissen, was mit ihnen geschehen ist.
Was hat dieser Hinweis mit María José Ferradas Romandebüt um einen Eisenwaren-Vertreter und seine Tochter zu tun? Nun, alles und nichts. Die genauen Zusammenhänge zu verraten, das würde einem Spoiler gleichkommen, aber zusammenfand lässt sich sagen: Über weite Strecken ist “Kramp” die Erzählung einer Kindheit, bei der die oben genannten Verbrechen gegen Ende hin eine Art Katalysator darstellen, die das Ende der Kindheit und auch das Ende einer Vater-Tochter-Beziehung einleiten und beschleunigen.
Zum Inhalt:
Die namenlose Ich-Erzählerin wächst damit auf, dass ihr Vater D. von Dorf zu Dorf fährt, um in Eisenwarenhandlungen Produkte der Marke Kramp anzupreisen. Ihre ganze kindliche Welt ist erbaut auf den Lebensweisheiten des Vertretergewerbes und einer magischen Fülle von Schlössern, Fuchsschwänzen (eine Säge), Türspionen, Nägeln und anderen Produkten aus dem Katalog der Marke Kramp. Droben im Himmel kann nur ein großer Baumeister sitzen, die Sterne am Himmel sind glänzende Heftzwecken und ein Haus, das mindesten zu 80 % aus Kramp-Produkten besteht, kann niemals einstürzen.
Schnell will die Erzählerin ihrer Faszination rund um die Uhr nachgehen und aus Vater und Tochter wird ein Vertreter*innengespann, bei dem die Tochter vor allem für den subtilen Druck auf die jeweiligen Verkäufer*innen zuständig ist, indem sie sie durchdringend anschaut, manchmal auch Kummer in ihren Gesten zum Ausdruck bringt, während der Vater mit ihnen verhandelt. Sie lernt die Lebenswelt der Vertreter noch genauer kennen und trifft sogar einige Kollegen ihres Vaters, mit denen dieser sich in Cafés oder auch bei Kund*innen und in Hotels trifft. Bald hilft sie auch D. Kollegen S. beim Verkauf von Drogerieartikeln. Und dann ist da noch der Filmvorführer E., mit dem der Vater befreundet ist und den er ab und zu mitnimmt zu Dörfern, in denen E. versucht, Geister zu fotografieren …
Vorangestellt ist dem Roman ein Zitat aus dem Film “Paper Moon” aus dem Jahr 1973. Oberflächlich gesehen hat das Buch von Ferrada mit diesem Film über einen Trickbetrüger und ein Findelkind lediglich gemein, dass die Erzählerin des Buches, ebenso wie das Findelkind, sehr früh zu rauchen beginnt und man in ihren Versuchen, die Ladenbesitzer*innen zu verunsichern, auch eine Art von Trickbetrug sehen könnte, zumal der Vater (und später ein Kollege) oft behaupten, dass sie krank oder ihre Eltern tot sein.
Man könnte es aber auch so sehen, dass beide Geschichten Tragödien im Gewand einer Komödie sind. Über weite Strecken ist Ferradas Buch durchzogen von der kindlichen Freude am Kramp-Weltbild, das für die Leser*innen natürlich in vielerlei Hinsicht eine eigenwillige Komik besitzt. Zwar tauchen früh erste Anzeichen auf, dass es Dinge gibt, die im Argen liegen (hier spielt vor allem die Mutter der Erzählerin eine Rolle, deren Schicksal mit dem der Desaparecidos verknüpft ist, aber auch disfunktionale Familienverhältnisse werden angeschnitten, Alkoholismus, Armut, etc.), aber über 2/3 des Buches federt die tiefe Zuneigung der Erzählerin zum Milieu und zur Tätigkeit ihres Vaters diese dunkleren Aspekte ab.
Auch in “Paper Moon” erleben die Zuseher*innen eine heiter dargebrachte Story, deren Elemente (Verlust der Eltern, Rücksichtslosigkeit, Wirtschaftskrise, Trickbetrug, Eifersucht, etc.) aber eher auf eine Tragödie hinweisen. Während der Film allerdings bis zum Ende immer ein bisschen über den Dingen schwebt, sich auf und ab bewegt, werden die Leser*innen des Buches gegen Ende hin, zusammen mit der Erzählerin, unabänderlich auf den Boden der Tatsachen geholt.
Würde man das Buch auf autobiografische Ansätze zurückführen, wofür es mir aber jetzt an Informationen fehlt, so könnte sich in dieser Abweichung zwischen Film und Wirklichkeit auch das Verhältnis von Kindheit und Erwachsenseins ausdrücken: In der Kindheit kann alles noch irgendwie richtig sein wie es ist (muss es vielleicht sogar, in unseren Köpfen) und es kann einfach so weitergehen, denken Kinder, und Erwachsenwerden heißt, dass man lernt, dass manche Dinge nicht richtig sind wie sie sind und dass es nicht immer so weitergehen kann.
“Kramp” ist eines dieser Bücher, bei denen man erst gegen Ende merkt, wie raffiniert sie gebaut sind und wie geschickt sie uns bestimmte Themen untergejubelt haben. Es wirkt zunächst wie eine launige Posse, eine Wiederbelebung des magischen Realismus mit einem Schuss Oulipo, wird aber letztendlich zu einem Text, der Grundsätzliches dort verhandelt hat, wo man als Leser*in davon überzeugt war, dass er sich exzentrisch seinen Themen auslieferte.