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Eine wichtige Schrift, die Rassismus auf den Punkt bringt


How to be an antiracist

„Genauso funktionieren rassistische Ideen und Mechanismen – und generell jede Form der Intoleranz: Wir werden dahingehend manipuliert, dass wir die Menschen als das Problem sehen und nicht die Politik, die sie hereinlegt.“

Es gleicht einem schweren Urteil, wenn man heute jemandem unterstellt, eine Aussage oder eine Handlung sei „rassistisch“. Als Feststellung kann eine solche Aussage kaum gelten – fast immer wird sie als Angriff, zumindest als Feindseligkeit ausgelegt. Anders gesagt: ein unaufgeregter, neutraler Diskurs über Rassismus ist kaum möglich. Das ist auf der einen Seite nachvollziehbar, schließlich reden wir von massiver Ungerechtigkeit, jahrhundertelanger Unterdrückung und fortdauernder Marginalisierung. Andererseits wäre ein halbwegs sachlicher Diskurs über Rassismus wichtig, damit es nicht einfach nur um Schuldige und Opfer, sondern um die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft gehen kann.

Erstmal ist Rassismus kein Schimpfwort, sondern die geäußerte, verinnerlichte oder zumindest unbewusst angenommene Überzeugung, dass es so etwas wie Merkmale gibt, die bestimmte Menschengruppen teilen und – dies der verwerfliche Aspekt des Ganzen, der Rassismus zu einem Übel macht – das man von diesen Merkmalen und der Zugehörigkeit zu jener Menschengruppe Rückschlüsse auf den Charakter und Status eines einzelnen Menschen ziehen kann.

Es gibt diese Überzeugung in verschiedenen Ausprägungen: es gibt vehemente Verfechter und es gibt Gesellschaften in denen bestimmte Formen des Rassismus sehr präsent sind, geradezu verankert, so zum Beispiel in großen Teilen der Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber letztlich hat fast jeder Mensch hier und da rassistische Tendenzen. Sie gehören zu den normalen Vorurteilen, dem schematischen Denken, mit denen wir die Welt einteilen, erklären. Teilweise beruhen Vorurteile auf eigenen Erlebnissen, die wir haben, teilweise bekommen wir sie anerzogen, von den Eltern oder den Gesellschaften, in denen wir leben – zumindest werden wir mit einigen so oft konfrontiert, dass wir sie teilweise übernehmen, wenn wir nicht das Glück haben, Erfahrungen zu machen, die den uns umgebenden Meinungen widersprechen. Wir sind also alle, auf gewisse Weise, Rassisten/Rassistinnen. Leugnen ist dabei der erste Schritt in die falsche Richtung.

„Leugnen ist der Herzschlag des Rassismus, der quer durch alle Ideologien, Races und Nationen pulsiert. Er schlägt in uns. Viele, die Trumps rassistische Ideen anprangern, leugnen ihre eigenen.“

Wie können wir der Falle entgehen, einen Rassismus gegen den anderen auszuspielen und wirklich antirassistisch werden, also uns von Vorstellungen lösen, die glauben, ein Individuum über seine Hautfarbe, seine sexuelle Orientierung, seine Herkunft, sein Geschlecht, etc. definieren zu können, nicht über seine individuellen Meinungen und Handlungen?

Nun, hier in Ibram X. Kendis Buch finden wir eine Anleitung zu genau diesem Thema. Es ist eine persönliche Geschichte vor dem Hintergrund des Rassismus in den Vereinigten Staaten, aber auch ein Leitfaden für die Bekämpfung rassistischen Denkens und Handelns, spezifisch und generell.

„Ich glaube nicht mehr länger, dass eine schwarze Person nicht rassistisch sein kann. Ich lasse nicht mehr jede meiner Handlungen davon bestimmen, wie ein imaginärer »weißer« oder »schwarzer Richter« sie beurteilen würde, versuche nicht mehr, weiße Menschen davon zu überzeugen, dass ich ein gleichwertiger Mensch bin, und Schwarze Menschen davon, dass ich eine Race gut vertrete. Ich schere mich nicht länger darum, wie die Handlungen anderer Schwarzer Menschen auf mich zurückfallen, denn keiner von uns ist ein Repräsentant von Race, und kein Individuum ist verantwortlich für die rassistischen Vorstellungen eines anderen.“

300 Statements von Ruth Bader Ginsburg


300 Statements

„Diese Erfahrung, die haben Frauen meiner Generation alle gemacht. Wenn eine Frau da Wort ergreift, hört keiner mehr hin. Sie hat ja ohnehin nichts Wichtiges zu sagen. Aber das hat sich heute, glaube ich, geändert.“

(aus eine Rede an der University of Colorado Law School, 19. September 2012)

Ruth Bader Ginsburg hat Zeit ihres Lebens ihre Mutter als „klügsten Menschen, den ich je kannte“ bezeichnet. Diese aber hatte, trotz ihres brillanten Verstandes, aufgrund ihres Geschlechts keinerlei berufliche Aufstiegschancen. Ihre Tochter ging auf die Law School, wurde Anwältin, Richterin (am Ende sogar am obersten Gerichtshof) und hatte dabei immer ein Ziel im Auge: die Gleichstellung von Mann und Frau, in jeglicher Hinsicht.

In den USA ist RBG eine Ikone der Frauenbewegung, aber auch in weiten Teilen der übrigen Bevölkerung genoss sie Kultstatus und allgemeines Ansehen. Sie ist eine der wenigen Richter*innen des Supreme Court, die mit großer Mehrheit im Senat bestätigt wurden – es gab lediglich drei Gegenstimmen, bei 96 Ja-Stimmen. Am 18. September 2020 ist sie verstorben, was nicht nur den linken Flügel im Supreme Court schwächt, die US-amerikanische Gesellschaft verlor vor allem eine wache und kritische Stimme.

Wer diese Stimme vernehmen will, der kann unter anderem zu dieser Publikation greifen, in der 300 Stellungnahmen, Interviewaussagen, Redebeiträge, Beschlüsse, etc. von Ruth Bader Ginsburg gesammelt wurden. Es sind nicht unbedingt alles kämpferische und pointierte Zitate (wobei es derlei durchaus gibt; zum Beispiel wurde sie einmal gefragt, da jetzt drei Frauen im Supreme Court säßen, ab wann wären es genug? Und sie antwortete: wenn wir zu neunt sind). Viel eher sollte man auf Zitate gefasst sein, in denen sich die wichtigen Fälle und Entscheidungen der Justiz in den USA spiegeln, eine Art kommentierte Rechtsgeschichte.

Im Anhang befindet sich dann noch eine Chronik, die wichtige Meilensteine in RBG Leben auflistet und erläutert. Alles in allem: ein Buch, das ein vielschichtiges Bild dieser bemerkenswerten Frau wiedergibt. Und hoffen lässt, dass die von ihr vielfach beschworenen Fortschritte und Errungenschaften eine Zukunft haben.

Zu “Von Zeit und Fluss” von Thomas Wolfe


Von Zeit und Fluss Zum ersten Mal stieß ich auf Thomas Wolfe in einer Anthologie mit Beiträgen zu hundert Jahren Rowohlt (erschienen 2008 ebendort, ein schönes Buch voller toller Anekdoten und Autor*innentipps); dort ging es vor allem um seine Deutschlandreise 1936, zu der jetzt bei Manesse auch eine Publikation erschienen ist.

Bei Rowohlt war zwischen den Weltkriegen das erste Werk von Wolfe auf Deutsch erschienen: „Schau heimwärts, Engel“, das ich mir in einer alten rororo-Ausgabe zulegte und bald darauf las. Beglückt, aber auch sehr erschöpft von Wolfes Stil, wagte ich mich damals nicht an sein opus magnum „Von Zeit und Fluss“.

Dann sah ich vor kurzem den Film „Genius“, in dem es um die Freundschaft zwischen Wolfe und seinem Verleger Maxwell Perkins geht (seines Zeichens auch „Entdecker“ von Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway), u.a. auch um die gemeinsame Arbeit an diesem 1200 Seiten-Werk (das ursprünglich sogar noch viel länger war). Die im Film zitierten Passagen rissen mich derart mit, dass ich beschloss, das Buch schnellstmöglich zu lesen.

Dieser erste Impuls scheint mir nun, nach der Lektüre, Jahre zurückzuliegen. Es ist schwer es anders zu sagen: dies ist ein Buch, das man nicht liest, sondern mit dem man für die Dauer der Lektüre lebt. Wolfes Stil, ungezügelt und voller Adjektive, dabei aber nie zu detailverliebt oder verwässert, sondern immer wie ein kräftiger Pinselstrich auf einem riesigen Gemälde, überschwänglich und in einem Maße pathetisch, welches nur den wenigsten Autor*innen ohne den Anschein von Schemenhaftigkeit und Kitsch gelingt, er durchdringt einen vollkommen.

Worum geht es in Zeit und Fluss? Nun, wenn man es runterbrechen will: ums Fortgehen von zu Hause und doch darum, dass das Zuhause in einem verbleibt; dass, obgleich alle Flüsse beständig fließen, sie irgendwo münden und entspringen. Es gibt nur das Fließen, aber es gibt trotzdem Enden und Anfänge, ewige Kreisläufe. Das schildert Wolfe anhand seiner eigenen Biographie (in Romanform) und zeichnet wie nebenbei noch ein überbordendes Bild des Amerikas seiner Zeit, ein Amerika an einem Wendepunkt zwischen Land und Stadt, Mythos und Moderne.

In diesem Bild tummeln sich viele, viele mannigfaltige Figuren, alle von einem Lebenswillen durchdrungen, um den Wolfes Roman trotz aller sonstigen Feinheiten und Plots und Ideen immer kreist. Gefühle, Regungen, bei Wolfe sind sie riesige Gewichte auf den viel zu kleinen Waagen, die dem menschlichen Verständnis zur Verfügung stehen – und doch ist in ihnen eine eigene Wahrheit immer präsent.

Kurzum und um nicht auszuufern: Wolfes Buch ist, nochmals, ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern mit dem man lebt, auf das man zurückblickt wie auf einen Lebensabschnitt, nicht wie auf eine Geschichte. Wer dergleichen erleben will, sollte es wagen, das Abenteuer mit „Von Zeit und Fluss“.

Zu “Die Mutter aller Fragen” von Rebecca Solnit


Die Mutter aller Fragen „Dies hier ist ein feministisches Buch, aber keines, das nur mit der Erfahrungswelt von Frauen zu tun hat, sondern mit der von uns allen – mit Männern, Frauen, Kindern und von Menschen, die Geschlechterbinarität und -grenzen infrage stellen.“ (aus dem Vorwort)

Mit jedem neuen Buch avanciert Rebecca Solnit für mich ein Stück weit mehr zu einem wichtigen Fixstern am Himmel derer, die wichtige Impulse und Ideen zu den Debatten unserer Zeit liefern. Schon ihre Bücher „Wenn Männer mir die Welt erklären“, „Die Dinge beim Namen nennen“ und „Wanderlust“ habe ich mit großen Gewinn gelesen und „Die Mutter aller Fragen“ reiht sich hier nahtlos ein und gibt mir dieses ganz besondere Gefühl der Dankbarkeit, das man mit den Autor*innen verbindet, die einen immer wieder aufs Neue prägen.

Wie auch schon bei „Wenn Männer mir die Welt erklären“ ist in „Die Mutter aller Fragen“ der Titelessay nur einer von vielen und der Band dreht sich nicht allein um Mutterschaft und deren zentrale Rolle bei der Bewertung weiblicher Existenzen; er ist sogar separiert und den beiden, sehr viel umfangreicheren Kapiteln des Buches wie ein Prolog vorangestellt.

In diesem Titelessay setzt sich Solnit mit der Vorstellung auseinander, zum Glück einer Frau gehöre unausweichlich auch die Mutterschaft und ihre Abwesenheit sei ein wichtiges Indiz – Ausgangspunkt ist (wie auch beim Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“) ein persönliches Erlebnis: bei einer Lesung wird sie vom Moderator anschließend direkt auf ihre Kinderlosigkeit angesprochen, statt auf ihr Werk. Von diesem Fall und ihrer persönlichen Geschichte ausgehend, dekonstruiert sie verschiedene herkömmliche Vorstellungen von Familienglück und stellt ihnen gleichsam die Freiheit der Wahl (ob Kind oder kein Kind) und weiterentwickelte Be- und Erziehungsmodelle gegenüber.

Der inbrünstige Glaube, der heterosexuelle Zwei-Eltern-Haushalt sei für Kinder etwas geradezu magisch Tolles, sitzt tief, und zwar in viel zu vielen Teilen dieser Gesellschaft. Das führt dazu, dass viele in unglücklichen Ehen verbleiben, was sich auf alle Beteiligten zerstörerisch auswirkt. Ich kenne Menschen, die lange gezögert haben, eine schreckliche Ehe zu beenden, weil eine Situation, die für einen oder sogar beide Elternteile unerträglich ist, sich angeblich auf Kinder segensreich auswirke.

Nachdem sie mit ein paar Gemeinplätzen aufgeräumt hat, geht sie noch einen Schritt weiter und legt durch einige Statistikern und Beispiele den Leser*innen nahe, die herkömmlichen Glückskonzepte (und dazugehörigen Narrative) der derzeitigen Gesellschaften generell zu hinterfragen:

Die Rezepte für ein erfülltes Leben, die uns unsere Gesellschaft anbietet, verursachen offenbar eine ganze Menge Unglück, sowohl auf Seiten derer, die nicht in der Lage oder willens sind, diese Rezepte zu befolgen, und deswegen stigmatisiert werden, als auch auf Seiten derer, die brav nach Rezept leben, aber das Glück trotzdem nicht finden.

So viel zum Eingangstext. Das erste Kapitel des Buches bildet dann größtenteils ein längerer Essay über das (aufgezwungene, unfreiwillige) Schweigen (in vielen Dimensionen – durch physische Gewalt herbeigeführt, durch Angriffe auf die Glaubwürdigkeit, durch das Verhindern von Öffentlichkeit, etc.). Der Text ist ein etwas havarierendes, sprunghaftes Gebilde mit vielen Zwischenüberschriften, das aber immer wieder Bemerkenswertes herausarbeitet und im Ganzen eine erschütternde Geschichte erzählt: die Geschichte von der Diversität und ihren Feinden. Und von einem Aufwind der Veränderung.

Im Kampf um die Freiheit ging es immer auch darum, Bedingungen zu schaffen, die denen, die vormals zum Schweigen gebracht wurden, zu Sprache und Gehörtwerden verhelfen. […] Wenn das Recht, sich zu äußern, glaubwürdig zu sein und gehört zu werden, eine Art Reichtum ist, dann wird dieser Reichtum momentan umverteilt.

In den anderen Essays des Kapitels geht es dann um diesen Aufwind, also um die Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren bemerkbar gemacht haben. Sehr schön ist, wie Solnit hier neben den vielen Aktionen von Aktivistinnen und Künstlerinnen auch über Männer spricht, bei denen sie immer mehr aufrichtiges Interesse für feministische Belange wahrnimmt und auch, dass sie dementsprechend agieren. Und sie geht sogar so weit, in einigen Abschnitten eine Theorie zu verhandeln, nach der auch viele Männer vom Patriachat kaputt gemacht werden, indem sie dazu angehalten werden, sich selbst emotional zu verkrüppeln, ihre Empathie abzubauen und keine Gefühle zu zeigen. Als kleines, noch harmloses Beispiel nennt sie:

Als ich noch sehr jung war, habe ich mit meinem Freund eine Reise mit dem Auto gemacht, und als wir losfuhren, sagte sein Vater zu uns: »Meldet euch mal. Deine Mutter macht sich sonst sorgen.« Die Mutter war die Platzhalterin seiner Gefühle, die er nicht ausdrücken konnte. […] [er war so ein Sinnbild für] Männer, die sich bei jeglichem Gefühlsausdruck im schlimmsten Fall konkret unwohl fühlten und meinten, dass das Verbindliche eben nicht ihre Aufgabe war. […] Diese Leute erinnern uns daran, dass dieses Abgestumpftsein im Kern aller Dinge ruht und nicht an deren Rändern […] eine ganze zentrale Angelegenheit ist und keine marginale.

Ein weiterer großer Themenkomplex ist der Umgang mit sexuellem Missbrauch – und wie sich auch hier in den letzten Jahren (im Zuge der Cosby-Affäre und #metoo, etc.) einiges verändert hat, aber immer noch von einer rape culture gesprochen werden muss, in der nicht nur pathologisch eine Täter-Opfer-Verschleierung stattfindet, sondern generell vieles ungeahndet und ungenannt bleibt.

Menschen werden u.a. deswegen verletzt, weil wir nicht über diejenigen sprechen wollen, die sie verletzen. […] und ich glaube fest daran, dass eine Welt, in der wir die Männer nicht so häufig von ihrer Verantwortung entbinden würden, eine bessere wäre.

Das zweiten Kapitel wartet dann noch mit allerhand großartigen Einzeltexten auf, u.a. einer Kritik an einer Liste mit „80 Büchern, die man als Mann gelesen haben sollte“, einem Essay zum erstaunlich progressiven 50er Jahre Spielfilm „Giganten“ und einem Text mit dem Titel „Wenn Männer mir Lolita erklären. Nebenbei fließen immer wieder prägnante Beobachtungen ein, zum Beispiel zur Pornographie:

Der Mainstreamware scheint es jedoch prinzipiell weniger um die Macht der Erotik zu gehen als um die Erotisierung der Macht.

Diese Beobachtung mag für manche offensichtlich oder hinlänglich bekannt sein, aber für mich fasst dieser Satz tatsächlich sehr gut das zusammen, was ich an Mainstreampornographie meist abstoßend, im gelindesten Fall irritierend finde. Es ist beeindruckend wie leicht Solnit solche Feststellungen und kurzen Abschweifungen von der Hand gehen und wie sie doch bei aller Prägnanz und allen Zuschreibungen nie eine potenzielle und unzulässige Verallgemeinerung aus dem Blick verliert, sich immer wieder Zeit nimmt, im richtigen Maß ihre Beobachtungen und Ausführungen zu kontextualisieren und zu relativieren, ohne sie abzuschwächen

In einem ebenfalls sehr lesenswerten Essay mit dem Titel „Die Flucht aus der fünf Millionen Jahre alten Vorstadtsiedlung“ geht es um den langegehegten und längst überholten Mythos von den ausziehenden männlichen Jägergruppen und den braven Frauengruppen, die Zuhause blieben, der gerne als Rechtfertigung für die Rollenverteilung in allen Zivilisationen herangezogen wird. Mit den letzten Sätzen dieses Textes möchte ich schließen und jeder/m die Bücher von Solnit ans Herz legen.

Wir müssen aufhören, das Märchen von der Frau zu erzählen, die passiv und abhängig zu Hause blieb und auf ihren Mann wartete. Sie saß nie wartend herum. Sie hatte zu tun. Und das hat sie immer noch.

 

Zu “Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich”


Wenn die Chinesen Rügen kaufen „Zur Wirklichkeit vordringen, schon das ist nicht beliebt. Zur Wirklichkeit vordringen heißt: zur Wirtschaft vordringen. Das ist noch weniger beliebt.“

Friedrich Christian Delius ist Mitte 70 und kann auf eine sehr vielfältige und umtriebige Karriere zurückblicken. Eines war er aber immer: ein Chronist mit einem Gespür für Ignoranz und Dünkel, dem feinen Stil eines Feuilletonisten und einer besonders unbestechlichen dialektischen Begabung. Nicht selten trat er in seinen Büchern als unbequemer Kritiker auf, so schon in seiner meisterhaften Festreden-Satire „Unsere Siemens-Welt“ (1972), so auch in seiner monologischen Abrechnung mit der Geschichte der katholischen Kirche in „Die linke Hand des Papstes“ (2013) und so wiederum in diesem Roman mit dem schönen Titel „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich.“

Protagonist ist hier ein aufs Abstellgleis geschobener Mitarbeiter einen größeren deutschen Tageszeitung. Zu unbequem wurde er den Chefs, zu kritisch wollte er dieses und jenes Thema hinterfragen, schließlich wird ihm ein Witz in der Kantine zum Verhängnis. Also: Frührente. Um nicht aus Trotz zur Meinungsmaschinerie des Internets beizutragen, schreibt er seine Überlegungen zum Weltgeschehen in einem Tagebuch nieder, dass er vielleicht einmal an seine aufgeweckte Nichte weitergeben oder vererben will – diese Aufzeichnungen bilden den Inhalt des Buches. Seine Entscheidung gegen einen Blog oder Social-Media-Kanäle begründet er damit, dass dort kein Dialog herrsche, sondern lediglich eine „Konjunktur der Hysterien“ und Meinungsblasen, in denen sich diese Hysterien immer weiter hochschaukeln würden.

„Deshalb bin ich ja zur Zeitung gegangen, weil ich gerade die Leute informieren und überzeugen wollte, die nicht meiner Meinung sind oder sich erst eine bilden wollen, eine sachlich begründete Meinung. […] Vorteil des Tagebuchs: die eigenen Dummheiten von denen der übrigen Welt trennen. Im Blog, bei Twitter, Facebook u.s.w.: die eigenen Dummheiten mit denen der restlichen Welt vermanschen. […]„Es schießen zu viele Meinungen durch die Welt, das permanente Gerangel um Aufmerksamkeit entfernt die Leute voneinander und macht sie kirre, selbst einen alten Hasen von 63. […] Es gebe eine ‚Deregulierung des Meinungs- und Diskussionsmarktes‘ (Pörksen), gut gesagt.“

Social-Media-Kanäle sind aber nur eines der Themengebiete, die in den Aufzeichnungen mit spitzer Feder filetiert und analysiert werden. Neben den Erfolgen der AfD, für die Delius Redakteur nur herrlich fein herausgearbeiteten Spott übrig hat, kreisen sie vor allem um zweierlei: die aufkommenden Investition der chinesischen Märkte (und oft: des chinesischen Staates) in Europa (aber auch Afrika, Naher Osten, Südamerika) und die möglichen Folgen, sowie die Griechenland-/Eurokrise.

Gerade was letztere angeht ist das Buch eine bestechende und erschreckende Aufarbeitung, und die daraus resultierende Darstellung ist so schlüssig, dass man sich ob seines bisherigen ignoranten Halbwissens sehr schnell zu schämen beginnt – und kaum umhinkommt in die Beschimpfungen einzufallen, die Delius der Kanzlerin M., besonders aber ihrem Wirtschaftsminister Sch. an den Kopf wirft; für ihr Versagen, das kein wirkliches Versagen, vielmehr ein bewusstes Falschmachen war/ist. Bei Sch. könnte man schon von verbrecherischer Politik sprechen.

„Auch für die eigenen Gemeinplätze gilt: alle vier Wochen zum TÜV.“

Bei China geht es ein bisschen weniger konkret zu. Hier hat der Protagonist vor allem Befürchtungen (die aber durchaus gestützt sind durch Fakten, Äußerungen und Beobachtungen), die letztlich in der leicht aberwitzigen Vorstellung gipfeln, eines Tages könnten die Chinesen die Insel Rügen kaufen (wobei, wenn man bedenkt, dass die Chinesen bereits den Hafen von Piräus gekauft haben …)

Delius spielt hier sehr geschickt mit der Kassandrarolle, die sein Protagonist einnimmt (bekanntlich war Kassandra zur Vorsehung verflucht und ein Teil des Fluchs war, dass niemand außer ihr ihren Prophezeiungen je Glauben schenken konnte). Auch der Redakteur selbst ermahnt sich immer wieder zur Vorsicht und führt ein paar Argumente gegen seine Ängste ins Feld. Trotzdem schwebt die Sammlung seiner Überlegungen und Fakten über dem Text und auch über dem letzten Kapitel, das zu einem großen Teil auf Rügen spielt und in dem es eigentlich um ganz andere Fragen geht. Auf kluge Art und Weise zeigt Delius, wie hilflos der/diejenige ist, der/die bemerkt, wie die Menschen nicht voraus- oder sich umschauen, sondern lediglich auf ihre Füße, ihre Standpunkte (oder ihre Smart-Phones).

„Eine Meinung zu haben heißt heutzutage: recht haben wollen.“

Delius neuster Roman ist ein bis in den letzten Wortwitz hellsichtiges Portrait unserer Gegenwart und ihrer Mechanismen, ein Roman der Stunde, der wohl leider von den wenigsten als ein solcher gelesen werden wird (siehe: Kassandra). Formal unterstreicht die Entscheidung für die Tagebuchaufzeichnung diese Aktualitätsstärke, überhaupt wäre das Buch wohl kein besonders gelungener Roman, wäre es nicht auch ein sehr aufmerksames Zeitdokument.

Wer sich politisch bilden mag und einen Abstieg in die teilweise unbequemen, teilweise etwas sprunghaften Gedankenanstöße und Überlegungen von Delius Kassandra nicht scheut, der wird mit „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich“ einiges erleben und lernen, dass es einige wunde Stellen mehr in unserer Welt gibt, als unsere Weltbilder derzeit hergeben. Auch wenn das Buch als Roman nicht 100% überzeugt, will ich ausdrücklich dazu aufrufen: lest Delius! Ein Autor, der das Politische nicht scheut, ohne größeres Kalkül, jedoch mit klaren Ansagen. Und vor allem: mit vielen klugen Beobachtungen.

Zu “Dissidentisches Denken” von Marko Martin


Dissidentisches 30 Jahre nach dem so genannten „Mauerfall“ muss in Europa eine erschreckende Bilanz gezogen werden: Nicht nur gibt es wieder verblendete Nationalphantasien und restaurative Gesellschaftsentwürfe, die Idee der Epochenwende, des Anbruchs eines befreiten Zeitalters, scheint sich ins Gegenteil zu verkehren. Während in Ländern wie China eifrig eine Politik des unbedingten gemeinschaftlichen Ganzen (mithilfe von digitalen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen) betrieben wird, werden in Staaten wie Russland und den USA Entitäten wie die Wahrheit von den Regimen gepachtet und umgedeutet. Die Institutionen der Demokratie müssen derweil in vielen Ländern semi-demokratischen, in vielerlei Hinsicht schon plutokratischen oder autokratischen Machtverhältnissen weichen.

Diese Entwicklungen ähneln – so reißerisch und vorschnell diese Überlegung erscheinen mag und obgleich sich Geschichte nicht 1zu1 wiederholt – in einigen Punkten den Entwicklungen, denen in der letzten (und ersten) großen Ära demokratisch geführter Staaten (zwischen den Weltkriegen) viele Länder zum Opfer fielen (manchmal ohne echte demokratische Zwischenphase). Neben den faschistisch-autokratischen Staaten bildeten sich damals auch viele pseudosozialistisch-autokratische Staaten, allen voran die Sowjetunion, der viele andere dieser psa Staaten (zwangsweise) als Satellitenstaaten dienten oder zumindest in mancherlei Hinsicht auf sie angewiesen waren.

In allen Gesellschaften, die nicht demokratisch (oder anarchistisch) organisiert und/oder regiert werden, sind alle von den derzeitigen Regierungserlassen abweichenden (und verlautbarten) Meinungen unerwünscht, oftmals strafbar und sie werden unterdrückt/unterbunden. Die Träger*innen solcher Meinungen (und aus ihnen resultierenden Handlungen/Weigerungen) nennt man Dissident*innen. Ihre Spur zieht sich durch die Geschichte (auf gewisse Weise waren auch Figuren wie Sokrates oder Jesus, Johanna von Orleans oder Martin Luther Dissident*innen), viele der wichtigsten neueren Zeugnisse ihres Denkens und ihrer Position stammen aber aus den Ländern, die bis 1989 zum „Warschauer Pakt“ gehörten (oder ein faschistisches Regime hatten).

Marko Martin hat sich mit ihnen auseinandergesetzt und ein großes Buch über eine Epoche geschrieben, deren widerständige Kräfte, dissidentische Erlebnisse, Erinnerungen und geistigen Potenziale allzu schnell ad acta gelegt wurden, als die Systeme und Welten, gegen die sie gerichtet oder in denen sie entstanden waren, endeten und (vermeintlich) untergingen. Aus den Schicksalen der Autor*innen und Intellektuellen, mit denen Martin gesprochen hat oder die er, in manchen Fällen, porträtiert, ergibt sich das Muster und der Stempel einer Zeit, der auch unserer Zeit erneut aufgedrückt werden könnte, wenn wir nicht aufpassen.

Um einen klarere Blick auf die Vergangenheit zu bekommen, aber auch für eine Arbeit am Verständnis der Gegenwart und der (leider zeitlosen) Unterdrückung, eignet sich dieses Buch hervorragend. Es ist eine große Leistung und ein unverzichtbares Bildungsgut, ein Kaleidoskop verschiedenster Lebensläufe, sich kreuzend auf den Weltmeeren des Exils und des Widerstandes.

Zu John Wrays “Gotteskind”


Gotteskind John Wrays neuster Roman kreist um das Schicksal einer jungen Amerikanerin, die (aus Trotz/aus jugendlichem Leichtsinn/aus religiöser Überzeugung/um ihren Eltern zu entfliehen/im Zuge einer Sinnsuche, all diese Motive spielen eine Rolle, die Gewichtung bleibt der Interpretation der Leser*innen überlassen) ihr Leben in den USA hinter sich lässt und zusammen mit einem Freund nach Pakistan aufbricht, um dort (verkleidet als junger Mann) in einer Medrese (Koranschule) den islamischen Glauben zu praktizieren. Von Anfang an ist sie aber auch faszinierend von den Gläubigen, die die Grenze überqueren und in Afghanistan für den Gottesstaat kämpfen, eine Faszination, die immer mehr zu einem Vorhaben wird…

In der Literatur, so sagt man, werden die ersten guten Romane über historischen Ereignisse und ihre Kontexte 5-10 Jahre nach den Ereignissen vollendet/veröffentlicht. Insofern ist John Wray mit “Gotteskind” fast schon “spät dran”, den der Roman spielt in dem geschichtsträchtigen Jahr 2001:

11 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks herrscht in Afghanistan immer noch Bürgerkrieg. Während des Kalten Krieges (genauer ab 1979) hatten (von der amerikanischen Regierung finanzierte) Mudschahedin gegen die Besatzer aus der UdSSR gekämpft, viele davon Söldner, die nach dem Abzug der russischen Streitkräfte blieben und weiterkämpften; viele schlossen sich den Taliban an, die mit der Unterstützung Pakistans bald große Teile des Landes beherrschten.

Wray lässt diese Backgroundinformationen außen vor, sein Roman ist nicht der Versuch eines großen Panoramas oder einer vielschichtigen historischen Aufarbeitung. Er legt den Fokus ganz auf die Empfindungen und Erlebnisse seiner Protagonistin Aden Sawyer (die sich vor Ort Süleyman nennt), wir erleben alles nur durch ihre Augen (obgleich Wrays Roman keine Ich-Perspektive hat, sondern in einer personellen Erzählhaltung verfasst ist).

Das ist die Bravour und der Reiz dieses Romans, denn durch diesen Fokus, zusammen mit Wrays guter Charakterzeichnung, manifestiert sich Aden als eine sehr lebendige Figur, die einen ebenso in Erstaunen versetzen wie auch zur Weißglut treiben kann, mit ihren klugen Fragen oder ihrem unvorsichtigen Verhalten. Wray lässt uns teilhaben an Momenten, in denen sie über sich hinauswächst, während sie bei anderen Gelegenheiten ganz und gar ihren Schwächen unterliegt. Der Roman ist die langsame Entschlüsselung, Entblätterung von Adens Charakterfacetten und lässt doch Spielraum für viele Fragen, Spiegelungen, Ambivalentes.

Trotz dieser guten Charakterzeichnung, die mich gefesselt hat und das Buch in jedem Fall zu einem lesenswerten Roman macht, komme ich nicht umhin, festzustellen, dass mich die letzten 50-60 Seiten des Buches doch ein wenig enttäuscht haben. Ich habe das Gefühl, Wray konnte sich nicht entscheiden, wie er den Stoff zu Ende spinnen soll, wie und ob er einige größere und kleinere Fäden kreuzen soll, ob die Geschichte kulminieren oder in sich zusammenbrechen, sich verlaufen soll und so geschieht alles und nichts zugleich – die endgültige Transformation der Figur gelingt in meinen Augen dadurch auch nicht.

Es ist natürlich immer leicht, Romane nach einmaliger Lektüre für das zu kritisieren, was sie nicht ausgelöst oder befriedigt haben. Ich möchte daher betonen: es ist bemerkenswert, was Wray hier an Charakterzeichnung leistet, wie gut er bei seiner Figur bleibt, wie umsichtig er vorgeht. Unbestritten. Gerade deshalb ist der Abfall am Ende auch so deutlich, in meinen Augen. Er negiert nicht das literarische Erlebnis der ersten 300 Seiten, das ich jeder/m ans Herz legen kann, aber es bleibt ein leicht unwillkommener Nachgeschmack.

Zu Rebecca Solnits Essays in “Die Dinge beim Namen nennen”


Dinge beim Namen nennen „Wir haben uns verlegt auf kurze, behauptende Statements, auf das Denken in Schlagzeilen, in Schwarz-Weiß, in unbestimmten Sammelkategorien.“

Mit diesem Buch bin ich wohl endgültig zum Fan von Rebecca Solnit geworden. Schon „Wenn Männer mir die Welt erklären“ (wo es nicht nur um Mensplaining, sondern auch um strukturelle, sexuelle Gewalt, Männlichkeit, Virginia Woolf und das Kassandra-Syndrom (das Untergraben der Glaubwürdigkeit von weiblichen Aussagen) geht) hat meine Sicht auf viele Dinge grundlegend verändert und geprägt; ich las es mit Begeisterung und Bestürzung. Die Lektüre von „Die Dinge beim Namen nennen“ wurde von einer ähnlichen Gefühlskombination begleitet und wird noch lange nachhallen.

In vier Kapiteln berichtet Solnit hier von US-amerikanische Realitäten, Phänomenen, Krisen (der Untertitel des Originals lautet: „American Crises (and Essays)“), kommt aber dabei auch auf viele grundsätzliche Probleme zu sprechen, die sie meisterhaft exzerpiert, ohne falsche Scheu direkt angeht. Schon im Vorworttext kommt sie auf die Idee der Perfektion zu sprechen und schreibt:

Viele von uns glauben an Perfektion, obwohl sie alles ruiniert, denn das Perfekte ist nicht nur der Feind von allem, was gut ist, sondern auch dessen, was realistisch und möglich ist und Vergnügen bereitet.

Eine Ansicht, die sie in einem späteren Text über Zynismus erweitert:

wer alles, was nicht perfekt ist, für moralisch kompromittierend erklärt, will sich damit nur selbst erhöhen, sich aber nicht mit aller Kraft einen Ort oder ein System oder eine Gemeinschaft engagieren.

In dem Buch wimmelt es nur so von solch dezidierten, klugen Beobachtungen und Feststellungen, die eingewoben sind in Analysen zu gegenwärtigen Geistesverfassungen, in den USA und, letztlich, allen westlichen Gesellschaften. „Gefühlslagen“ nennt Solnit dementsprechend die im zweiten (von vier) Abschnitt versammelten Texte – zu denen wir gleich kommen.

Die Texte in Abschnitt eins beschäftigen sich vor allem mit dem Phänomen Trump, seiner Wahl, sowie den Gegebenheiten und Umständen, die dazu geführt haben (und die kontrovers diskutiert wurden und werden – das Nachplappern verschiedenster Theorien hierzu ist sogar zu einer der beliebtesten Small-Talk-Thematiken geworden).

Neben handfesten Erklärungen, warum dieser Wahlkampf (und sein Ausgang) ein Meilenstein der Frauenfeindlichkeit war (nicht nur in Bezug auf Trump) und wie besonders für People of Color massenhaft die Stimmabgabe erschwert wurde – wenn ihre Stimmen durch die Wahlstrukturen nicht eh marginalisiert wurden – wagt sich Solnit in ihrem Text „Die Einsamkeit des Donald Trump“ auch an ein psychologisches Porträt des Wahlsiegers – mit dem Fazit: Er ist (auch) das folgerichtige Produkt eines Lebensweges ohne echte Rückschläge, Krisen oder Grenzsetzungen; Trump, stets umgeben von Ja-Sager*innen, sieht laut Solnit mittlerweile niemanden mehr als ebenwürdig/sich selbst gleich an, folglich fehlen ihm auch sämtliche Kontrollmechanismen, im Austausch mit solchen Menschen greifen und das Neubewerten der eigenen Handlugen ermöglichen.

das Gegenteil von Mensch, die uns herabziehen, sind nicht jene, die uns auf einen Sockel stellen und uns Honig um den Bart schmieren. Es sind Gleichgestellte, die großmütig sind, ohne uns aus der Verantwortung zu entlassen, Spiegel, die uns zeigen, wer wir sind und was wir tun.

Dieses Porträt hinterlässt als einziger Text einen etwas faden Nachgeschmack; es liegt darin ein Hauch von Küchenpsychologie, auch wenn Solnits grundsätzliche Ausführungen sehr schlüssig sind. Sie liefert eine gute Erklärung für Trumps Größenwahn, aber selbst gute Erklärungen wirken bei diesem Mann ziemlich widersinnig (wobei es vielleicht auch gut ist, Trump nicht als „outstanding“-Persönlichkeit zu behandeln; in diesem Sinne ist Solnits Porträt ein guter Versuch, ihn als einem stinknormalen Solipsisten abzustempeln, vom Sockel zu holen).

In dem zweiten Abschnitt „Amerikanische Gefühlslagen“ stellt sie u.a. dem Zynismus ein niederschmetterndes Zeugnis aus:

Zynismus ist in erster Linie eine Form der Selbstdarstellung, und mehr als alles andere sind Zyniker stolz darauf, sich weder für dumm verkaufen zu lassen noch dumm zu sein. Doch die Arten von Zynismus, die mir begegnen, enthalten häufig beides. Dass die Haltung, sich der eigenen weltmüden Lebenserfahrung zu rühmen, in Wahrheit häufig so naiv ist, zeigt, wie sehr der Schein inzwischen über die Substanz triumphiert, die Attitüde über die Analyse.

und kritisiert die Lust an der Eskalation, die Anfälligkeit der modernen Mediengesellschaften für den Trigger Zorn:

„Zorn ist nicht ganz dasselbe wie Entrüstung. Man könnte sagen, dass Letztere weniger aus der Wut darüber resultiert, was passiert ist, sondern aus dem Mitgefühl mit denjenigen, denen es passiert ist.“ (Solnit nennt als Beispiel hier Nelson Mandela, der es irgendwann einmal, so erzählte er in einem Interview, aufgegeben habe, zornig zu sein. Seinem Engagement habe es nie geschadet und er sähe Zorn mittlerweile als Falle an, die uns von konstruktiven Formen der Veränderung abbringt.)

Gleich zu Anfang kommt sie auf das fast schon mythologische Ideal der Isolation zu sprechen, das in den USA spätestens seit der Figur des einsamen Cowboys (Rächers, Helden, etc.) ins nationale Unterbewusstsein eingeflossen ist und sich dort hartnäckig hält, vor allem in Form von Männlichkeitsbildern (und dadurch leider oft auch den Charakter von politischen Entscheidungen beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt). Es ist sehr spannend, wie Solnit anhand von tagespolitischen und popkulturellen Referenzen dieses seltsame, fast schon pathologische Ideal nachweist und seine Wirkung und Stellung herausarbeitet.

Im letzten Text in Abschnitt Zwei beschäftigt sie sich mit einem Thema, das viele politisch interessierte und engagierte Menschen dieser Tage beschäftigen wird: bewegen wir uns nur noch in Echo-Kammern, erzählen wir unsere Ideen und Fakten immer nur den Leuten, die eh schon mit uns einer Meinung sind, die Bescheid wissen, kurzum: predigen wir dem Kirchenchor? Solnit nimmt hier wiederum eine erstaunlich vitale und entschiedene Gegenposition ein:

Die Faktenlage deutet stark darauf hin, dass politische Körperschaften am meisten profitieren, wenn sie diejenigen motiviert kriegen, die längst mit ihnen übereinstimmen – wenn sie also nicht diejenigen ansprechen, die noch unsicher sind, wen, sondern die, die nicht wissen, ob sie überhaupt wählen gehen sollen. […] Trotz allem machen sich gemäßigte Demokraten oft auf, um denjenigen um den Bart zu streichen, die sie definitiv nicht unterstützen, womit sie dann wiederum diejenigen verraten, die das eigentlich tun.

Sie positioniert sich im Verlauf des Textes u.a. eindeutig gegen den Mythos von der „weißen Arbeiterschaft“, die die Demokraten angeblich vernachlässigt und vergrault hätten, eine beliebte Erklärung für die verlorene Wahl; vielmehr wäre, auch unter Mitwirkung der Medien, Clinton als Person erschienen, die zu viele Gruppen habe ansprechen wollen. Solnit legt dar, warum es den Politiker*innen heute mehr denn je darum gehen muss, ihre Integrität zu bewahren, statt den Chimären von großen Mehrheiten und unsinnigen/unmöglichen Konsensen hinterherzujagen. Und sie macht die Irrelevanz dieser Taktiken und ihre hemmende Wirkung auf progressive Veränderungen an einem einfachen Beispiel deutlich.

In den letzten Jahren habe ich oft gehört, wie Leute sie die Köpfe heiß redeten angesichts von Umfrageergebnissen darüber, wie viele US-Amerikaner*innen den Klimawandeln für wahr halten. Sie schienen immer überzeugt davon, dass die Klimakrise gelöst wäre, wenn man alle dazu bekäme, an den Klimawandel zu glauben. Aber wenn diejenigen, die den Klimawandel längst für real und akut halten, nichts gegen dieses Problem unternehmen, dann passiert eben auch nichts. Es ist nicht nur unwahrscheinlich, dass sich irgendwann alle einig sein werden, sondern die Frage, ob dem so sein wird, ist auch völlig irrelevant. Es lohnt nicht, darauf zu warten. Es gibt ja auch immer noch Menschen, die nicht finden, dass Frauen die gleichen unveräußerlichen Rechte zustehen wie Männern, was uns aber ja auch nicht davon abgehalten hat, eine Politik zu machen, die auf dem Prinzip der Geschlechterfreiheit fußt. […] Wer darauf besteht, dass eine Idee in der Mitte der Gesellschaft angekommen sein muss und sich nicht noch auf Wanderschaft befinden darf, bevor an ihrer Umsetzung gearbeitet wird, hat nicht verstanden, wie Veränderung funktioniert.

Wie sie funktionieren kann, die Veränderung, schildert Solnit dann auch gleich, am Beispiel von gewaltfreien Bewegungen, historischen Beispielen und Ideen.

Im dritten Abschnitt geht es dann um „Amerikanische Hartleibigkeiten“, was u.a. das Blut auf dem Gründungsmythos von Texas und die Denkmäler konföderierter und sonstiger Sklavenhalter meint. In dem längsten Essay des ganzen Bandes setzt sich Solnit aber auch mit einem expliziten Fall von Polizeigewalt (mit Todesfolge) in San Francisco auseinander (ein Text, der ein wenig an Joan Didion erinnert) und beschreibt dabei auch die Umwälzungen, die in den meisten amerikanischen Großstädten an der Tagesordnung sind. In einem anderen, berührenden Essay beschreibt sie den Fall eines mit großer Wahrscheinlichkeit zu Unrecht verurteilten Strafgefangenen, der mittlerweile, nach zahllosen Besuchen, auch ein Freund geworden ist – und auch hier ist der konkrete Fall natürlich der Ausgangspunkt für eine Betrachtung des ganzen Systems. Auch die Verhinderung einer Ölpipeline, mehrheitlich durch Vertreter*innen der Native Americans, ist Thema eines Textes.

Der vierte Abschnitt fasst dann drei Texte unter dem Titel „Möglichkeiten“ zusammen. Gleich der erste Text ist eine Antrittsvorlesung an der Graduate School of Journalism an der University Berkeley. Es ist vielleicht das Meisterstück dieser sehr überzeugenden Essaysammlung. Als Stichwort für die Rede wählte Solnit die Redewendung „[to] Break the Story“.

Der dominanten Kultur ist meisthin daran gelegen, ebenjene Geschichten zu stärken, auf denen sie wie auf Säulen ruht, Säulen, die allerdings allzu häufig zugleich die Käfigstäbe anderer sind. […] Warum nur machen die Medien so brav ein derartiges Gewese um Terrorismus, dem in den Vereinigten Staaten so wenige zum Opfer fallen, während sie gleichzeitig häusliche Gewalt verharmlosen, durch die Millionen amerikanischer Frauen über lange Zeiträume terrorisiert und alljährlich fast tausend getötet werden? […] Ich glaube, dass die Mainstream-Medien gar nicht so sehr rechts- oder linkslastig sind, sondern vielmehr Status-quo-lastig. Sie tendieren dazu, Menschen in Machtpositionen glauben zu schenken, auf Institutionen, Unternehmen, die Reichen und Mächtigen zu vertrauen – also so gut wie jedem selbstbewusst auftretenden weißen Mann in einem Anzug. Sie tendieren dazu, Menschen, die längst bewiesen haben, dass sie die Unwahrheit sagen, noch mehr Lügen erzählen zu lassen und dann noch ausführlich darüber zu berichten; von Thesen auszugehen, die längst als widerlegt gelten […] Zukünftige Generationen werden uns mehrheitlich dafür verfluchen, dass wir uns mit Belanglosigkeiten abgelenkt haben, während der Planet brannte.

Es ist eine Rede, bei deren Lektüre ich mir wünsche, dass alle Journalist*innen der Welt sie verinnerlichen würden, damit die „vierte Gewalt“ im Staat wirklich überall das aufklärende und wachsame Organ wird, das es sein könnte. Journalist*innen als Schöpfer*innen und Zerstörer*innen von Geschichten – Solnit löst dieses Potenzial, diese Verantwortung, in ihren eigenen Texten ein und fordert sie von den Studierenden, zu denen sie spricht.

Auch die anderen beiden Texte handeln von Courage, von Mut: dem Mut, Veränderungen in Gang zu setzen, selbst wenn nicht direkt Ergebnisse zu erwarten oder Wirkungen zu ersehen sind. Es geht ums tun und nicht ums Siegen, wie schon Konstantin Wecker sang. Der Zweifel am Tun ist zwar wichtig, aber ihn selbst als entscheidende Tat zu sehen, wäre fatal.

„Die Dinge beim Namen nennen“ ist ein lebenskluges, gleichsam feinsinniges und Klartext redendes Werk. Solnit, umtriebig und doch bei jedem Thema sehr fokussiert, festigt ihren Ruf als wichtige und profilierte Stimme ihrer Zeit. Sie spricht hier von Dingen, die uns alle angehen und die sie klug und beredet beim Namen nennt. Neben Ta-Nehisi Coates “We were eight years in power – Eine amerikanische Tragödie” ist es außerdem das beste Buch über die derzeitigen amerikanischen Verhältnisse, das ich kenne.

 

Billy Joel zum 70. Geburtstag


 

“I think music in itself is healing. It’s an explosive expression of humanity. It’s something we are all touched by. No matter what culture we’re from, everyone loves music.”

Meine erste Begegnung mit der Musik von Billy Joel war eine rote CD-Hülle im Regal mit der Musik meiner Eltern, kyrillische Buchstaben auf dem Frontcover. Ich weiß nicht mehr genau, warum ich der festen Überzeugung war, dass es sich um klassische Musik handeln müsse; vermutlich das übermäßige Selbstbewusstsein des Teenagers. Aber da ich damals (bevor ich mich wirklich in einige Werke klassischer Musik verliebte, allen voran in die von Johann Sebastian Bach) dachte, ich sollte mich mit solchen Dingen auseinandersetzen, quasi als notwendige Bildung (geheimer Wunsch nach gerechtfertigtem Snobismus inklusive), schob ich die CD in den Spieler und drückte auf Play.

Die ersten 1:18 Minuten schienen zunächst meine Vorstellung zu bestätigen: Gesang in a cappella-Manier. Dann aber das Klavier, schnell, rasant, die Gitarre einsetzend – der Beginn von “Prelude/Angry young man”, das Joel bis heute am Anfang von fast jedem seiner Konzerte spielt.

Das war auch der Anfang einer großen Begeisterung und anhaltenden Liebe zu den Alben und den vielen unterschiedlichen Stilen des “Piano Man”, von den mitreißenden Radiohits bis zu den fast unbekannten Balladen. KOHЦEPT, 1987 aufgenommen in Leningrad, war der Türöffner. Vor dem letzten Track des Albums spricht Joel zum Publikum und sagt, dass er glaubt, dass die Stimmung in ihrem Land viel gemein hat mit den Umbrüchen in den USA in den späten 60er Jahren. Folgerichtig spielt er für sie als letztes die Hymne dieser Zeit: Bob Dylans “The times they are a-changin” – Gänsehaut (wie sonst nur beim Prolog zum Film “Watchmen”).

Ich hätte nicht übel Lust hier noch stundenlang über meine Lieblingssongs zu schreiben, aber werde mich kurz fassen.

Eine der schönsten Balladen (neben “Vienna”, ist ja klar) ist das auf dem 1976er Album “Turnstiles” enthaltende Lied “Summer, Highland Falls”, eine Meditation zu rauschendem Klavier, eine Utopie, eine Sehnsucht nach Besinnung und eine Hymne auf die Erbarmungswürdigkeit.

Ein großartiges Beispiel für Song-Storytelling ist nach wie vor “Scenes from an italian restaurant” von dem 1977er Erfolgsalbum “The Stranger” (von dem auch der damalige “Skandalhit” “Only the good die young” stammt, in dem ein junger Mann seine katholische Freundin zu überreden versucht, mit dem Sex nicht bis zur Ehe zu warten).

Manches von dem 1989er Album “Stormfront” ist mir zu pompös (auch wenn ich immer noch versuche den Text von “We didn’t start the fire” auswendig zu lernen und “Downeaster Alexa” mit seiner schunkelnden Melodik und seiner Zeile “there is no island left for islanders like me” irgendwie einen Nerv bei mir trifft). Aber tief berührend ist die wunderbare Geschichte von dem Clown in “Leningrad”, mustheard!

Ebenso berührend und eines der schönsten Liebeslieder, die man bedenkenlos an geliebte Menschen richten kann, ist “You’re my home”. Ursprünglich vom 1973er Album “Piano Man”, mag ich doch die Version auf “Songs in the attic”, dem ersten offiziellen Live-Album von Joel, am liebsten. Dort heißt es:

“Home could be the Pennsylvania turnpike
Indiana’s early morning dew
High up in the hills of California
Home is just another word for you”

“River of dreams” vom letzten Album mit gleichem Namen (1993, bevor Joel verkündete, er wolle keine Popmusik-Alben mehr machen (er veröffentlichte danach noch einige klassische Instrumentalstücke)), ist wiederum eine wunderbare Meditation, der Song “Piano Man” natürlich ein Klassiker, ein schönes Panorama amerikanischer Wirklichkeiten, ebenso wie “Allentown” von dem 1982er Album “The nylon curtain”, wo es um eine Bergarbeiterstadt geht.

Aber ich fühle mich mehr zu dem Album “An innocent man” von 1983 hingezogen, mit dem wunderbaren a cappella-Stück “Longest time” (Gänsehaut, again!), den fast schon swingähnlichen Rhythmen, dem wunderbar rasanten “Tell her about it” und dem lässigen “Keeping the faith”.

Fehlt noch etwas? Da wäre noch das wunderbare “Lullabye”, geschrieben für die Tochter, das davon singt, dass wir alle sterben, aber niemals stirbt, was wir weitereichen. Das rotzige “My life”. Und das selbstironische “Everybody loves you know”, das Joel schon auf seiner ersten CD 1971 veröffentlichte. Die Ballade von altgewordener Liebe: “This is the time”. Und “Matter of Trust”, ein Stück, das ich als Live-Version sehr schätze und das davon erzählt, dass Vertrauen letztlich das Wichtigste in einer Beziehung ist, egal was sonst passiert. “Captain Jack”, der einmal als “deprimierendster Song aller Zeiten” bezeichnet wurde. “And so it goes”, Gesang eines gebrochenen Herzens, das trotzdem loslässt.

In einem Teeniefilm, dessen Name mir entfallen ist, gibt es eine Szene, in der die Protagonistin mit ihrem Vater im Auto unterwegs ist. Aus dem Radio kommen die ersten Töne von “You may be right”. Der Vater dreht lauter. “Weißt du wer das ist?”, fragt er. Sie schüttelt den Kopf. “Das ist Billy Joel! Billy Joel muss man lauter drehen und mitsingen, wenn er im Radio kommt.” Na ja, nicht alles. Aber, verdammt, das meiste schon.