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Zu Meret Oppenheims “Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich”


„Ein merkwürdiger Erdteil
In weiße Tücher gewickelt
Rollt die gewundene Treppe
Eines Hauses hinunter
Man rollt ihn (Zeremonie)“

Was ist ein surrealistisches Gedicht? Am Anfang wird ein Erdteil in weiße Tücher gewickelt (unschuldig? ein Gespenst?) und wie ein Teppich (willkommen sein? Ausbreiten?) die gewundene Treppe eines Hauses hinuntergerollt.

Die Behauptungsstruktur, die jedes Gedicht natürlicherweise hat, und die es ihm unter anderem ermöglicht, mit Metaphern ungewöhnliche Bildbeweise zu führen – in einem surrealistischen Gedicht wird sie auf eine gewisse Weise zur heftigsten Erfüllung und zur Selbstzerstörung getrieben. Man kann einen Erdteil nicht die Treppe hinunterrollen – diese Dimensionen werden der Wirklichkeit nie gelingen, sie gelingen nur dem Gedicht. Somit verliert dieser Text sofort die intime Glaubwürdigkeit, die erst einmal jedes Gedicht besitzt, das von etwas spricht, das uns auch angehen könnte.

Allerdings, wie schon im ersten Abschnitt angedeutet: die Bezüge, die die von der Realität getrennte Behauptungsstruktur nun aufbaut, können sehr vielfältig auf die Wirklichkeit zurückverweisen, gerade weil sie an keine konkreten Bewegungsabläufe und Verbindungen mehr angewiesen ist, stattdessen eigene Verbindungen anbringen und ihren Begriffen eine Weite und Suggestivität geben kann.

„Von Beeren nährt man sich
Mit dem Schuh verehrt man sich
Husch, Husch, der schönste Vokal entleert sich.“

Der schönste Vokal entleert sich. Noch das sinnigste Gedichte, die schönste Wendung, der trefflichste Vers, sie entkommen nicht ihrem Dasein auf dem Papier. Das Widersinnige in Meret Oppenheims Gedichten ist nicht das Sinnlose, sondern die Suche nach einer in den Winkeln der Assoziation – nebst Kontemplation, nebst Verschriftlichung – sich bahnbrechenden Bestimmtheit, Wahrheit, Wirklichkeit. Die Formulierungen erscheinen waghalsig, ja, sogar entleert vielleicht, aber ihnen fehlt die wichtigste Eigenschaft zum entleert sein, denn man befragt doch jedes Bild.

„Für dich – wider dich
Wirf alle Steine hinter dich
Und lass die Wände los.“

Satz für Satz zur Aussage, fast. Man kommt den Gedichten nicht bei, man entkommt ihnen gleichzeitig nicht. Ihrer fragwürdigen Banalität, ihrer eindringlichen Einfachheit. Dem Wissen, dass sie Erzeugnisse sind, hinter denen alles stehen kann, das Fassungslose wie das Aufrichtige.

„Ein Springbrunnen braungoldener Federn
Die Pilze lösen sich vom Boden und schweben
Von der warmen Luft getragen
Bis an die Wolken.“

Außer Gedichten enthält das Buch noch einige wenige Bilder (Fotos, Gemälde), sowie einige zusätzliche Materialien, darunter ein sehr luzider und stark motivisch arbeitender Entwurf zu einem Drehbuch über Kaspar Hauser. Die Wunderlichkeit dieser Existenz und gleichzeitig das Fatale dieser Existenz, beides wird eingefangen und auf die zwei Seiten einer Münze geprägt, die sich im Text dreht und dreht.

Dann noch ein wunderbarer Text über Bettine Brentano, ein Gesprächsprotokoll, in dem auch einige von Oppenheims eigenen Bekenntnissen und Ideen einfließen. Das Nachwort hat mir persönlich nicht so viel gegeben, ja ich fürchte sogar, es verbaut einem vielleicht Perspektiven, aber wer von der Motivation der Künstlerin geleitet werden will, ist trotzdem gut beraten es zu lesen.

Opera / Choral – Jean Cocteau, Gedichte zum Ersten


“Dass ich vom Zufall des Mysteriums profitier,
Von Himmelsfehlern auch, ich muss es eingestehen.
All meine Poesie liegt darin: Ich kopier
Das Unsichtbare bloß (nur könnt ihr es nicht sehen).”

Jean Cocteau – vielleicht der einzig wahre entfant terrible der frz. Literatur; exzessiver als Rimbaud in seinem Leben, konsequenter als Apollinaire in seinen Dichtungen, visionärer in seien Abgründen als Genet. Und doch hat er eines der schönsten, geheimnisvollsten und einzigartigsten Bücher aller Zeiten geschrieben: Kinder der Nacht. Hinter diesem Meisterwerk muss vieles zurückstehen, sowohl die griechisch-antik orientierten Anarchie-Dramen und auch die sonstigen Prosawerke, ebenso wie die Gedichte.

“Hier singt die Nachtigall wie unsre Welt verendet;
Gott kommt als Freund daher in ihrem Tränenschwall.
Ein Stoß trifft sie ins Herz, ein Kiesel, abgesendet
Von einer Schleuder, holt herab die Nachtigall.”
[…]
“Matrose, steh auf, die Geographie!
Auf Sternenzweigen wiegen sich die Vögel,
Judas, wieder erkannt auf der Photographie,
Der Engel hängt im Netzwerk seiner Segel.”

Französische Dichter haben den Hang elementare Dichter zu sein; in ihrem Land sind fast alle neuzeitlichen Schulen gegründet und jede Art von Avantgarde betrieben worden – und die wichtigsten Dichter Frankreichs sind bis in die heutige Zeit für ihre extravaganten Dichtungen bekannt, selbst der fast schon klassische Francois Villon (wobei Victor Hugo eine Ausnahme sein mag.)

“Was ich auch tue, ich errege Anstoß”, soll Jean Cocteau einmal gesagt haben. Sicherlich hat er damit nicht nur sein Leben, seine Affären mit Männern und Frauen (unter denen sich auch einige Adelige befanden), seine Opiumsucht und seine zeitweilige Sympathie für fragwürdige Systeme wie den Faschismus gemeint, sondern vielmehr sein vielfältiges künstlerisches Werk, dass sich vom Film über die Literatur bis hin zur Malerei erstreckte. Cocteau, der immer darauf bestand, nur Dichter zu sein und der sein gesamtes Werk “Poesie” nannte, wird heute in seiner Funktion als Universalgenie, viel zu oft übersehen. Sein dichteres Werk ist bei all dem noch am meisten klassischen Formen und persönlichen Themen verpflichtet.

“Der Schlaf ist eine Fontäne.
Versteinernd. Der Schläfer nickt ein,
Die ferne Hand wird ihm Lehne,
Er selber zum farbigen Stein.”

Die beiden hier enthaltenen Lyrikbände Cocteaus, “Opera” und “Choral”, sind die frühsten lyrischen Arbeiten. Das erste, Opera, ist ein ziemlich wüster Zusammenschnitt aus Gedichten, Prosaskizzen und 3-4 sehr kurzen Dialogen; es sind allesamt Farbengemische, Spielereien, unter dem Einfluss von Opium und surrealistischen Ästhetikansätzen entstanden. Ihre große Bilderkraft, ihre Spektraltiefe und ihre schwimmende Leichtigkeit, sind sehr konträr gesetzt zu den teilweise sehr bizarren Windungen, die vor allem die Prosaskizzen aufweisen. Vieles wird wild durcheinander geworfen, verfremdet und gleichzeitig assoziiert. Wer Opera lesen will, wird sich wahrscheinlich vorkommen, als hätte man ihn mit Poesie übergossen. Wiederum: einige wunderbare Bilderflecken wird man so leicht nicht mehr aus dem Mantel seines Gedächtnisses herausbekommen.

Die Zusammenstellung für “Opera” entstand in einen Sommer, den Cocteau im Hotel Welcome an der Côte d’Azur verbrachte. Er schrieb sehr viele Gedichte und nur wenige, die gelungenen, wählte er dann für “Opera” aus, sodass dieser Band mehr eine Collage, ein Magazin, ein Lesebuch darstellt, eine Verbindung heterogener Ideen und Ansätze.

“Choral”, der zweite Band, geht in eine ganz andere Richtung. Er setzt sich aus homogenen, strengen Versen zusammen; in der Mitte wandelnd zwischen Tradition und seinen eigenen kreativen Heimsuchungen, hat er mit diesen Liebesgedichten an seinen Freund Raymond Radiguet eine tief zerrissene Poesie der Sehnsucht und der Vereinnahmung erschaffen, ein Sinnbild, das in Schwarz und Weiß, gleichsam Verlangen und Vergehen, Liebe und Tod, zeigt; das Buch erschien kurz vor Radiguets Tod an Typhus im Jahr 1922. Es ist ein Bekenntnis und ein zutiefst menschliches Werk.

“Wir müssen uns beeiln, die Zeit verrinnt ja bald,
Lass uns Enthaltsamkeit und Ruhedurst verneinen.
In ein paar Tagen, da wirst du noch jung erscheinen,
Ich jedoch nicht. Ich bin jetzt dreißig Jahre alt.”

Cocteaus Gedichte sind eine Sache für sich, wie so oft bei französischen Dichtungen. Ihre Triebfeder und ihren Glanz, stellen nur die Gedichte selbst, mit ihrer nie endenden Suche in den Schatten. Einzigartig bildervoll und bilderscheu, dabei immer wieder unwillkürlich, in Farbengemischen zwischen Tiefschwarz und “Sonnenlichtdurchpiniennadelnmandelgelb” wandelnd, so bewegt sich Cocteaus Lyrik. Manche werden meinen, dass solche Dichtung uns nichts wirklich zu sagen hat; doch andere halten dagegen: Immer wieder aufs Neue hat sie uns etwas Neues zu sagen.

“Der Himmelsbaum war mein, Gewächs von Adernschlingen.
Wo Stille als Musik aus Bambusflöten dringt,
Wollen Chinas Henker mich gleichwohl zum Schweigen bringen
Und streicheln zart den Tod, damit es auch gelingt.”
[…]
Ich sang, die falsche Uhr der Zeiten zu betrügen,
Auf mannigfache Art.
Das hat vorm Drang der Gewohnheit Lob zu lügen
Und noblem Eis bewahrt.”

Link zum Buch

Kleine Impression zu Cocteaus “Kinder der Nacht”


“Ich will nicht schlafen. Das lässt sich nicht träumen.”
Aus einem Gedicht von Günter Grass

“Ob ich schreibe, ob ich filme, ob ich male – ich errege Anstoß.”
Jean Cocteau

Cocteau ist einer dieser Dichter (denn als Dichter bezeichnete er sich sein Leben lang, auch wenn er vor allem Filme machte und Prosa schrieb) die einem durch den Verstand wirbeln, weil sie so originell und doch im Ganzen so natürlich und nah sind. Seine somnialen, geschmückten Gedichte, seine fassende Art zu erzählen und seine klar ausgerichtete künstlerische Freiheit, die ohne Diktum Phantasie mit Beschwörungen des Realen vereint, machen ihn und auch dieses wundervolle Buch zu Lichtgestalten in einer in der Literatur vorherrschenden Grautönigkeit. Kinder der Nacht ist zwar ein Abgesang, aber auch ein Loblied und diese beiden Dinge in einem Buch zu verbinden, gelingt sehr selten und ist meist ein berauschendes, einmaliges Erlebnis.

Dabei ist an diesem Buch vom Inhalt her nichts Lichtes. Die ganze Zeit schwankt es in einer zwie-bedrohlichen Dämmerung umher; der Hauptteil der vielen, lebendigen Gefühlsoffenbarungen spielt sich in der Nacht ab, denn die beiden Geschwister Elisabeth und Paul sind nun mal “Kinder der Nacht”. In der Dunkelheit erscheinen ihre Obskuritäten, ihre Weltverlassen und -vergessenheit wiederum nicht zwingend als etwas Abnormales, nicht als abwegig, sondern geradezu unausweichlich, richtig und geradezu wahrhaftig, wenn auch immer noch leicht märchenhaft, leicht überirdisch, wie eine Szene aus einer flüchtigen, tieferen Welt.

Ich zögere genaure Angaben über den Inhalt zu machen, denn jede Festlegung scheint mir bei diesem Buch wie eine Ausfahrt, wie ein Ablenken von diesem wunderbaren, ganz in sich stimmigen Wunsch nach einer reinen Geschichte, den man während des Lesens als Ahnung ins Blut geimpft bekommt. Weder ist dieses Buch ein surrealistisches Buch, noch kann man es einen realistischen Roman nennen; auf wunderliche Weise bezieht es aus beidem sein Nötigstes und lebt zwischen beidem wie im Schwebezustand, der die eigentliche Fülle des Buches erst möglich macht, verdichtet. Jeder Satz, jeder Absatz ist wie ein kleiner Atemzug; das Buch als Ganzes eine eingefasste Welt aus Luft, durch die der Schnee von Träumen, Phantasien, Schraffuren von Sehnsucht und Verlangen, ein Eindruck aus Wünschen und Verliebtsein fällt; dann und wann liest man hinter dem Gestöber die Keilschrift der Wirklichkeit.

Eigentlich ist das Buch eine einzigartige Liebesgeschichte; aber auch eine sensible Studie zu den Emotionen der Kindheit, eine Elegie von der Furcht und dem Versuch sie zu vertreiben oder ein Versteck vor ihr zu finden, ein Traum von überlebendigen Regungen und ein Kunststück traurigbizarrer Atmosphäre. Jeder sollte dieses Buch auf seine Weise erfahren, denn es steckt darin ein Urbild unser selbst, die wir, der Kindheit entwachsen, immer noch glauben, dass unsere innere strömende Welt mehr zählt, als jene sich verzahnende dort draußen.
Cocteau hatte also Recht: Er erregt Anstoß. Aber nicht irgendwo draußen in der rohen Materie, sondern ganz tief drinnen, vielleicht bei etwas ganz Vergessenem …

 

 

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*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de