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Von Glanz und Ende einer Kindheit unter dem Zeichen von Kramp und Desaparecidos


Desaparecidos, mit diesem Namen werden in einigen Ländern Südamerikas, in denen es in den 60er, 70er, 80er und 90er Jahren Militärdiktaturen gab, zur damaligen Zeit von der Regierung verschleppte und ermordete Personen bezeichnet. Es sind “Verschwundene”, bei denen Familie und Freunde vom einen auf den anderen Tag nicht mehr wissen, was mit ihnen geschehen ist.

Was hat dieser Hinweis mit María José Ferradas Romandebüt um einen Eisenwaren-Vertreter und seine Tochter zu tun? Nun, alles und nichts. Die genauen Zusammenhänge zu verraten, das würde einem Spoiler gleichkommen, aber zusammenfand lässt sich sagen: Über weite Strecken ist “Kramp” die Erzählung einer Kindheit, bei der die oben genannten Verbrechen gegen Ende hin eine Art Katalysator darstellen, die das Ende der Kindheit und auch das Ende einer Vater-Tochter-Beziehung einleiten und beschleunigen.

Zum Inhalt:

Die namenlose Ich-Erzählerin wächst damit auf, dass ihr Vater D. von Dorf zu Dorf fährt, um in Eisenwarenhandlungen Produkte der Marke Kramp anzupreisen. Ihre ganze kindliche Welt ist erbaut auf den Lebensweisheiten des Vertretergewerbes und einer magischen Fülle von Schlössern, Fuchsschwänzen (eine Säge), Türspionen, Nägeln und anderen Produkten aus dem Katalog der Marke Kramp. Droben im Himmel kann nur ein großer Baumeister sitzen, die Sterne am Himmel sind glänzende Heftzwecken und ein Haus, das mindesten zu 80 % aus Kramp-Produkten besteht, kann niemals einstürzen.

Schnell will die Erzählerin ihrer Faszination rund um die Uhr nachgehen und aus Vater und Tochter wird ein Vertreter*innengespann, bei dem die Tochter vor allem für den subtilen Druck auf die jeweiligen Verkäufer*innen zuständig ist, indem sie sie durchdringend anschaut, manchmal auch Kummer in ihren Gesten zum Ausdruck bringt, während der Vater mit ihnen verhandelt. Sie lernt die Lebenswelt der Vertreter noch genauer kennen und trifft sogar einige Kollegen ihres Vaters, mit denen dieser sich in Cafés oder auch bei Kund*innen und in Hotels trifft. Bald hilft sie auch D. Kollegen S. beim Verkauf von Drogerieartikeln. Und dann ist da noch der Filmvorführer E., mit dem der Vater befreundet ist und den er ab und zu mitnimmt zu Dörfern, in denen E. versucht, Geister zu fotografieren …

Vorangestellt ist dem Roman ein Zitat aus dem Film “Paper Moon” aus dem Jahr 1973. Oberflächlich gesehen hat das Buch von Ferrada mit diesem Film über einen Trickbetrüger und ein Findelkind lediglich gemein, dass die Erzählerin des Buches, ebenso wie das Findelkind, sehr früh zu rauchen beginnt und man in ihren Versuchen, die Ladenbesitzer*innen zu verunsichern, auch eine Art von Trickbetrug sehen könnte, zumal der Vater (und später ein Kollege) oft behaupten, dass sie krank oder ihre Eltern tot sein.

Man könnte es aber auch so sehen, dass beide Geschichten Tragödien im Gewand einer Komödie sind. Über weite Strecken ist Ferradas Buch durchzogen von der kindlichen Freude am Kramp-Weltbild, das für die Leser*innen natürlich in vielerlei Hinsicht eine eigenwillige Komik besitzt. Zwar tauchen früh erste Anzeichen auf, dass es Dinge gibt, die im Argen liegen (hier spielt vor allem die Mutter der Erzählerin eine Rolle, deren Schicksal mit dem der Desaparecidos verknüpft ist, aber auch disfunktionale Familienverhältnisse werden angeschnitten, Alkoholismus, Armut, etc.), aber über 2/3 des Buches federt die tiefe Zuneigung der Erzählerin zum Milieu und zur Tätigkeit ihres Vaters diese dunkleren Aspekte ab.

Auch in “Paper Moon” erleben die Zuseher*innen eine heiter dargebrachte Story, deren Elemente (Verlust der Eltern, Rücksichtslosigkeit, Wirtschaftskrise, Trickbetrug, Eifersucht, etc.) aber eher auf eine Tragödie hinweisen. Während der Film allerdings bis zum Ende immer ein bisschen über den Dingen schwebt, sich auf und ab bewegt, werden die Leser*innen des Buches gegen Ende hin, zusammen mit der Erzählerin, unabänderlich auf den Boden der Tatsachen geholt.

Würde man das Buch auf autobiografische Ansätze zurückführen, wofür es mir aber jetzt an Informationen fehlt, so könnte sich in dieser Abweichung zwischen Film und Wirklichkeit auch das Verhältnis von Kindheit und Erwachsenseins ausdrücken: In der Kindheit kann alles noch irgendwie richtig sein wie es ist (muss es vielleicht sogar, in unseren Köpfen) und es kann einfach so weitergehen, denken Kinder, und Erwachsenwerden heißt, dass man lernt, dass manche Dinge nicht richtig sind wie sie sind und dass es nicht immer so weitergehen kann.

“Kramp” ist eines dieser Bücher, bei denen man erst gegen Ende merkt, wie raffiniert sie gebaut sind und wie geschickt sie uns bestimmte Themen untergejubelt haben. Es wirkt zunächst wie eine launige Posse, eine Wiederbelebung des magischen Realismus mit einem Schuss Oulipo, wird aber letztendlich zu einem Text, der Grundsätzliches dort verhandelt hat, wo man als Leser*in davon überzeugt war, dass er sich exzentrisch seinen Themen auslieferte.

Kein Masterpiece, trotz mitreißender Geschichte


Für die Ewigkeit

Helmut Krausser hat in einer Vielzahl von Büchern bewiesen, dass er sich auf die richtige Mischung aus Melancholie und Drastik versteht, die seine Plots nicht nur zu spannenden und unterhaltsamen Geschichten, sondern zu erfahrbaren Auslotungen von Gefühlslagen und Schicksalen macht (darüber hinaus ist er ein großartiger Dichter, seine Lyrik, mitunter wunderbar bis schrecklich komisch, dann wieder meditativ, existenziell und alles dazwischen, ist jeder/m ans Herz zu legen).

Mit dieser Geschichte einer verbotenen Liebe im Südamerika des frühen 20. Jahrhunderts ist ihm allerdings nicht eines seiner Meisterstücke geglückt. Zwar sind hier nach wie vor der Witz und die sprachliche Direktheit vorhanden, die viele seiner besten Bücher auszeichnen, aber das Setting und die Figuren nehmen sich, trotz der Bewegtheit, die sie dann und wann verströmen, ein bisschen sentimental und überzogen tragisch aus. Man kommt sich vor wie in einem erfolgreichen, aber schnell an seinen Grenzen gelangenden Fernsehfilm, in dem Historie, Romantik und Spannung zusammengebracht werden sollen.

Natürlich fälle ich dieses harte Urteil von der hohen Warte aus, auf der Kraussers beste Werke zu finden sind. Objektiv betrachtet hat die schnörkellose, aber dennoch immer wieder feingliedrige Erzählung durchaus viel für sich und verdient meinen Tadel wohl nicht im vollen Umfang. Dennoch: dieses Werk hat mir nicht, wie so manch anderes von Krausser, neue Horizonte und Untiefen eröffnet (oder um die Ohren geschlagen). Es ist ein in sich gelungenes Zelebrieren des eigenen Plots, auch gut für eine schnelle und spannende Lektüre, aber keine Offenbarung. Krausser kann mehr.

Zu Jonathan Franzens “Das Ende vom Ende der Welt”


Das Ende vom Ende Jonathan Franzen ist das, was man einen streitbaren Intellektuellen nennt. So zumindest präsentierte er sich in seiner ersten Essaysammlung „Anleitung zum Alleinsein“, wo er sich gegen die große Vielzahl der Sexratgeberbücher aussprach und auch ansonsten eine ganze Reihe von entwicklungsskeptischen Texten vom Stapel ließ, die meisten getragen von einem Verlangen nach mehr kritischem Bewusstsein und vielperspektivsicher Wahrnehmung.

Im zweiten Essayband „Weiter weg“ wendete er sich mehr der Beziehung zwischen Leben und Literatur zu, allerdings waren auch hier noch die kritischen Ideale des Vorgängerbandes vertreten – und es finden sich dort bereits ein-zwei Texte über die Thematik, die in „Das Ende vom Ende der Welt“ zum Kernthema avanciert: Umwelt und Natur in hyper-kapitalistischen Zeiten und im Bann der Klimakrise (oder allgemein der menschlich verursachten Ungleichgewichte und Zerstörungen in allen Ökosystemen).

Franzen nimmt dieses Sujet von einer ganz eigenen Warte unter die Lupe: schon seit längerem ist er passionierter Vogelbeobachter und diese Leidenschaft hat ihn rund um den Globus geführt: nach Mittel- und Südamerika, in die Karibik, nach Albanien, Nord- und Südafrika, und sogar in die Antarktis. In etwa 50-60% der Texte in „Das Ende vom Ende der Welt“ berichtet er von diesen Reisen/Expeditionen, wobei er eine gute Balance wahrt zwischen den Schilderungen der Vogelbeobachtungen und den Berichten über die lokalen Gegebenheiten, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, unter denen die lokale Vogelpopulation leidet oder die Projekte, durch die sie geschützt wird.

Den Rest der Texte (bspw. ein Essay über das Werk von Edith Wharton, 10 Regeln für Romanautor*innen oder ein kurzes Dokument aus den Tagen nach 9/11) kann man getrost als Gelegenheitsarbeiten bezeichnen. Sie sind allesamt nicht schlecht oder überflüssig, wirken aber zwischen den anderen Texten eher wie Fremdkörper, bleiben ohne Anknüpfungspunkte und entfalten somit nicht ihr volles Potenzial.

Nun klingt ein Buch, in dem es hauptsächlich um Vögel, um die Beobachtung und die Darstellung ihres Überlebenskampfes in einer von Menschen dominierten Welt geht, erstmal nicht nach der spannendsten oder dringlichsten Lektüre, das ist mir bewusst. Dennoch würde ich sehr dazu raten, den Band zur Hand zu nehmen. Denn eben dieser Überlebenskampf und seine Umstände, die Franzen an verschiedenen Orten rund um den Globus schildert, und die Vögel selbst, mit ihrer Vielfalt und Schönheit, sind ein exemplarisches Beispiel für die Natur, die unseren Planeten so reichhaltig werden ließ, wie wir ihn vorfanden, und für die Arten und Weisen und kurzsichtigen Praktiken, mit denen wir diese Natur langsam aber sicher zerstören und uns selbst letztlich die Lebensgrundlagen entziehen.

Franzen zeigt dabei sehr schön auf, dass der Klimawandel hier nicht die einzige Bedrohung ist, sondern lediglich die umfassendste. Das Artensterben (und damit gleichzeitig das Sterben der Ökosysteme) – sei es nun bei Fischen oder Vögeln, Säugetieren oder Insekten – hat vielfältige Ursachen. Oft sind es Praktiken, zu denen schon Alternativen existieren, die sich nur endlich durchsetzen und/oder die gesetzlich verankert werden müssten.

Und lesenswert ist das Buch auch deshalb, weil Franzen es schafft, die Umweltthematiken nicht selten mit menschlichen Geschichten zu verbinden, ganz gleich ob es dabei um ein Ehepaar geht, das ganz allein einen großen Naturschutzpark aufbaut, um Menschen in den nordafrikanischen Ländern, die nicht verstehen, warum man Zugvögel nicht tonnenweise vom Himmel schießen sollte oder um seinen verstorbenen Patenonkel und die Geschichte, wie er dank ihm und einer heimlichen Liebe zu einer Reise in die Antarktis kam.

Nicht jede/r Leser*in wird etwas mit Franzens Vogelenthusiasmus anfangen können und das erschwert natürlich hier und da die Lektüre, auch ich tat mich teilweise schwer. Doch ich muss zugeben, dass ich seit der Lektüre einen frischen Blick auf mein natürliches Umfeld (soweit es in der Stadt existiert) gewonnen habe. Ich sehe wieder genau hin, wenn da etwas (abgesehen von den Menschen, die ich sofort als Personen wahrnehme) in meiner Nähe lebt, sich bewegt und an diesem unglaublichen Schauspiel teilhat, das den ganzen Planeten umspannt (es auf kleinstem Raum verkörpert). Oder besser gesagt: mehreren Schauspielen: Natur allgemein, heimisches Ökosystem, Evolution.

Franzens liebevolle Art, Vögel zu beobachten, zu unterscheiden und zu beschreiben, hat dieses neue Bewusstsein in mir angestoßen und ich glaube, dass es ihm darum auch geht: um mehr Empathie für die Natur, nicht nur aufgrund von wissenschaftlichen Fakten, sondern aufgrund konkreter Schönheit und Lebendigkeit. Die Menschheit muss diese Erde wieder als Ort vielgestaltigen Lebens begreifen, denn ohne dieses Bewusstsein, werden wir nie begreifen, was wir im Begriff sind zu verlieren, bevor es zu spät ist – für die Vögel und für uns.

“Die man nicht sieht”, der neue Roman von Lucía Puenzo


die man nicht sieht Meine erste Begegnung mit Lucía Puenzo hatte ich, als ich ihren Roman “Das Fischkind” las, ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckte. Später sah ich dann ihren Film “XXY”, den ich nach wie vor großartig finde – eine einzigartige Coming-of-Age-Geschichte, verstörend und einfühlsam.

“Die man nicht sieht” ist im Gegensatz zu diesen beiden eigenwilligen Werken fast schon konventionell (in seinem Plot, in seiner Narration) – was nicht heißt, dass nicht die übliche Finesse der Autorin zu erkennen wäre. Sie erzählt schnörkellos und beweist durchgehend ein Gespür für die Fragilität ihrer Figuren, ihr Nachgeben und ihr Drängen. Gerade bei einer Geschichte über drei Kinder kommt dieses Gespür voll zum Tragen.

Ein weiteres Talent von Puenzo ist die Verbindung einer spannenden Erzählung mit sozialkritischen Ansätzen. In “Die man nicht sieht” ist diese Verbindung besonders geglückt. Hier wird die Kluft zwischen arm und reich, zwischen dem Überfluss und der Armut – die in südamerikanischen Ländern längst schon gewaltige Ausmaße erreicht hat – am Beispiel einer Bande von einbrechenden Kindern geschildert, die den Reichen gerade so viel wegnehmen, dass sie es nicht bemerken.

Diese Geschichte wird im Verlauf des Buches durchaus noch recht brutal und Puenzo kombiniert die Sympathie für die Figuren geschickt mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit. Der Mix passt: “Die man nicht sieht” ist ein spannendes, realistisches und gleichsam aufrüttelndes Portrait südamerikanischer Gesellschaften, fesselnd und erschütternd, direkt und doch mit dem richtigen Maß an Entfaltung in den Beschreibungen. Lesenswert.

Zu Eduardo Galeanos Vermächtnis: “Geschichtenjäger”. Großartig!


Geschichtenjäger „Die Erde segelt dahin.
Sie trägt mehr Schiffbrüchige als Passagiere.“

Eduardo Galeano war einer der umtriebigsten linken Autoren des 20. Jahrhunderts. Fußballfan und Feminist, anprangernder Journalist und Geschichtenerzähler, Mythensammler, Aktivist und Herausgeber – die Breite seiner Interessen, die Größe seines Augenmerks und seines Bewusstseins für Ungerechtigkeiten, Verschüttetes und Tröstendes war enorm.

Diesem besonderen Gespür bot sich in Südamerika und seinem Heimatland Uruguay genügend Stoff dar. In einem seiner bekanntesten Bücher, „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (das in vielen der südamerikanischen Militärdiktaturen verboten war), zeichnete Galeano minutiös und akribisch die einstigen und derzeitigen Ausbeutungen und Zerstörungen des Kontinents und seiner indigenen und derzeitigen Bevölkerung nach. Auch in vielen seiner anderen Bücher war ihm vor allem daran gelegen, den Reichtum und die Grausamkeit des Daseins nebeneinander zu stellen und auch aus der kleinsten Perspektive heraus sichtbar zu machen.

Eduard Galeano, Ausländer (Lutz Kliche)

„Geschichtenjäger“ ist das letzte von Galeano noch abgeschlossene Buch (in der deutschen Ausgabe befinden sich aber auch noch einige Stücke aus seinem vor dem Tod begonnenen Buch „Kritzeleien“). Es ist, dies will ich direkt sagen, eines der schönsten, mannigfaltigsten, reichsten, aufrechtesten Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe. Es ist ein Schatz, ein Buch für alle Zeiten und Tage.

Wie soll man die zumeist nur eine Seite langen Kurzprosastücke dieses Büchleins beschreiben? Begebenheiten? Erinnerungen aus der Unzahl der Leben und Tode? Spuren der Ungerechtigkeit und der Schönheit? Verbrechen und Wunder? Phänomene? Nadelstiche, stechend und gleichsam ein großes Panorama nähend? Anekdoten und Fabeln? Zerschlagenes und Utopisches? Berichte von Courage und Ignoranz?

Eduard Galeano, Yucatan (Lutz Kliche)

Das alles deckt einen Teil der Texte ab und vernachlässigt manch anderes, eigensinniges oder plötzlich aus einer ganz anderen Richtung herbeiwanderndes Kleinod. Über Galeanos Buch kann man sagen, was man über die Erzählbände Julio Cortázars oft sagt: es sind keine Bücher, es sind Welten.

Bei Galeano bestehen diese Welten zu gleichen Teilen aus scheinender Transzendenz und harter Realität. Die Adjektive sind wichtig. Denn auf der einen Seite breitet er Mythenkosmen und Sagenstoffe aus, spielt sie an wie Melodien und es scheint daraus ein Glaube an den ewigen Kreislauf von Überwindung und Fehlschlag hervor, an die Kraft der Ideen und gleichzeitig Zerrissenheit der Existenz.

Eduard Galeano, Sonne und Mond (Lutz Kliche)

Auf der anderen Seite legt er ohne Ende die Verfehlungen, die ganze Ignoranz der menschlichen (und vor allem männlich dominierten) Gesellschaften bloß: Prüderie und Körperfeindlichkeit, Bigotterie und mangelnde Vorstellungskraft, Rassismus und Unterdrückung, Misogynie und Vorurteil – seine Geschichten aus der Realität handeln von all diesen Verbrechen und wie Menschen und Völker ihnen erliegen, sie verfechten und wie einzelne und viele sich ihnen entgegenstellen.

Eduard Galeano, Kleine Gaucho Gil (Lutz Kliche)

Ca. 250 dieser anekdotischen Fundstücke, erjagten und erinnerten Geschichten sind hier versammelt. Sie machen Mut, berühren, erschüttern, faszinieren und stimmen nachdenklich. Galeano liefert ein Panorama der Niedertracht und erzählt dazwischen von den Momenten des unbeirrbaren Widerstands, Fortschritts und von kleinen leuchtenden Beispielen, die sich wie Wunder aus dem Getümmel der sonstigen harten Fakten emporheben, die über den Globus wuseln, zusammenstoßen und sich vermehren, sodass man gar nicht glauben mag, dass ihnen jemand entgehen kann.

Hier und dort kann man dieser Härte entgehen, wenn man sich dem Ewigen zuwendet oder gegen den Sog der Härte ankämpft, für und für andere einen kleinen Flecken erstreitet, auf dem Ideen des Guten und des Wandels gedeihen können. Galeano erzählt von diesen Versuchen, vom Scheitern, vom Untergang und schafft es, dass man als Lesende/r, in diesen Darstellungen nicht bloß Ereignisse sieht, sondern Lektionen fürs Leben, Flammen, die bewahrt werden sollten, weil noch viel in ihrem Schein bewerkstelligt werden kann.

Ich kann wirklich nur jedem empfehlen, sich dieses Buch zuzulegen. Es ist ein Schatz fürs Leben. Ein Vermächtnis, ein glühendes, funkenschlagendes, strahlendes. Danke Eduardo Galeano. Für so vieles.

Eduard Galeano, Neugier (Lutz Kliche)

Und dank auch an den Peter Hammer Verlag, dafür, dass er seit vielen Jahren die Werke von wichtigen südamerikanischen Autor*innen wie Eduardo Galeano oder auch Ernesto Cardenal herausgibt.

Spanisch-Mexikanisches Generationenpanorama bei Antonio Ortuño in “Madrid, Mexiko”


   Spanien und Südamerika, eine geschichtsträchtige, schwierige Beziehung. Unter anderem geht es in Antonio Ortuños virtuos erzählter Familiengeschichte um die Differenz, die zwischen diesen beiden Weltgegenden, trotz ihrer unauslöschlichen Verbindung, liegt.

Aber eigentlich geht es um eine Familie und die einzelnen Geschichten, die die Generationen dieser Familie prägten; Geschichten voller Entschlossenheit und Ideale, aber auch voller Elend und Rache.

Da ist der jüngste Spross der Familie, der 1997 in Guadalajara vor einem Racheakt türmt, da sind seine Vorfahren, die in den Wirren der linken Fraktionskämpfe im spanischen Bürgerkrieg zu überleben versuchen und auch später in Mexiko die Ereignisse nicht hinter sich lassen können. Ums Überleben, darum geht es eigentlich die ganze Zeit, denn in beiden Strängen ist die Gefahr fast immer präsent, das Überleben nicht gesichert, so gut wie verspielt. Die guten Zeiten, von denen erzählt dieses Buch nicht, es erzählt von den Brennpunkten, den Katastrophen, den Kämpfen.

Gekonnt springt der Autor zwischen den Jahrhunderten und Jahrzehnten hin und her und steigert konsequent die Spannung und Dichte in jeder Geschichte. Seine Figuren sind plastisch, wirken hier und dort etwas heruntergebrochen, aber sie spiegeln auch nie vor mehr zu sein als sie sind. Das Buch besticht durch seine kompromisslose und einfache Darlegung, seine Hitze und seine Bedrohlichkeit, durch den Sog der Ereignisse und jeder Moment der Ruhe ist meist ein Moment der Ruhe vor dem Sturm.

In Teilen habe ich Ortuños Buch geradezu atemlos gelesen. Die Geschichte bannte mich, ich bangte, wann die Konflikte unausweichlich werden und wie alles ausgehen würde. Die Sprache bot sich mir die ganze Zeit über mit Bestimmtheit dar, ohne falsche Scheu, ohne große Gesten.

Man könnte also am Ende schlicht sagen: ein lesenswertes Buch. Keine metaphysischen Höhenflüge, dafür ein-zwei großartige Figuren, eine schnörkellose Schilderung, eine spannende Schilderung über Generationen hinweg, gekonnt zum Knäul verwoben, welches mit jedem neuen Sprung enger gezogen wird und ganz am Ende erst zerschlagen. Erzählt wird von Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen, die irgendwie überlebt haben.

Zu Tomas Espedals Buch “Wider die Natur”


“In dem Augenblick, als er sie sah, hatte er sein eigenes Alter vergessen.”

Lebensgeschichten sind meist auch Liebesgeschichten. Beide handeln zwangsläufig von Ewigkeit und Vergänglichkeit. In der Liebe wie im Leben kann der Mensch sich unsterblich fühlen mit dem, was er erlebt hat und glaubt erreicht zu haben. Und wie der Tod das Leben beendet, so endet auch die Liebe unvorhergesehen oder erwartet und reißt alles ein, was man erlangt hat; öffnet darunter eine tiefe Verletzlichkeit. Denn die weiche Stelle, an der eben noch die Liebe lag, ist plötzlich der Vergänglichkeit ausgesetzt, die kalt ist und gleichzeitig diese weiche Stelle verbrennt mit dem Gedanken an alles, was nun entbehrt muss. Eigentlich bleibt viel, nämlich alle Liebe, die bereits war; aber plötzlich wirft dieses helle Licht der Vergangenheit tiefe Schatten auf die Gegenwart.

Das Ende der Liebe ist ein kleiner Tod, nur, dass man danach weitermachen muss. Vom Lieben und vom Weitermachen, vom Glücksversuch und vom Schmerz, handelt dieses Buch. Es ist eine Geschichte von der Unsicherheit, die man irgendwann als in der Liebe beheimatet erkennt; der Ferne, die alle Menschen um sich haben und die überbrückbar scheint, eine Durchquerung wert, wenn wir lieben. Es ist eine Lebensgeschichte, eine Biographie, die bei der frühen Liebe einsetzt, weitergeht zu Frau und Kind, und endet bei der großen Liebe zu einer jüngeren Frau. Nichts davon löst das Versprechen ein, hier geschehe etwas “Wider die Natur”. Wenn überhaupt geht es darum, dass in der Natur, die wir sind, diese seltsame Einrichtung der Liebe ganz unumgänglich und trotzdem unmöglich ist, was sich verändert von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt.

“Begriff ich, was für ein Glück darin bestand, dass sie auf dem Sofa lag und las? Dass wir zusammen Abendessen würden? Ich dachte nicht darüber nach; ich war glücklich?”

Es ist auch ein Buch über das Glück. Und als solches hab ich es gelesen. Die Frage danach wird in Espedals Buch selten so offen gestellt wie in diesem Zitat, schwingt aber hinter allen Geschichten mit, weil es ja letztlich darum geht, wenn man die Hollywoodliebe beiseitelässt: darum, wie man Partnerschaften und Liebe in sein Leben integrieren kann, wie diese Beziehungen unseren Lebenswege unverhofft kreuzen und bestimmen. Und wie wir darauf aus sind, aus diesem Umstand Glück zu münzen, was aber immer wieder eine frustrierende Angelegenheit ist, denn da sind zwei Menschen, zwei Vorstellungen vom Glück, und man kann nie wissen, ob sich diese Vorstellungen aufeinander zu bewegen oder schon wieder am Auseinanderdriften sind.

Es ist ein poetisches, gesetztes Buch. Es ist fast durchgängig tiefgreifend geschrieben, was es in gewissem Sinne besonders macht. Aber dieser Stil kreiert auch eine Oberfläche, die ein bisschen wie eine eingehaltene Sorgfalt wirkt und mich daher nicht ganz mitgerissen hat. Ich konnte an dem Buch viel gewinnen, aber viel erlebt habe ich bei der Lektüre nicht und auch über die Liebe hat das Buch zwar viel zu sagen, auch viel Greifbares, aber bleibt trotzdem vor vielen Schwellen stehen, statt sie zu übertreten.

Ein Buch, das einen schnell neugierig macht, das man schnell mit Erwartung liest. Diese Erwartung wird gleichsam eingelöst und gleichsam nicht. Wie in der Liebe.

Octavio Paz – als großer Dichter wiederzuentdecken


“Zwei Körper Aug’ in Auge
sind manchmal zwei Wellen,
und die Nacht ist ein Ozean.
[…]
Und wenn du sie schließt,
überflutet dich innen ein Fluß,
eine sanfte verschwiegen Strömung dringt an und
macht dich dunkel:
die Nacht netzt Ufer in deiner Seele.”

Die Literatur Südamerikas bleibt nach wie vor eine der magischsten Erfahrungen von Lektüre, egal wie bekannt sie mittlerweile geworden ist, wie sehr dieser Kontinent literarisch „erschlossen“ ist. Und in dieser Magie steckt eine Vielschichtigkeit, die sich von Jorges Luis Borges bis zu Mario Vargas Llosa, von Pablo Neruda bis zu Cortazar, von Alejo Carpentier bis zu Gabriel Garcia Marquez erstreckt und eine Strecke, die durchzogen ist von einer bunten und doch perlendunklen Eigenart, wie sie Ausdruck einer nahezu unerreichbaren Welt in (oder außerhalb) der eigentlichen Welt zu sein scheint.

Octavio Paz, Nobelpreisträger 1990 (die Geschichte der südamerikanischen Literatur ist auch die Geschichte vieler verliehener und vieler zu Unrecht nicht zuerkannter Nobelpreise), ist vor allem für das Werk bekannte, in dem er die Identität Lateinamerikas einfangen wollte: Das Labyrinth der Einsamkeit. In Romanen oder Erzählungen hat er sich nie besonders hervorgetan, seine Dichtung und sein Engagement kennzeichnen ihn aber bis heute als einen der großen Geister und Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts.

“Dem Flockengewand, dem Pflaumenbaum
Lebwohl sagen, und dem Vogel dort,
der ein einziger Windhauch ist auf einem Zweig.”

Der Band „Gedichte“, der Texte aus den Jahren von 1935-1974 + einige damals unveröffentlichte Werke enthält, kann neben Suche nach einer Mitte: Die großen Gedichte als beste Auswahl der Lyrik von Paz gelten; diese hier ist etwas vielschichtiger und repräsentativer, während die andere vor allem Kernwerke von Paz, die auch großen Einfluss auf die Lyrik seiner Generation ausübten, enthalten.

“Pause aus Blut zwischen dieser Zeit und einer anderen, ohne
Maß.”

Vom träumerischen zum wahrhaft Transzendenten ist es ein schmaler, aber dennoch meist klarer Schritt. Wer käme schon darauf Celan als träumerisch zu bezeichnen? Bei Octavio Paz ist das Ganze nicht so einfach und ich glaube man könnte ihn sowohl als träumerisch-phantastischen (bisweilen surrealen), als auch als transzendenten, geistlich-forschenden Dichter lesen, bei dem die Übergänge fließend sind. Zum Beispiel diese Zeilen:

“Eine Frau mit den Regungen eines Flusses
Mit durchsichtigen Wassergebärden
Ein Mädchen aus Wasser
Darin zu lesen was vorübergeht und nicht wiederkommt”

Eine Liebeserklärung, eine wörtliche Formung der weiblichen Schönheit, eingefangen in der Metapher eines Flusses, die sie fast völlig umgibt; aber spätestens in der letzten Zeile wird einem auch die Doppelbödigkeit dieser Allegorie bewusst. Immer noch geht es um die Schönheit, aber um eine sehr viel transzendentere Geste ihrerseits, dem Hinweis auf die Vergänglichkeit, die Paz hineinwebt. Diese zusammengeführte Essenz aus poetischer, auch seichter, Schönheit und einem klaren, manchmal offenbarenden Ansatz zur Durchleuchtung viel tieferer Grundsätze der dargebotenen Bilder und Szenen – das ist Octavio Paz im Kern.

Cortazar sprach in einem Essay einmal in Bezug auf Luis Cernuda von “Sinnen in der Welt”. Ich glaube, dass diese leicht abstrakte, aber nichtsdestotrotz gelungene Bezeichnung auch sehr gut das beschreibt, was im Werk von Paz geschieht, das Schreiten der Stimmen, die sich die Sinne in der Welt zu eigen machen, zum Beispiel wenn Paz schreibt: “Weiße Gärten die bersten in der Luft.”

“ich falle von Geburt an ohne Ende,
falle in mich selbst, ohne Grund zu finden,
nimm mich in deine Augen auf, vereine
meinen zerstreuten Staub, versöhne
meine Asche, binde meine zerteilten Knochen,
hauche über mein Sein, in deiner Erde
begrabe mich, dein Schweigen gebe Frieden
dem Denken, das sich selbst zerwütet”

Manchmal gibt es auch leicht religiöse und “gesängliche” Komponenten in Paz Dichtung und auch andere bekannte dichterische Mittel, wie Persönliches, Erlebtes und Analysiertes. Aber bei all dem ist Paz nie ein entrückter Dichter (außer vielleicht in seinem Langgedicht “Sonnenstein”, wobei es sein kann, dass gerade dies im Gegenteil auch als sehr nah und natürlich angesehen wird) und ein Denker, denn der bildliche Verweis auf einen Gedanken und eine Regung mehr interessiert als ein Spiel der abstrakten Begriffe und Gegenbegriffe. “Die ersehnte Wirklichkeit/ sehnt sich” heißt eine Zeile, eine treffliche Beschreibung für die Absicht hinter seinen Zeilen.

“Alles ist Türe
Es genügt der leichte Druck eines Gedankens
[…]
Alles Schlachten haben wir verloren
jeden Tag gewinnen wir ein
Gedicht”

Worte können purer Raumstaub sein, Verbindungen ohne daraus entstehende Symmetrie; doch wenn ein Dichter es schafft, dass eine Kombination ganz bestimmter, auch einfachster Wörter, in uns die Entsprechung eines Vorgangs, einer Idee, einer Erinnerung belebt und ausführt, hat er nicht nur unseren Glauben an die Sprache geschaffen, wie wir ihn tief ins uns sinken lassen bei jeder Lektüre, sondern auch einen Teil unserer Selbst einen kurzen Moment erhellt, hat gezeigt wie groß wir doch sind und wie tief die Welt.

“Mit klaren Zügen schreibt der Dichter
Seine dunklen Wahrheiten
Seine Worte sind kein öffentliches Denkmal
Auch kein Reiseführer des rechten Wegs
Aus dem Schweigen sind sie geboren
Öffnen sich auf Stengeln des Schweigens
Wir betrachten sie im Schweigen
Wahrheit und Irrtum
Eine einzige Wahrheit
Wirklichkeit und Sehnsucht
Eine einzige Substanz
Gelöst im Quellsturz durchsichtiger Klarheit.”

-Essenz der Nacht, wie sie uns einnimmt und verstößt wie Wellen-: “Nachtflug” von Saint-Exupéry


“Vor einem offenen Fenster blieb er stehen und umfasste mit innerem Blick die Nacht. Sie schloss sich um Buenos Aires, aber auch um ganz Amerika, wie um ein riesiges Schiff. Nichts ungewohnte für ihn, so im großen zu denken. Der Himmel von Santiago de Chile, ein fremder Himmel – aber war einmal ein Kurier unterwegs dorthin, so lebte man, von einer Linie bis zur anderen, unter derselben riesigen Wölbung.”

Als beeindruckende Dokumente von Schicksal und Dasein des Menschen haben sich seit jeher weniger die philosophischen Schriften oder die politischen Reden, sondern ein paar Stücke der darstellenden Kunst in Text und Bild erwiesen. Es ist dort oft nicht der große Wurf, sondern das kleine, manchmal sehr ferne, spezielle Beispiel, das die Fragen nach Grund und Glück der menschlichen Existenz aufgreift und uns mit seiner Botschaft durchdringt, fesselt und sogar kurze Zeit bin in unsere Tiefen hinein erleuchtet. Es sind Bücher und Filme, denen wir nicht auf der Ebene “Betrachtung eines Kunstwerks”, sondern sehr viel persönlicher begegnen. Es geht darin nicht vorrangig um ein großes Geschehen und manchmal nicht einmal so sehr um die menschlichen Figuren, die daran teilnehmen (die mehr Blitze sind und nicht das Gewitter), sondern um das Wesen der Dinge selbst – wie es in Saint-Exupérys Buch “Nachtflug” um das Wesen der Nacht und die Taten des Menschen geht und wie sich beides zu etwas Unausweichlichem, Zentralen und Metaphysischen verbindet, wo sie aufeinandertreffen, und doch die nahe Spannung eines Erlebnisses behält.

“Rivière denkt an Herrlichkeiten, die in der Tiefe der Nacht verborgen sind wie in einem Fabelmeer… Die Apfelbäume, die den Tag erwarten mit all ihren Blüten im Finstern.”

Drei Flieger sind es, die die Nacht über Südamerika, von Chile, Patagonien und Ascension aus, durchfliegen, um in Buenos Aires zusammenzutreffen und dort die gesammelte Post für den Europaflug abzuliefern, der dann um 2:00 Uhr Morgens nach Osten abhebt. Jede Nacht ist es ein Spiel mit den Unwägbarkeiten des Wetters. Wo eben noch klarer Himmel ist, kann in zwei Stunden ein Sturmtief oder ein Gewitter sein und die Maschinen sind darauf angewiesen, regelmäßig zu landen und zu tanken und dazu braucht man in der Nacht klare Sicht. Es ist ein Tanz aus Erleichterung, Pflicht, Furcht und Dunkelheit und Glück, den Piloten und Organisatoren der Nachtlüge in jenen Stunden durchleben. Das Aufsetzten eines der drei Flugzeuge, die Wettermeldungen, die mit Angaben wie “zu drei Vierteln bedeckt” die Unruhe anfachen und die tiefe Bodenlosigkeit der Nacht erahnen lassen, diesem Geschöpf, das zugleich so freundlich, lieblich, unvergesslich und doch auch grausam ist – das alles kommt in diesem dünnen Buch, dieser kleinen Geschichte zusammen. Einer Geschichte, die, wie eine Meditation, keine wirklichen Aufs und Abs kennt, nur das Atemholen und das Atemanhalten; die gipfelt in der Nähe und der Entfernung, die in der Nacht zu einem Gefühl verschmelzen; die spricht von der Ratlosigkeit angesichts der großen Entfernung zwischen Ländern, Menschen, Sekunden und Stunden.

“Wir wollen nicht ewig leben, aber wir wollen nicht alles tun und alle Dinge plötzlich ihren Sinn verlieren sehen. Dann zeigt sich die Leere, die uns umgibt…”

In diesem Satz hat Saint-Exupéry etwas von dem eingefangen, was den Menschen ausmacht. Den Menschen der täglich arbeitet, der Entscheidungen treffen muss, bei denen es keine Gewinner geben kann, nur Betroffene und Nichtbetroffene. Die Piloten, die einsam kämpfen und andere, die für viele kämpfen und doch nur wollen, dass ihre Kinder nachts ohne Furcht schlafen können. Es ist die große, beinahe unscheinbare und doch interstellare Poesie und Kraft, die dieses Buch so beeindruckend macht; es trägt einen die ganze Zeit, während der ganzen Lektüre zieht es einen mit sich, stets bang und doch unentwegt. Als hätte es der Autor geschafft, unseren eigenen Herzschlag an das Geschehen anzuschmieden, was sich erst knapp vor dem Ende langsam löst.

Es gäbe noch viele Zitate, viele Anmerkungen, denn der Raum, den dieses Buch durchschreitet, ist nicht abzumessen; jeder Tropfen Poesie daraus zieht weite Kreise in der eigenen Seele, im eigenen Verstand und es ist letztlich die eigene Entscheidung, wie man mit den Intuitionen zwischen Buch und Leser umgeht. Die Tatsache, dass dieses Buch wie ein Dialog ist, dem man lauscht und so eigene Fragen sich aufwerfen und eigene Ansichten und Momente erkannt werden, macht dieses Buch zu einem kleinen, freien Meisterwerk. Einem Buch, das jeder einmal gelesen haben sollte.

“Des Menschen Schicksal scheidet sich an der einzelnen Tat, in einer Welt voller Menschen, die du Leben nennen kannst oder auch Glück – es gibt keine Namen, es gibt keine Versprechen: es gibt Tag und Nacht.”
Rene Char

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen.

Zu den großartigen Erzählungen von Julio Cortázar


Die Nacht auf dem Rücken Julio Cortázar, geb. 1914 in Brüssel, gest. 1984 in Paris, war, trotzdem er in Europa geboren wurde und starb, einer wichtigsten südamerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Für mich ist er, vor allem aufgrund seiner Kurzgeschichten, eines der erstaunlichsten Phänomene in der Welt der Literatur.

Wegen dieser Kurzgeschichten wurde er u.a. auch der “Südamerikanische Kafka” genannt. Einige seiner Prosastücke haben in der Tat eine kafkaeske Note: die Bedrohlichkeitsszenarien und Unwägbarkeiten ähneln denjenigen, mit denen sich Kafkas Figuren konfrontiert sehen, auch die Sprache hat manchmal etwas von der fachlichen und gleichsam präzis-lebendigen Substanz, die die Sprache Kafkas auszeichnet.

Doch bei all diesen Ähnlichkeiten sind Cortázars Erzählungen ungleich phantastischer und durchzogen von mythischen und übernatürlichen Elementen und arbeiten auch dezidierter mit Spannungsbögen, Suspense und Drastik. Aus den Winkeln seiner Plots schleicht das Unbehagen nicht herbei, es liegt dort auf der Lauer, bereit zum Sprung, die Muskeln gespannt. Andere Texte beginnen mit Situationsanordnungen, die zunächst irritierend wirken, sich dann aber immer mehr wie eine schreckliche oder zumindest zwingende Realität anfühlen. Kaum ein Autor hat es wie Cortazar geschafft, die Gesetze des Daseins in seinen Erzählungen zu modifizieren, ohne die phantastischen Elemente dabei allzu weit von den Spannungsfeldern der Wirklichkeit zu entfernen – von seinen Fiktionen zuckt so mancher Blitz zu den den realen Emotionen Angst, Verwirrung, Begierde, etc. herab.

Doch Cortázars Texte bieten nicht nur Albtraumhaftes und Bizarres (weitere Verwandtschaften sind hier Edgar Allen Poe und Mary Shelley), sondern auch Berührendes, Tieftrauriges und Komisches und manche Geschichte ist schlicht ein Spiel mit der Perspektive und den allgemeinen Erwartungen der Lesenden. Dieses metaexperimentelle Element wird vor allem in seinem bekanntesten Roman „Rayuela“ deutlich, der aus Kapiteln besteht, die man in unterschiedlichen Reihenfolgen lesen kann.

Der Kosmos seiner Motive speist sich gleichsam aus europäische wie aus südamerikanischen Kontexten. Allein wegen dieser Vielfalt sind seine Kurzgeschichten sehr lesenswert. Bei Suhrkamp gibt es vier Bände mit gesammelten Erzählungen – ein Werk mit dem man sich sein Leben lang beschäftigen kann.