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Zu Doris Anselms “Hautfreundin”


Hautfreundin „Herr und Frau.
Eigentlich, fällt mir heute ein, sind diese Anredeformeln überhaupt nicht seriös. Im Gegenteil. Sie weisen ständig darauf hin, dass Geschlechtsteile anwesend sind.“

Nach etwas fünfzig Seiten muss ich mich ermahnen, dass auf dem Cover des Buches „Roman“ steht. Denn das erzählende Ich in Doris Anselms „Hautfreundin“ ist so konsistent und tritt so unverstellt und direkt auf, dass man meinen könnte, „Hautfreundin“ sei ein tatsächlicher Erfahrungsbericht, die Autobiographie eines echten Körpers und seines Begehrens, und keine Fiktion.

Ein klassischer Roman ist das Buch allerdings auch nicht, denn statt eine lückenlose Geschichte aufzuführen, besteht das Buch aus längeren für sich stehenden Einzelgeschichten, Episoden im Leben der Erzählerin, die sich von ihrer Jugend über ihre jüngeren Erwachsenenjahre bis zu einem Zeitpunkt im mittleren Alter erstrecken, der als ungenaue Gegenwart Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist (außerdem gibt es noch eine Episode, die in einer technologisch noch weiter entwickelten Zukunft spielt, wobei unklar ist, ob das Szenario der Episode ein Traum, eine Fantasie oder eine wirkliche Vorausschau darstellt). Im Zentrum der Episoden steht meist eine Begegnung, oft sexueller Natur, unterschiedlich aufbereitet.

Den Anfang macht die Episode „Das Wort“, in der die Erzählerin, zunächst nur als Stimme, noch nicht als Körper, über das Wort für ihr Geschlechtsteil nachdenkt.

„Ein Wort, das viel Scham aufgenommen hat, das hundert Jahre oder länger nur flüsternd gesagt wurde, mit niedergeschlagenen Augen, ohne Stolz, ohne Freude, kann sehr schwer sein. Es wird nicht ausgetauscht, weil offiziell ja alles in Ordnung ist mit ihm. Aber es fühlt sich anders an als andere Wörter.“

Natürlich steht diese Reflexion über Sprache nicht zufällig am Anfang und nicht zufällig ist in dieser Überlegung das ganzes Dilemma der weiblichen Lust schon ausgebreitet: wie eine positive Geschichte weiblicher Sexualität erzählen, wenn schon die Begriffe, die Worte, mit Scham behaftet sind und eine Stimmung erzeugen, die lust- und genussfern ist, in der das Unzureichende dominiert, das Schwierige, das einen in die Unzulänglichkeit zwängt, statt Möglichkeiten zu bieten, aus sich herauszugehen?

In den darauffolgenden knapp 250 Seiten hat Doris Anselm genau das versucht. Ihr Buch ist ein Roman über Sex und über Lust, aber vor allem ein Buch, das versucht, die Geschichte einer positiven Selbsterfahrung, als Körper, als Frau, als sexuelles Wesen, zu erzählen. Und für so eine Geschichte eine Sprache zu finden ist schwer. Schließlich gibt es auf der einen Seite nur die pornographische Sprache mit all den männergeprägten Frauenbildern, auf der anderen Seite vor allem die süßlich-schwüle Romantik von Groschenheften und die liberal-verklemmte, komische Erotik von Hollywoodfilmen.

Anselm sucht dazwischen einen Mittelweg, der aber natürlich nicht einfach jenseits der bisherigen Sprachverhältnisse ganz neu beginnen kann. Ihre Sprache hat daher einen leicht wiegenden Touch, der entfernt der glatten Oberfläche von Pop-Romantik gleich und in der Beschreibung von sexuellen Tätigkeiten eine Langsamkeit, die an die Detailfixierung von pornographischen Texten erinnert. Aber nebst diesen Anleihen hat ihre Sprache in vielen Fällen wichtige zusätzliche Qualitäten: sie ist anschaulich, intensiv und geht Risiken ein, probiert aus, und kann in den richtigen Momenten von tiefer Involvierung auf distanzierte Analyse umzuschalten (und umgekehrt).

Manchmal wirkt sie dennoch etwas manierlich, manchmal etwas platt, aber mindestens genauso oft bietet sie überraschende Einblicke, hält feinsinnige Umschreibungen und starke Bilder parat. Gleich im zweiten Kapitel beschreibt die Ich-Erzählerin ihr erstes Mal und auch ihre erste Penetration:

„Dann herrscht eine Zeit lang das Bild von etwas Fremdem in meinem Körper. Es könnte alles möglich sein, es gehört nicht zu mir. Ich atme. Wir sehen uns an und er hält still. Auf dem Himmelsplakat verblasst eine weiße Kondensspur. […]
Da umklammere ich ihn mit den Beinen, und als die weiße Spur vom Himmel verschwunden ist, gehört alles, was in mir ist, mir. […] Wir gleiten umeinander. Ich muss lächeln.“

In dem darauffolgenden Kapitel die spontane Erregung bei einer Begegnung mit einem anziehenden Menschen:

„Irgendwo neben uns zieht ein Drucker seufzend Papier ein. Jemand beendet ein Telefonat und legt auf.
Wir sehen einander in die Augen. Wir stehen da, zwei Erwachsene in ihrer jeweiligen Rolle, und dann dehnt sich der Moment über uns aus, wölbt sich, schillert, zerplatzt.“

Oft sind Emotionen stark vertreten in dieser Sprache. Und das ist auch gut so, denn selbst wenn dergleichen manchmal schwärmerisch oder eben manieristisch rüberkommt, ebnet Anselm damit hoffentlich an einigen Stellen den Weg für nachfolgende Autor*innen, die über Lust schreiben wollen und aus ihren Fehlern lernen, und ebenso von ihren Ideen, von ihren Ansätzen profitieren werden.

Ein weiterer Vorteil der emotionsdurchzogenen Sprache ist (neben der Nähe, die sich zur Ich-Erzählerin als Figur einstellt), dass nicht nur Geschichten von Handlungen erzählt werden (wie es in der klassischen Pornographie meist der Fall ist – Emotionen werden dort lediglich aus den Handlungen abgeleitet), sondern vor allem von Gefühlen, Zuständen, die den Handlungen vorausgehen, ihnen auch widersprechen, sich schnell abwechseln, changieren. Wir erleben Anselms Protagonistin in den unterschiedlichsten Momenten, verschiedensten Lagen, begleiten sie bei geilen Erfahrungen, meditativen Augenblicken und tief hinein in ihre Unsicherheit, z.B. in Gesprächssituationen, mit Reaktionen, die von Wut bis Verzweiflung reichen.

„Wenn du das wirklich glaubst, denke ich, wenn du glaubst, dass ich für etwas, das ich will, zu schade bin, glaubst du in Wirklichkeit, dass es egal ist, was ich will.“

„Damit, dass er mir so gefallen würde, habe ich nicht gerechnet. Ich hatte bloß gehofft, dass er mir genug gefallen würde. Genug, um mir etwas mit ihm vorstellen zu können: etwas Neues, etwas Spezielles, etwas Dunkles. Ich hatte gehofft, dass er für meine Neugier ausreichen würde. Über mich selbst habe ich gar nicht nachgedacht.“

Trotz dieser breiten Gefühlspalette ist das Buch zunächst vor allem die Geschichte eines sexuell erfüllten Daseins, einer von Neugierde und Glück geprägten Lust an Körpern, dem eigenen und den fremden. Erst im weiteren Verlauf und vor allem gegen Ende realisiert die Protagonistin, dass sie Glück hatte mit ihrem Lebensweg, ihren Erfahrungen, und dass die sexuelle Biographie vieler Frauen nach wie vor (und vor allem früher) viel mit den Umständen zu tun hat(te), also damit, an welche Menschen (vor allem Männer) man gerät und was einem passiert, wenn man jemandem seinen Körper anvertraut oder einfach einen Körper hat und von diesem Körper etwas erwartet wird.

Gerade dieser letzte Turn hat mich noch einmal sehr beeindruckt, weil das Buch dadurch beides in sich trägt: Utopie und Realität, Wunsch und Wahrheit. Es wird gezeigt, wie es gehen könnte – und warum es so noch immer nicht läuft, zumindest leicht anders laufen kann. „Hautfreundin“ ist die Geschichte einer Erfüllung, die am Ende in einen Abgrund der Verletzungen und Ängste schaut, dem sie, wie durch Zufall, entronnen ist. Die ganze Geschichte, so wird am Ende klar, hätte auch in jeder Episode ganz anders aus- und weitergehen (oder auch enden) können (hier scheint durch, wie sinnvoll die Struktur des Buches ist).

„Ich habe mal gehört, dass echte Nächstenliebe meistens holprig daherkommt, wenig elegant, weil jemand, der sie gibt, vorher nicht lange überlegt.“

Anselm ist über weite Strecken eine großartige introspektive Darstellung gelungen. Ich persönlich habe selten eine so intensiv-feingliedrige Schilderung von Begehrensstrukturen gelesen (egal ob von einem Mann oder einer Frau), die aber nicht ins detailgetriebene oder ins erotisch-versessene abdriftet. „Hautfreundin“ ist kein female-friendly Porno, kein neues „Feuchtgebiete“. Es ist ein Buch darüber, wie eine erfüllte Sexualität für jemanden (der/die sie ausleben will), aussehen kann, die Geschichte einer Entdeckung und Eroberung des eigenen sexuellen Terrains. Und ein Buch darüber, wie dieser Wunsch auf verschiedenste Arten mit einer Welt interagiert, kollidiert, verschmilzt, in der wir heute leben (könnten).

Zu “Erinnerungen an Leningrad” von Joseph Brodsky


Erinnerungen an Leningrad In “Erinnerungen an Leningrad” sind zwei autobiographische Essays von Joseph Brodsky zusammengefasst, die er beide im amerikanischen Exil und auf Englisch verfasste. Im ersten Text von 1976 (also vier Jahre nach seiner Ausweisung aus Sowjet-Russland) setzt er sich mit seiner Jugend, dem Aufwachsen und Leben in seiner alten Heimat auseinander. Im zweiten Text, geschrieben 1984, stehen der Tod und die Beziehung zu seinen Eltern im Mittelpunkt; zwölf Jahre hatten diese vergeblich gehofft, ihn in den USA besuchen zu dürfen, ihn noch einmal zu sehen.

Es ist zugleich berührend und profan, wie Brodsky seine Erfahrungen in Russland und mit der sowjetischen Realität schildert, wie er seine Einschätzungen in poetische, manchmal auch kuriose Bilder kleidet und wie liebevoll und doch auch ein bisschen sardonisch er die Beziehung zu seinen Erinnerungen inszeniert. Der erste Text bietet auch heute und in seiner Kürze ein beeindruckendes Bild von den Verhältnissen in Sowjetrussland (der zweite ebenso, aber eher nebenbei); es ist keine vollendete Analyse, aber sie trifft, so hatte ich das Gefühl, ein paar wesentliche Punkte.

Der zweite Text, halb Elegie, halb Meditation, fließt dahin, in kurze Kapitel unterteilt, die sich immer wieder den Eltern auf verschiedene Weise annähern, sprüht aber auch vor kleinen Ideen, Zuspitzungen, rührenden bis komischen Details. Langsam kristallisiert sich durch die vielen Annäherungen ein Bild des Zusammenlebens heraus. Es ist ein Text, der die universelle und doch ganz persönliche Beziehung zu den Eltern darstellt, die Hoffnungen, die Glücksfälle, die Schwierigkeiten, die Klüfte, und die Sprünge über die Klüfte, die Atempausen und den Trab.

Ich kann nur dazu raten, Brodsky zu lesen – er war wirklich das, was man einen Meister des Essays nennen darf, selbst wenn man sparsam mit solch heiklen Bezeichungen umgehen will. Ohne gelehrig oder verkopft zu wirken, vermitteln diese Texte viel Besonderes und auch viel Allgemeines, stellen es nah zueinander, führen vom einen zum anderen, geschickt und anschaulich. Angenehm und faszinierend, so könnte man diesen Stil, diese Dynamik, auf der Gefühlsebene beschreiben. Ganz viel Ruhe liegt in diesen Texten, aber auch ganz viel wohlformulierte Unruhe.

 

Zu Karen Köhlers Erzählungen in “Wir haben Raketen geangelt”


Wir haben Raketen geangelt  Wir begegnen den Figuren in Karen Köhlers Erzählungen in Momenten der Krise. Auch der körperlichen, aber vor allem der seelischen. Vor beinahe jeder der Figuren breitet sich die Zukunft nicht als vage Konstellation von Möglichkeiten, als Quell der Erwartungen und Hoffnungen, sondern als sehr begrenztes Feld, als enger Gang aus; gemeint sind nicht Tristesse oder melancholische Stimmungen, sondern Geschichten beyond the point of no return. Von der Warte der Figuren aus gesehen, gibt es hauptsächlich Abgründe.

Beeindruckend sind vor allem die Formen, in denen diese Kurzgeschichten daherkommen. Manchmal bestehen sie nur aus Einträgen (Tagebuch, Notizen, Postkarten, Listen), in denen sich einige Hinweise finden, aber letztlich wird man als lesende Person immer wieder auf das Begrenzte zurückgeworfen; den Rest muss man sich denken. Das ist mitunter frustrierend, aber auch spannend. Und vor allem: es lässt einen nicht kalt.

Denn Köhlers formale Kniffe in den einen Texten und die existenziellen Themen und Narrative in den anderen (in manchen kommt natürlich auch beides zusammen) führen dazu, dass die übliche Beobachtungsposition eines/r Lesenden nicht gewahrt werden kann. Zu sehr ist man mit Körperlichkeit der Figuren konfrontiert, zu sehr ist man bei den Postkarten und Einträgen mitangesprochen (ohne auf sie eingehen oder eingreifen zu können, obgleich die Texte genau das suggerieren.)

Meist ist da nämlich ein Du, nicht selten ein geliebtes, ein partnerschaftliches, ein Gegenüber, das in der Regel auch die Bruchstelle ist, an der das Leben der Figur in zwei Teile zerbrach: die Vergangenheit und die unwirtlichen Reste von Leben danach. Manchmal erfahren wir mehr über dieses Du, manchmal weniger; manchmal ist es anwesend, manchmal abwesend. Aber immer wird es umkreist, subtil oder ganz offen.

Köhlers Geschichten wirken, trotz ihrer Krisenstimmungen, sehr echt, authentisch. Sie erzählen von dem Wunsch fern des eigenen Körpers und seiner Erinnerungen zu sein, auszubrechen und allem zu entfliehen, das einmal war und das noch immer ist, nur wesenlos, entrückt. Obwohl sie mich beeindruckt und teilweise aufgewühlt haben und ich davon überzeugt bin, dass es solche Geschichten braucht, bleibt dann und wann ein leicht fader Nachgeschmack zurück. Vielleicht, weil der Band bei allen Variationen so einheitlich wirkt.

Aber die Autorin hat halt entschieden, die Krise ins Zentrum ihrer Erzählungen zu stellen und ihre Figuren als gebrochene Existenzen zu zeigen. In „Wir haben Raketen geangelt“ geht es nicht ums Wiederaufstehen, sondern um das am-Boden-Liegen und wie es dazu kommen kann; um das, was einen wirklich niederschmettert oder lähmt, bis tief an die Wurzel.

Zu Mascha Kalékos Gedichtband “Verse für Zeitgenossen”, neu aufgelegt bei dtv


Verse für Zeitgenossen besprochen beim Signaturen-Magazin.de

Zu Durs Grünbeins Gedichtband “Zündkerzen”


besprochen beim Signaturen-Magazin.de.

Backlink (http://www.suhrkamp.de/buecher/zuendkerzen-durs_gruenbein_42753.html).

Zu Julie Estèves “Lola”


„So wie andere Leute sich mit der Rasierklinge ritzen, spreizt Lola die Beine. Denn sie findet beim Sex, das verstehe, wer will, ein Stück weit ihre Unschuld wieder.“

Im Einbandtext dieser Ausgabe steht, dass Julie Estève sich mit ihrem Debütroman in eine „feministische Tradition“ einreiht, die auf Virginie Despentes und Elfriede Jelinek zurückgeht. Das ist für ein Debüt zunächst einmal sehr hoch gegriffen und lässt bei Lesenden wie mir eine Erwartung entstehen, die zersetzend wirken kann, weil selbst das an sich Gelungene im Lichte einer zu großen Erwartung auf einmal unpassend wirkt, enttäuschend.

Im selben Absatz des Einbandtextes wird davon gesprochen, dass es in Lola um weibliche Lust geht. Auch hier wird dem Buch Unrecht getan – es wird auf einen Aspekt, ein Motiv verengt Denn ebenso wenig wie es in Gustave Flauberts Buch Madame Bovary allein um Ehebruch geht oder in Melvilles Moby Dick allein um Rache an einem weißen Wal, ist Lola die Geschichte einer Frau, die sich mit ihrer Lust auseinandersetzt; wäre es ein Buch, das von einer nymphomanischen Betätigung handelt und nichts weiter, eine Geschichte über sexuelle Eskapaden, müsste man nur wenige Worte darüber verlieren.

Aber es geht in diesem Buch vielmehr um Einsamkeit, um die Einsamkeit inmitten des Rausches, der das Leben ist; um die Unmöglichkeit sich beieinander zu finden, sich durch den anderen zu ergänzen. Die Protagonistin Lola, aus deren Sicht ein Großteil der Handlung geschildert wird, ist eine unsichere, diese Unsicherheit mit offensiven Zügen kaschierende, vom Verlust ihrer Mutter und dem Scheitern einer jungen Liebe gezeichnete, verzweifelte Frau, die den Lesenden allerdings als ein wandelndes Klischeepaket, eine Kreuzung aus Femme-Fatale und todessehnsüchtiger Nymphomanin, vor den Latz geknallt wird. (Im Einbandtext wird behauptet, die Autorin arbeite mit Ironie und schwarzem Humor – zu einer Humoreske taugt dieses Buch allerdings ganz und gar nicht.)

Überhaupt hätte ich mir, obgleich es ein Debüt ist, eine bessere, gründlichere Ausarbeitung gewünscht. An manchen Stellen fehlen Feinschliff und Balance. Man kommt sich, vor allem zu Anfang, ständig bevormundet vor; Estève schildert nicht bloß, sie haut ihren Leser*innen die Eigenschaften ihrer Figuren geradezu um die Ohren, nimmt ständig unnötig malerische Charakterisierungen vor (z.B.: „Sie bekommt Hunger. Hunger wie ein streunender Hund.“) und setzt alles daran, die Dimensionen der Figuren auf ein kontrolliertes Maß herunter zu brechen.

Nun könnte man meinen: das ist nun mal ihr Schreibstil. Aber ich sehe einfach keinen Mehrwert in dieser Art, die die meisten möglichen Untiefen abtötet, den Roman zu einer Einbahnstraße macht. Die mangelnde Bereitschaft, den Figuren nicht nur eine Gestalt angedeihen zu lassen, sondern auch Räume um diese Gestalt herum, wird durch zahlreiche Erklärungen kompensiert und das Umsichwerfen mit Sinnlichkeiten.

Dabei könnte Lola eigentlich eine Figur sein, mit der einer großen Verzweiflung ein Angesicht verliehen wird. Sie ist eine legitime Nachfahrin von Emma Bovary, ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben, ihrer Furcht vor der Gewöhnlichkeit, der sie doch nicht entkommen kann, denn sie herrscht auch dort, wo vermeintlich etwas Schöneres, Bedeutsameres lauert. „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ – die Brutalität, die in diesem abgegriffenen Zitat liegt, sie wird hier angesprochen, umkreist.

Aber die Aufmachung, das leicht Unausgegorene des Buches, lassen seinen Fokus etwas zu reißerisch wirken, verstellen den Blick auf Lolas wirklichen Schmerz. Dieses Buch würde in Teilen eine sehr gelungene Novelle abgeben; es gibt Aspekte wie die Vater-Tochter-Beziehung, der Muttertod, der Frust des Begehrens und des Nicht-Begehrens, die gelungene Ansätze offenbaren, aber auch zahlreiche unnötige Abschnitte und immer wieder ärgerliche Verflachungen.

Lola ist die Geschichte einer Suche nach Ertragen – im Dreck, im Wunder, im Schund, im Scheitern des Lebens. Mit einer Protagonistin, die mal leuchtet, mal einfach nur wie ein Mittel zum Zweck wirkt. Beim Buch ist es ähnlich: manchmal leuchtet es, manchmal wirkt es einfach nur grell, unordentlich. Es wäre mehr drin gewesen, wie manche Passagen anzukündigen scheinen.

„Sie stellt sich die jungen Leute vor, die schüchtern zum ersten Mal ‚Ich liebe dich‘ sagen, mit schamgerötetem Gesicht. Die jugendliche Liebe ist die reinste, die gewaltigste. Lola ballt die Fäuste, bis die Fingernägel sich in ihre Handflächen bohren. Von draußen dringt der gewohnte Lärm herein, und drinnen, in der Wohnung mit den vielen Teppichen, ist ihr gleichmäßiger Atem das einzige Geräusch.
Lola macht sich einen starken Kaffee, ihr Blick ist leer. Sie versucht, mit den Fingern die Knoten in ihrem Haar zu entwirren. Früher hat das ihre Mutter getan, beim Frühstück, während Lola ihre Schale heiße Schokolade trank. […] Doch eines Tages war die Hand, die die schwarze Bürste umfasste, verschwunden. Zurück blieben nur der Nesquick-Dampf und die Tränen eines Kindes, das nie so recht verstanden hat, was mit Trauern eigentlich gemeint war.“

Zu Vincent Overeem und seinem Buch “Misfit”


  “Und als wir ausstiegen, sagte ich zu Kaat, tagsüber würden die Vögel durch die Luft fliegen und nachts die Fledermäuse und niemand nehme Notiz davon. Wir suchten den dunklen Himmel ab und sahen schließlich ein paar. Kaat stieß einen Schrei aus, umarmte mich uns sagte, wir seien auf der Welt, um auf solche kleinen Dinge zu achten. Und ich müsste dafür sorgen, dass das so bleibe. Das sagte sie, ehrlich wahr. Und zu Hause fickten wir die Sterne vom Himmel.”

„Misfit“ ist eins dieser Bücher, die man entweder in einem bestimmten Alter lesen muss oder sofort mit Nostalgie liest. Da ist ein 18jähriger Ich-Erzähler in einer mittelgroßen Stadt. In seiner eigenen Bude (eine baufällige, ranzige Angelegenheit) liegt nur eine Matratze auf dem Boden und er arbeitet mit seinem Nachbarn hier und da an einem Handwerks-Job; ansonsten verbringt er seine Zeit mit Kaat. Kaat, die großartige, die schöne, die aufbrausende, die selbstsichere, die freche, die nachdenkliche, die unausstehliche, die geliebte.

Kaat, das Mädchen, das sich wohl ein Großteil der 18jährigen, heterosexuellen Jungs aus Spielfilmvorlagen, Schulschwarms und eigenen ideelen Vorstellungen zusammenphantasiert; nicht nur eine Freundin, sondern eine Gefährtin durch dick und dünn. Die eines Tages einfach in der Tür steht. Und mit ihr beginnt die schwüle Zeit, die Zeit von häufigem Sex, von privaten Ritualen, kleinen (aber in der eigenen Prägung riesigen) Geschichten. Bis aus der Schwüle eine Hitze wird, die über der Stadt liegt und alles zu erdrücken scheint. Aber es ist nicht nur die Hitze, die drückt, sondern die unausgesprochene Vergangenheit des Protagonisten (aufgerollt in einer zweiten Geschichte, die sich Stück für Stück erschließt) und die geheimniskrämerische Seite von Kaat.

„Misfit“, das Buch eines Sommer, ein Buch voller schmerzlicher und schöner Emotionsanwandlungen (hinter denen aber auch dichtere Gefühle stehen), mit einem Auge für das – mal schmale und mal weite – Unbegreifliche, das oft zwischen Menschen steht, zwischen Freunden, Fremden, Liebenden und Familienangehörigen. Ein Buch über das Ende des Aufwachsens, den Übergang, in dem sich wie in einer Rinne zwischen Kindheit und Erwachsensein die Sehnsüchte ansammeln, vorwärts und rückwärts gerichtet.

Ja, das alles steckt in diesem Buch und ich bin selbst verblüfft darüber, denn seine Geschichte, die sich in zwei Geschichten aufteilt, ist geradezu simple und könnte Stoff für einen gewöhnlichen Teenie-Roman sein. Was „Misfit“ von einem solchen unterscheidet ist nicht nur das sich langsam in Bild schiebende ernste Thema im Hintergrund, sondern die ungefilterte und dennoch nie voyeuristische oder provokante Art der Darstellung, die ehrliche Form, die das Buch sich bewahrt. Die Nähe zum Geschehen quasi, die sich in ihrer Deutlichkeit und Schlussendlichkeit jedes Klischees entledigt.

Ein Buch des Sommers, ein Buch der Bewältigung, ein Buch der Schönheit im Jungsein. Nostalgie pur mit Genuss- und Anspruchsfaktor und dem gewissen, großartigen Etwas.

Zu Taha Muhammad Ali’s Gedichten in “An den Ufern der Dunkelheit”


an-den-ufern-der-dunkelheit„Fliegen unter dem Gewicht der Trauer/ Hoffen innerhalb des abgerissenen Traums“ (Adam Zagajewski)

“Und der Horizont,
dieses über Sand und Tränen
Fest geschlossene Augenlid –
Was hinterließ er,
Was versprach er dir?”

“Wer liest, der wird lernen, dass es nicht einfach nur “Gut” und “Böse” gibt. Und noch schlimmer: Er wird begreifen, dass das Böse oft eine Form von Vergangenheit, das Gute zunächst die Hoffnug auf eine zukünftige Form ist.”
Dieses Zitat von Malraux weist auf eine der der zentralen Problematiken hin, mit denen sich unsere Generation und die heutige Welt auseinandersetzen müssen: dem Erbe des 20. Jahrhunderts, diesem nahen und doch gleichsam fernen Zeitalter, das vor scheinbaren Gewinnern und tatsächlichen Verlierern nur so wimmelte und in dem unzählige Konflikte angefacht wurden, sodass das ganze Ausmaß des Brandes auch heute noch, auch in der westlichen Welt (der einzigen, für die das 21. Jahrhundert wirklich schon begonnen hat) nicht sichtbar geworden ist, medienpräsent in den Hintergrund gerückt, zugeschnittendurch die Scheren der Brisanz und der verschiedenen Interessen.

Von all den Schauplätzen, an denen im letzten Jahrhundert tiefgreifende Konflikte aufkamen, ist der mittlere Osten bis heute derjenige, der, zumindest in den westlichen Medien, am häufigsten und stärksten in den Fokus gerückt wird. Das Problem des Staates Israel ist dabei von besonderer Sprengkraft und beschäftigt die Gemüter seit dessen Gründung im Jahre 1948. Dieses Problem hat viele verschiedene Stufen und Metamorphosen durchlaufen und besitzt mittlerweile so viele Aspekte, dass oft die andauernden Katastrophe hinter dem ewigen Tauziehen um Gebiete und Geltungsrechte, völlig ausgeblendet werden. Und mit Katastrophe meine ich nicht zentral die Opfer der immer wieder auftretenden Kämpfe, sondern die Opfer der Zustände, die seit über 60 Jahren in dieser Region herrschen.

“Allabendlich lagert sich in der Brust
Wie Geröll ein Gefühl von Finsternis ab,
Eine Empfindung von Schwärze,
Eine Schwärze, die den Weg versperrt wie eine Wand.
[…]
Ich kann das Unglück der Sonnenuhr vernehmen
Wenn ihre Zeiger schrumpfen wie Schiffe
Ohne Häfen
[…]
Wie die Augen der Kinder
Träume ich
Von Straßen und Wäldern
Die Hügel und Jahreszeiten bedecken
Und die Gärten der Stunden überschreiten,
Um nach Belieben in einen Raum
Aus Sternen und Ähren einzutauchen,
Wo der Abend mir zulächelt,
Sich zu mir hinbeugt, mich tröstet,
Wie der liebste Großvater.”

Es wäre eine Verfremdung und unsinnige Überhöhung, wenn man sagen würde, dass Taha Muhammad Ali dem Schicksal eines ganzen Volkes eine Stimme verleiht, denn es würde ihn vom großen Dichter, der er ist, zur bloßen Galionsfigur degradieren. Ein Dichter, wie leidenschaftlicher er auch für etwas kämpft, schafft mit seinen Gedichten zwar die Möglichkeit, dass sich die darin enthaltene Stimme ausbreitet, aber es kann nicht sein erste Intention sein, denn er muss stets von sich selbst ausgehen, von dem einen kleinen Punkt seiner eigenen Empfindung. Doch am einzelnen Ich, da hatte Max Frisch Recht, erklärt und zeigt sich oft das Schicksal von vielen. Das ist die Wesenheit, die Kunst ausmacht, aus dem Großen und Ganzen eine Gestalt zu machen, die nicht wieder ins Große und Ganze eingehen kann, die sich als individuelle und zugleich übergreifende Erfahrung behauptet.

“Sein Menschenrecht ein Körnchen Salz,
Aufgelöst im Ozean”

Erst einmal: Sehnsucht, tief hinuntergeschluckt; dann, gleichsam klamm und nur als Stimmung: die Berührung einer warmen Welt, die Andeutung von Orient, Dörflichkeit, Schattenwärme und Sternennacht, mit Spuren von alten Namen und da sind Farben von dunklem Ruf, großer Schönheit und tiefem Sinn – doch davor: Der Schleier des Gefangenseins, des Verharrens in einer Trauerarbeit, durch den nur die Ahnungen und Erinnerungen zu dringen vermögen. Eine düstere Vision, die einen nicht loslässt, die jeden Punkt zuschüttet, an dem man nach dem Grundwasser des Lebens gräbt.

So begegneten mir die Gedichte von Muhammad Ali. Keine scharfen, platzierten Windungen, kein direktes Ziel in ihrem Zeilenfluss; die ganzen Worte ausgerichtet auf ein Einfachheit, das Erzählen, die Botschaft der Zeilen – und: das Abwarten. Das Abwarten, welches man überwinden, das man erklären will, damit es verschwindet. Das man mit Hoffnung überstrahlen, das man mit dumpfer Wut in einen großen Kosmos verzahnen will.

“Ich werde fortbestehen
als ein Fleck Blut
von der Größe einer Wolke
auf der weißen Weste der Welt”

Doch am meisten fällt auf: Größe. Ich weiß, das klingt ein wenig klotzig und man könnte meinen sie ist eh ein häufiges Merkmal von Dichtung. Ich habe sie auch erwartet (wobei einen Größe in der Dichtung immer wieder, unentwegt, zu überraschen weiß – da gibt es keine Gewöhnung). Aber trotzdem ist die Größe in Alis Gedichten doch überwältigend, denn sie erwächst, wie bereits erwähnt, aus einer Schlichtheit, die sich noch hier und da mit gewöhnlichen, sogar sachlichen Emotionen paart – und doch im Kern ihre Fläche, ihr Seelenmaß nie verkleinert. Jeder gelungene Vers flutet die innere Fülle des Gedichts.

“Ich höre nicht auf zu mahlen,
Solang im Hals meiner Mühle
Noch ein einziges Korn steckt.”

“Jetzt aber
Ist das Brot meiner Angst
Zur Neige gegangen
Und der Wein meiner Trauer
Sprudelt aus allen Quellen.”

Natürlich spielen Wut und Trauer in diesem Buch eine wichtige Rolle. Wie auch soll man sein Schicksal vergessen oder abhaken, wenn man ihm nicht entfliehen kann? Es geht in diesen Versen nicht darum, ob Wut oder Trauer die Oberhand gewinnen, sondern ob es jenseits von Trauer und Wut noch etwas anderes gibt. Danach suchen diese Gedichte, das ist ihr Thema, ihre innerste Wesenheit. Einige gehen sicherlich auch in die Untiefen der oben erwähnten Emotionen, aber eigentlich bleibt auch da ihre Suche eine Suche nach Gefühlen und Hoffnungen jenseits dieser Gründe, auf denen ihr Schicksal erbaut und festgeschweißt ist.

Ein schwieriges Unterfangen und in der Realität noch nicht einmal wirklich begonnen. Aber gerade deswegen musste es vielleicht in der Lyrik geschehen, der Form der Literatur, die am freisten ist und doch meisten nach einer inneren Notwendigkeit verlangt – denn auch das sind diese Gedichte: notwendiger Ausdruck, ja, die Verkörperung eines Exils, das ein Zuhause kennt, aber nur ein Zuhause der Vergangenheit und eine immer wieder bedrohliche Gegenwart. Die Auseinandersetzung mit einer solchen Lebensart kann sehr profan sein; in den Gedichten von Muhammad Ali beschreitet sie einen ungeheuer geraden, tiefen und anspruchsvollen Pfad, der schließlich immer wieder an Ufern der Dunkelheit endet. Doch unser aller Weg endet an diesen Ufern und genauso wie bei uns selbst, zählt auch bei diesen Gedichten der Weg dorthin, der die Ausdrücke kennt, die sich der Tod nicht ausmalen kann und die das Leben ausmachen: Ausdrücke der Sehnsucht, der Freude, der Freiheit, der Geborgenheit, des Glücks, der Liebe, der Angst, des Zorns, der Namen für die Dinge der Seele.

“Nach unserem Tod,
wenn das müde Herz
Zum letzten Mal seine Lider verschließt
Vor allem, was wir taten,
Vor allem, was wir wünschten,
Vor allem, was wir träumten
Und begehrten
Oder fühlten –
Wird der Hass das Erste sein,
Was in uns
Verfault”