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Eine Reise den Fluss hinab und zu den Untergründen menschlichen Daseins


Obgleich es in Olivia Laings erstmals 2011 erschienenen Reiseessay viele literarische Bezugspunkte gibtallen voran Virginia Woolf, aber auch Kenneth Grahame, Iris Murdoch, Lewis Carroll, um nur einige zu nennenfühlte ich mich schon zu Beginn der Lektüre vor allem an ein knapp fünfzehn Jahre vorher erschienenes Buch erinnert, nämlich W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn.

Im Zentrum beider Bücher steht eine Wallfahrt, die angetreten wird, um einer inneren Leere zu entkommen. Bei Sebalds Ich-Erzähler ist es der Abschluss einer größeren Arbeit, bei Laing das Ende einer Liebesbeziehung. Natürlich ist Laings Reise echt, während Sebalds nur Fiktion ist, aber gerade deshalb ist es faszinierend, dass sie oberflächlich betrachtet zahlreiche Ähnlichkeiten aufweisen.

Da ist zum Beispiel die Tendenz, die Umgebung zu einem Abbild, einer Chiffre der Menschheitsgeschichte zu machen. Beide, Sebald und Laing, ziehen mit Vorliebe Details heran, Beobachtungen, und schlagen aus ihnen ein paar Funken, in deren Licht man mit einem Mal tiefe Einblicke in Mythologie, Zivilisation und Philosophie erhält. Beide beschreiben wie sie von der Welt um sie herum mit dem Menschsein konfrontiert werden, seiner Erhabenheit und seiner Nichtigkeit.

Und beide Werke, Saturn und Fluss, tragen außerdem ein nie endendes Memento Mori mit sich: Vergänglichkeit ist sowohl in Sebalds Prosa, seiner Schilderung des Verfalls und der Unwirtlichkeit des ländlichen Suffolks, als auch bei Laings flirrend-essayistischen Reiseschilderungen, den Fluss Ouse hinab, ein ständiger Begleiter der Narration und sogar beide Titel sind Metaphern für das Auseinanderfallen bzw.

Vorbeirinnen der Dinge.
Freilich gibt es auch Unterschiede. So sind Laings Schilderungen nicht selten in zärtliche Melancholie getaucht und mit einer liebevollen Offenheit geschrieben, die Sebalds Buch nicht besitzt, da es mehr zu einer gemessenen Ironie neigt. Was bei Sebald Entropie ist, ist bei Laing immer noch Pracht, sei es auch verfallene, entgangene Pracht. Bei ihr ist alles unmittelbarer und deshalb manchmal auch unstet, bei Sebald hat alles seinen Platz, der Stil ist präzise und geschliffen.

Man könnte es auch anderes formulieren: Bei Laing geht es um die Dinge, auf die es ankommt, bei Sebald um das, was fehlt. Sebalds Prosa schürt ein Ende, Laing einen immerwährenden Neuanfang, eine Wiederholung, an der man noch teilhaben kann.

“Zum Fluss” ist ein tröstliches Buch. Es zeigt uns, dass wir einfach nur den nächsten Wanderweg nehmen, in die nächste ländliche Ecke der Welt fahren müssen, uns zum nächsten Fluss oder Meer begeben können, um wieder ergriffen zu werden vom ganzen Schauspiel der Natur und seinem Nachhall in all unserem Tun und Denken. Zwar erinnert es uns permanent an das Verschwinden und Enden, entsinnt sich aber in diesem Erinnern und Aufzählen auch permanent des Glücks, der Freude, des Genusses.

Kurzum: ein Buch, das viel zuwege bringt und in das man sich versenken, mit dem man sich treiben lassen kann. Wer an geradliniger Narration interessiert ist, dem*der dürfte der Stil zu viele Abzweigungen nehmen. Wer aber essayistische Prosa schätzt, die weite Bögen spannt und dann wieder Unmittelbares schildert, sich also hin und her, auf und ab bewegt, dem dürfte Olivia Laings Wanderung an der Ouse eine schöne Zeit bescheren.

Impression Zu Sebalds “Die Ringe des Saturn”


Die Ringe des SaturnsW.G. Sebald begibt sich auf eine (fiktive) Wanderung in zehn Kapiteln durch die englische Grafschaft Suffolk – eine Gegend, die scheinbar genauso gut auf dem Mond liegen könnte. Die Orte, die er dabei passiert und aufsucht, haben stets einen leichten Anstrich des Wunderlichen und Verhärmten. Ständig werden die Asche und der Staub in den Dingen evoziert, und durch die Weite der Perspektive, auf die Vergänglichkeit hinter allem gerichtet, könnte man meinen, Sebald beschreite die Umlaufbahn eines verwaisten Planeten. Geschildert wird das Anwesende nur im Kontrast zu seinem Verfall, seiner Leere; das Entschwundene türmt sich und wirft hohe Schatten auf alles.

Heiden, Felder, Wälder, gleichförmig und -farbig fast, in denen einst dann und wann die Herrenhäuser der Neureichen und Altadeligen standen und über deren Bewohner es viele wundersame Geschichten zu erzählen gibt, die alle aus den erstaunlichsten Kompendien stammen, von denen man kaum weiß, ob man an ihre Existenz glauben soll. Eine Landschaft aus Papier und Vergangenheit.

Menschenleere, anberaumt. Ferne Zeiten, der Landschaft noch geläufig in ihrer abgewandten Seite, aber bereits abgezogen von den Wänden der Geschichte, überholt, verstorben schließlich. Gab es die Welt, die abgezogen wurde, wirklich; ist sie vielleicht sogar wirklicher als die Wirklichkeit, die, aggressiv und unübersichtlich, keine Landschaften erschafft, sondern sie bloß verenden lässt und zerstört? Aber dieses Zerstörungswerk begann schon früher und Sebalds Buch ist eine Chronik dieser Zerstörung, an deren Endpunkt wir noch nicht angekommen sind. Und vielleicht sind diese Landschaften, für sich belassen, die einzigen Orte, die der sonstigen weltweiten Zerstörung irgendwie trotzen, in ihrer Abgewandtheit, und weiter existieren, in Starre.

Sebalds Sprache ist wie ein Tiefdruckgebiet, das einen Wind mit sich bringt, der alles entschleunigt und bis auf ein absolutes Minimum an Lebendigkeit drückt, dafür alles Einstige als aufragende Gestalt hervortreten lässt – auf diese Gestalten fällt ein Regen voller unsentimentaler Wehmut und die Welt, die Landschaft, ist unwirtlich, entropisch und wird sich immer tiefer in eine sanfte Unmöglichkeit begeben, so fühlt es sich an.

Ein großartiges Buch, besinnlich, meditativ, einzigartig, eine literarische Erfahrung der besonderen, fast extraterrestrischen Art.