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Kein Masterpiece, trotz mitreißender Geschichte


Für die Ewigkeit

Helmut Krausser hat in einer Vielzahl von Büchern bewiesen, dass er sich auf die richtige Mischung aus Melancholie und Drastik versteht, die seine Plots nicht nur zu spannenden und unterhaltsamen Geschichten, sondern zu erfahrbaren Auslotungen von Gefühlslagen und Schicksalen macht (darüber hinaus ist er ein großartiger Dichter, seine Lyrik, mitunter wunderbar bis schrecklich komisch, dann wieder meditativ, existenziell und alles dazwischen, ist jeder/m ans Herz zu legen).

Mit dieser Geschichte einer verbotenen Liebe im Südamerika des frühen 20. Jahrhunderts ist ihm allerdings nicht eines seiner Meisterstücke geglückt. Zwar sind hier nach wie vor der Witz und die sprachliche Direktheit vorhanden, die viele seiner besten Bücher auszeichnen, aber das Setting und die Figuren nehmen sich, trotz der Bewegtheit, die sie dann und wann verströmen, ein bisschen sentimental und überzogen tragisch aus. Man kommt sich vor wie in einem erfolgreichen, aber schnell an seinen Grenzen gelangenden Fernsehfilm, in dem Historie, Romantik und Spannung zusammengebracht werden sollen.

Natürlich fälle ich dieses harte Urteil von der hohen Warte aus, auf der Kraussers beste Werke zu finden sind. Objektiv betrachtet hat die schnörkellose, aber dennoch immer wieder feingliedrige Erzählung durchaus viel für sich und verdient meinen Tadel wohl nicht im vollen Umfang. Dennoch: dieses Werk hat mir nicht, wie so manch anderes von Krausser, neue Horizonte und Untiefen eröffnet (oder um die Ohren geschlagen). Es ist ein in sich gelungenes Zelebrieren des eigenen Plots, auch gut für eine schnelle und spannende Lektüre, aber keine Offenbarung. Krausser kann mehr.

Zu der Ausgabe “Gesammelte Werke” von Jack London beim Anaconda Verlag


Die gesammelten Werkausgaben von Anaconda sind ja manchmal kleine Mogelpackungen – wo es bei Schriftstellern wie Edgar Allan Poe, William Shakespeare, Franz Kafka und Heinrich Heine durchaus möglich ist, alle Hauptwerke in einem Band zu versammeln, wird man bei Friedrich Nietzsche, E.T.A. Hoffman, Mark Twain oder Stefan Zweig eher stutzig werden, wenn ein Band ihr Hauptoeuvre fassen soll (auch wenn speziell die Ausgaben von Hoffman und Zweig dennoch sehr zu empfehlen sind). Ähnlich verhält es sich mit Jack London, der eine große Anzahl von Romanen und Kurzgeschichten geschrieben hat, die ebenfalls in einem Band schwerlich Platz finden können. Vielleicht wäre es bei solchen Autoren besser von “Ausgewählten Werken” zu sprechen.

Gerade bei Jack London wäre diese Titelwahl noch aus einem zweiten Grund angebracht. Denn dieser Schriftsteller ist nach wie vor hauptsächlich als Verfasser von Abenteuergeschichten, zu Lande und zur See, bekannt; bei seinen Figuren hat man meist Glücksritter und verwilderte Sonderlinge, Wölfe und Halunken vor Augen. An diesem Bild halten auch viele Werkzusammenstellungen fest (zum Beispiel die (dennoch empfehlenswerten) Meistererzählungen bei Diogenes oder eben diese Werkzusammenstellung bei Anacaonda), die ihre „Auswahl“ entsprechend treffen.

Dabei war Jack London ein äußerst vielschichtiger Autor. Erzählbände wie Die Geschichte vom Leopardenmann knüpfen an die phantastischen Erzählungen von Edgar Allan Poe an (und es lassen sich erste Anklänge von Science-Fiction darin finden), mit König Alkohol hat London eines der erschütterndsten Portraits eines süchtigen Menschen verfasst, sein Roman Martin Eden ist meiner Meinung nach einer der besten Entwicklungsromane überhaupt, spätere Bücher wie Die Zwangsjacke beleuchteten komplexe existenzielle Situationen (sein letzter Roman Das Mordbüro kombiniert dies wiederum mit phantastischen Elementen) und seine politischen Essays setzten sich mit den damals aktuellen Problemen der Arbeiterschaft und dem Sozialismus auseinander.

Viele dieser Aspekte werden in Werkzusammenstellungen unterschlagen und das sollte zumindest bekannt sein. Warum ich diese Werkzusammenstellung trotzdem empfehle? Zum einen, weil sie für eine Einband-Werkausgabe wirklich sehr leser*innenfreundlich ist: kein zu dünnes Papier, trotzdem nicht zu schwer und die Texte sind nicht auf die Seiten gequetscht, sondern werden in einer guten Schriftgröße und mit gutem Zeilenabstand präsentiert; auch das Wort- und Sacherklärungsregister am Ende ist hilfreich. Und zum anderen, weil sie für all denjenigen, die Jack London als Abenteuerschriftsteller schätzen, tatsächlich die besten Stücke versammelt.

Der Inhalt deckt sich dabei fast komplett mit der ebenfalls bei Anaconda erschienenen vierbändigen Schuberausgabe Jack London – Romane und Erzählungen. Enthalten sind die beiden Romane Wolfsblut und Ruf der Wildnis, in denen ein Wolf bzw. ein Wolfshund der Protagonist ist, sowie der großartige Roman Der Seewolf über den rauen, egomanischen Haudgegen Wolf Larsen (quasi ein reflektierter Captain Ahab). Dieses Buch, eine Auseinandersetzung mit der Figur des übermenschlichen, unantastbaren, nihilistischen Charakters, wird nach wie vor von vielen unterschätzt, die es nicht gelesen haben; es besitzt eine große philosophische Dimension. Zuletzt dann noch eine Auswahl von vierzehn Nordland-Storys, in denen die pure Lebensnähe, die Londons Abenteuer-Erzählungen nach wie vor lesenswert macht, an jeder Ecke spürbar wird.

Jack London war ein intelligenter Autor mit hohen ästhetischen Ansprüchen, nur verabscheute er die reine Schöngeistigkeit. Das Leben, um das Leben musste es gehen; und nicht um das Leben der Hochgeborenen oder Wohlbetuchten. Sondern um das Leben, das sich mit der Natur und mit dem Tod jederzeit auseinandersetzt. „Der Mensch ist gemacht, damit er lebt; nicht damit er existiert. Ich werde meine Tage nicht damit vergeuden, daß ich sie zu verlängern suche. Ich werde meine Zeit gebrauchen“, schrieb London. Seine Werke sind ein Versuch, das Leben in die Literatur zu bringen, vom Unbarmherzigen und Menschlichen zu erzählen. Das gelang ihm des öfteren und es gelingt ihm auch in den Werken dieser Ausgabe. Und auch die Unterhaltung wird dabei nicht zu kurz kommen.

Eine letzte Empfehlung noch zu Jack London: wer sich mit dem Autor etwas auseinandersetzen will, der sollte sich Wilde Dichter: Die größten Abenteurer der Weltliteratur zulegen.

Zu Vladimir Vertliebs Roman “Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur”


Es ist eine Geschichte von der Schwierigkeit der jüdischen Existenz und ein Blick auf und in das große Land Russland und seine zerrissene Geschichte im 20. Jahrhundert. Es ist die Geschichte einer Frau, die überlebt, was kaum zu überleben war: Verfolgungen, Kriege, Entbehrungen und Verluste. Es ist eine Geschichte schwerer Zeiten, mühseligen Lebens, ununterbrochenen Überlebens und sehr sehr zager Hoffnungen. Es ist aber noch mehr als das, es ist ein gelungener Roman.

Ich misstraue allgemein der Idee, dass ein Buch, das eine längere Erzählung beinhaltet, automatisch ein Roman sei. Zu einem Roman gehört etwas mehr; eine aufdeckende, aufschlüsselnde Gesamtwirkung, eine übergreifende Stimmigkeit; eine Art sich im Ganzen als etwas zu ergeben, das eine transzendente und nicht nur narrative Dimension hat.

Trotzdem schätze ich gelungene Erzählungen, zumal wenn sie unser Verständnis über Zustände, Zusammenhänge, Fakten und Ideen erweitern können und spannende und/oder epische Züge aufweisen, kurzum: eine gute Geschichte um ein interessantes Thema erzählen. Vladimir Verliebs Buch über Rosa Masur ist eine Mischung aus dem, was ich an Erzählungen schätze und von Romanen erwarte.

Es wäre nicht ganz falsch, aber letztlich zu einfach, wenn man diesen Roman eine Lebensgeschichte nennen würde. Zu einfach, weil es vermuten ließe, dass alle in diesem Buch aufgearbeiteten und anklingenden Konflikte nur etwas mit der Protagonistin zu tun haben. Aber Vertlieb hat wahrhaftig einen Roman geschrieben, was auch bedeutet, dass sich Konfliktfäden durch ihn ziehen, dich nicht am Anfang des Buches anfangen und nicht auf seiner letzten Seite verschwinden. Sie tauchen in der Geschichte auf, werden Teil der Romanwelt, sind aber eigentlich Konflikte, die uns ebenso etwas angehen wie die Figuren in der Geschichte. Der Roman wird hier zum Beispiel des Lebens, dem Spiegel seiner Zeit, zum Gedächtnis der Gesellschaft.

Der Blick, den Verlieb uns auf das 20. Jahrhundert und die russische Gesellschaft eröffnet, ist zweischneidig. Zum einen hat er dem Historischen zugestanden, sehr viel Raum und Umgebung für die Erzählung zu beanspruchen. Die Sorgen der jeweiligen historischen Situation sind die Sorgen der jeweiligen Menschen, miteingeschlossen die Protagonistin. Das will ich nicht geringschätzen, denn es gibt den anderen Passagen eine größere Prägnanz und Kontur und dem ganzen Buch eine große Glaubwürdigkeit – kein Mensch kann immer aus der Masse hervorragen und Einzigartiges erleben; den meisten Menschen ist dies ja wahrlich nur dann und wann vergönnt. Trotzdem drückt diese Gewichtung eine gewisse Haltung aus, die ich nicht problematisch finde, die einen aber das Buch streckenweise schlicht konsumieren lässt.

Interessanter ist es, wenn sich Rosa auf ihre eigenen Pfade begibt. Vertlieb hat seiner Figur eine sehr ausbalancierte Persönlichkeit eingehaucht und hat den Mut sie ins Ausweglose zu steuern, eines der großen Charakteristika des Jahrhunderts und des menschlichen Daseins schlechthin. Wie sie damit umgeht, welche Geschichten sich an diesen Punkten entwickeln: das sind die großen Glanzlichter dieses Buches. Sie geben ihm eine ungeheuer greifbare Dimension, Tiefe und Anschaulichkeit. Sie machen das Schicksal der Figur individuell und doch stellvertretend.

Rosa Masur ist ein Buch, das schneller endet, als man gedacht hätte. Es liest sich sehr flüssig, trotzdem weiß der Autor die Sprache feinzujustieren, wenn es drauf ankommt. Es ist eine große Erzählung und letztendlich ein gelungener Roman.