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Zu Mirko Bonnés “Lichter als der Tag”


“etwas kann nicht richtig daran sein, dass ich nicht mehr dort bin, wo ich selig war.”

Mirko Bonnès Buch beginnt mit Atmosphären, mit Momenten großer Besinnlichkeit. Mit einer Sprache, die eine poetische Aufladung des Stoffes zu forcieren scheint. Nach einer Weile bemerkte ich fasziniert, dass der Inhalt zwischen profanen und intensiven Momenten wechseln konnte, ohne, dass der Ton der Besinnlichkeit aus der Sprache wich. Als wären das Buch und sein Protagonist Raimund Merz gefangen in einem einzigen Motiv, schwer und fest und zugleich hell und seicht wie das Licht.

Der Inhalt ist von diesem Ton überzogen; er gibt dem Buch seinen eigenen Klang, seine eigene Ästhetik – hemmt dabei allerdings auch den Regungsraum der Figuren. Ich habe dreihundert Seiten gelesen, die auch so etwas wie eine Seelenanalyse sind, und mich dementsprechend viel mit dem Protagonisten Raimund Merz auseinandergesetzt. Doch kennengelernt habe ich ihn nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ihn je als Person begreifen konnte oder immer nur als Figur, die durch die Beschreibung zurechtgeschnitzt wird.

“Merz lächelte erschöpft. Er litt.”

Woran leidet dieser Raimund Merz? An der Aussichtslosigkeit des Erwachsenendaseins? Das ist eine Möglichkeit. An falschen Entscheidungen? Auch das ist eine Möglichkeit. Oder leidet er einfach nur so? Selbst das wäre ja zu verstehen.

Doch verstehen tue ich letztlich nur, dass Merz sich nach etwas sehnt, etwas, dass er einfach nicht angehen oder erreichen kann, obwohl er es will. Aber zum Kern seines Schmerzes durchstoßen tue ich nicht, nur zu allem, was um diesen Kern kreist. Merz wirkt wie ausgestellt, wie hinter Glas und ich bekomme von meinem Museumstour-Audio-Guide nur die ganze Zeit den immer gleichen Input zu ihm, seinen Gedanken und Eindrücken, aber diese Dinge legen ihn nicht frei, sie sollen nur seine Existenz nachweisen, so scheint es.

Und das macht mich nach einer Weile an manchen Stellen auch wütend, vor allem wenn Merz sich dämlich oder einfach haarsträubend aufführt – und in diesen Szenen trotzdem selten etwas aufbricht, alles nur stockt. Allerdings muss man dieser Stelle auch Respekt vor Bonné haben, dass er das durchzieht und seinen Protagonisten nimmt, wie er ist, wie er ihn angelegt hat, mit allen melancholischen Allüren. Das wirkt an manchen Stellen aber auch bequemlich und unausgegoren. Und so geht es mir wie Bruno, Merz Freund:

“Bruno stellte in den folgenden Tagen immer öfter fest, wie wenig er von seinem Freund wusste. Was Raimund in Paris vorhatte, war ihm schleierhaft.”

Es gibt viel in „Lichter als der Tag“, das man schnell schätzen lernt: die Sprache, ihre Klarheit und Gesetztheit. Die leichte Unerbittlichkeit. Die leichthändige Darstellung komplexerer Emotionszusammenhänge. Und doch hängt das alles in der Luft. Man bewegt sich durch das Buch und wartet auf den Zugang, den Moment, wo Bonné den Leser hineinziehen, hinzuziehen wird. Er kommt ganz am Schluss, aber auch da fand ich den Zugang nicht ganz.

Vielleicht ist das der falsche Ansatz, vielleicht sollte man stattdessen einfach die Geschichte und ihre Besinnlichkeit auf sich wirken lassen, einfach darin sein. Das fiel mir zugegebenermaßen schwer. Ich wollte den Berührungspunkt und den gab es nicht wirklich für mich. Was nicht heißt, dass „Lichter als der Tag“ ein misslungenes Buch ist. Es ist ein außerordentliches Portrait einer Entfremdung, die nicht nur Erhebung der Glücksmomente zurückfindet, sich verlaufen hat in einer Wirklichkeit, die ihr unwirklich erscheint und nur von wenigen besonderen Phänomenen durchzogen, so etwa dem Licht in der Bahnhofshalle oder den Bienen oder den Erinnerungen an bessere Zeiten, größere Gefühle.

“An einem gewöhnlichen frühen Donnerstagabend lief Raimund Merz über die Fleetufer vom Büro zum Hauptbahnhof, stellte sich für eine Viertelstunde auf einen stilleren Fernzugbahnsteig und überließ sich für eine Viertelstunde seinen Gedanken. Hierin lag sein Glück.”

Zu Djians frühen Storys in “100 zu 1”


“Sie tranken und die Nacht brach herein. Ihre Seelen öffneten sich wie exotische Blumen, sie sahen allmählich klarer.”

Diese Geschichten steigen aufs Gas. Sie sind mit einer gewissen Schnurzegal-Haltung geschrieben; sie fabulieren gern, auf leicht virtuose, leicht obszöne, leicht trashige, leicht abwegig-banale Art. Sie handeln fast ausnahmslos von Leuten, die ein wenig gegen das Leben sind. Von Verlierern, die sich noch über Wasser halten wollen. Von schrägen Typen, die sich in bizarren Szenarien bewegen. Immer geht es ein bisschen um die Liebe, ein bisschen um das Wahre, aber vor allem ums Überleben. Es gibt Gewalt und Sex und Außergewöhnlichkeiten, aber vor allem eine Orientierungslosigkeit, die sich in allem Bahn bricht, jeder einzelnen Geschichte und ihren Motiven – ganz egal, ob es um lustmachende Leichen, Experimente mit 100 zu 1 Ergebnissen oder eine Utopie mit Frau und Vogel geht. Die Plots wirken hingerotzt, die Sprache ist immer scharf und hat immer ihre Stärken, einen Sog und einen Drive.

Ich mag Philippe Djian und ich mag, wie er schreibt. Und irgendwie mag ich auch die meisten seiner Geschichten, auch wenn ich wenig aus dem ziehen kann, was darin verhandelt wird. Djian hält sich nicht mit Botschaften auf und er ist ein bisschen vernarrt in kleine, aufregende Widrigkeiten. Er pflastert die Straßen seiner Protagonisten mit allerlei ulkigen bis heftigen Schlaglöchern und irgendwie ist alles egal und doch richtig wichtig, überlebenswichtig.

“Die Sonne strömte voll herein, wie Eiweiß.”

Ein bisschen fühlt man sich an Bukowski erinnert, aber Djians Prosa hat eine viel größere Beschleunigung und sehr viel weniger Selbstreferenzialität. Der Autor verschwindet hinter seinen Schöpfungen, in den jungen Männern, die sich etwas Beständiges wünschen, einen Rückzugsort von der Welt und eigentlich wollen sie alles und sie stehen irgendwie kurz vor dem nichts, dass überall ist.

Ich würde “100 zu 1” nur empfehlen, wenn es den Leser nicht stört, dass die Erzählungen sich kaum aufbauen, sondern einfach einschlagen. Sie entwickeln sich nicht einfach, sie explodieren, implodieren, steuern auf einen Höhepunkt zu. Sie sind von einer ungeheuren Lebendigkeit, dann wieder voller aufgehängter Verzweiflungslust. Sie rufen eine schräge Begeisterung hervor, wie Kerouac oder Henry Miller oder der schon erwähnte Bukowski, aber sind manchmal auch gar nicht so beeindruckend. Halt gut. Guter Stoff.

Alvaro de Campos alias Fernando Pessoa und das Leben als entzogenes Abenteuer


“Wir alle haben zwei Leben:
das wahre, dass wir uns in der Kindheit erträumten
und als Erwachsene weiterträumen auf Nebelgrund;
das falsche, was wir gemeinsam mit anderen verbringen,
das praktische, nützliche,
das Leben, worin man uns schließlich in einen Sarg legt.”

Für alle, die Fernando Pessoa noch nicht kennen: er war ein portugiesischer Intellektueller und Schriftsteller, dessen Werke, die fast sämtliche Genres der Literatur umfassen, größtenteils erst nach seinem Tod gefunden wurden. Pessoa, der bis zu seinem Tod eine unscheinbare Existenz als Handelsvertreter führte und nur wenige Schriften unter dem eigenen Namen publizierte (darunter Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, das bis heute noch das bekannteste seiner Werke ist ), ist bis heute vor allem dadurch berühmt, dass er nahezu seine ganzen unveröffentlichten Manuskripte (es sind etwa 27 000 an der Zahl, viele kurz, einige lang) Heteronymen zuordnete, also abgespaltenen Persönlichkeiten, denen er einen eigenen Stil, eine eigene Biographie und eine eigene Verbindung zu den anderen Heteronymen gab. Jedoch war dies ein kontrollierter und künstlerischer Akt und hatte nichts mit Krankheiten, zumindest nichts mit multipler Persönlichkeitsstörung, zu tun.

“Ich, der nutzlose Brennpunkt der Wirklichkeiten.”

Alvaro de Campos ist die dritte der Persönlichkeiten nach Alberto Caeiro und Ricardo Reis, der größtenteils als Dichter hervortritt. Ein Verehrer und Nacheiferer von Caeiro, gab Pessoa dem 1890 in Glasgow geborenen Schiffsingenieur doch sehr viel eigene Dichtungsphilosophien mit auf den Weg. Wie Pessoa selbst ist de Campos ein leidender, ein Gefangener seines eigenen Ichs und der gesellschaftlichen Stagnierung. Während Pessoa sich jedoch in de Campos flüchten konnte, kennt de Campos keine andere Flucht, als die nach vorne:

“In meinem Herzen bewahre ich
wie in einer Schatztruhe, die man vor Fülle nicht schließen kann,
alle Orte, wo ich mich aufhielt,
alle Häfen, in dich ich kam,
alle Landschaften, die ich träumend
durch Bullaugen oder Fenster oder von Decks erblickte,
und dies alles – unendlich viel! – ist wenig für das, was ich möchte.”

Bis zur Seite 129 dieses Auswahlbandes (von ca. 290 Seiten, davon jeweils die Hälfte im portugiesischen Original, die andere Übersetzung) sind 5 längere Gedichte verzeichnet, eines davon besonders lang, die Meeres-Ode, ein einziger, an Walt Whitman erinnernder (auf den de Campos sich einige Male beruft), aber noch radikalerer Gesang mit phantastischen und ambivalenten Auswüchsen. Anfangs sind es nur Betrachtungen zum Meer und zu Ferne, harmlose Poesien, bis sich de Campos langsam und stetig in eine Phantasie über Seeräuber und ihr aufregendes Leben hineinsteigert, um dann zu erkennen, wie stark er selbst vor seinen eigenen Gedanken erschrickt, vor der Gewalt, urtümlich und doch wie ein erstarrtes Auges nur noch auf einen Sinn hin ausgerichtet.

“Mein Leib ist der Mittelpunkt eines unendlichen Steuerrads,
das immerfort schwindelnd sich selbst umkreist”

“Was weiß ich von dem, was ich sein werde, ich, der ich nicht weiß, was ich bin.”

Dies ist die Frage, aufgeworfen in vielen kürzeren Gedichten im zweiten Teil des Bandes. Zwar ist die Thematik dieser kleinen Dichtungen durchaus vielschichtig, doch man bemerkt früh, dass sie immer wieder zum Jammer und zur Sehnsucht zurückkehren, manchmal in großem Stile, manchmal meditativ und zaghaft. Man merkt wie Pessoa mit ihm gebaut hat: Auf der einen Seite die großen, ja gewaltigen Ansprüche, die aus vielen seiner Poeme blitzen, aber gleichzeitig die Sensibilität, die sich auch immer wieder ihre Bahn bricht und ebenso wunderbare Beschreibungen des Ich findet, aber auch zerriebene Erinnerungsideen von glücklichen Zuständen, die nun immer jenseits des Lichts sind, dass sein Ich wirft und werfen kann.

“Nacht
Du, deren Ankunft, so sanft ist, dass sie ein Fortgehn scheint,
deren ebbende, flutende Finsternis unter dem Hauch des Mondes
Wellen erstorbener Zärtlichkeit und die Kälte erträumter Meere kennt,
Brisen vermeintlicher Landschaften für unsre übermäßige Angst…”

Verlorene Kindheit, verlorene Unschuld. Das wird von De Campos mit Weltverlust gleichgesetzt. Auch das Vergehende und das einstmals Gewesene, dass in der Gegenwart nicht mehr unter die Haut geht, gehört zu den vielfach abgewandelten Gedanken seiner Dichtung. Angst und Unbehagen befällt in jedes Mal, wenn er ringen muss “mit dem Schicksal, das sie Karosse des Ganzen über die Straße des Nichts lenkt.”

Geradezu bewundernswert ist, dass seine Sprache dabei immer wieder, auf denselben Bahnen, neue Eindrücke dieses Dilemmas herauskristallisiert und nie an ein Ende zu kommen scheint. Es gelingen ihm Bilder und Metaphern, eine ganze Metamorphose aus passenden Abbildungen dieses Lebens, dieses Leids, dieser Angst.

Auf Dauer kann es etwas schwierig sein, sich immer wieder mit diesem existenziellen, wichtigen, aber nichtsdestotrotz destruktiven Thema konfrontiert zu sehen, in das Pessoa sich, als hätte ihn bei fast jedem Gedicht gerade die schiere Verzweiflung oder zumindest etwas anderes herzzerreißendes (im wahrsten/härtesten Sinne des Wortes) gepackt. Die Lyrik des Alvaro de Campos ist daher nur den wirklichen Freunden der Poesie zu empfehlen, jenen die bei der Lyrik nicht nur die fremde, illuminierte Anschauung genießen, sondern mitleiden, mitfühlen, mitdenken, miterleben wollen – jene, möchte ich fast sagen, die eine Schramme von jedem Gedicht zurückbehalten möchten, einen Gegenentwurf zur Erklärtheit der Existenz,

“Das Licht der Sonne erstickt das Schweigen der Sphären,
und wir müssen alle von dannen,
ihr düsteren Pinienwälder im Dämmerlicht,
Pinienwälder, wo meine Kindheit anders war,
als ich heute bin…”

Unter jedem Poem findet sich im Original ein Datumsvermerk; das Nachwort geht ebenfalls in Ordnung, wenn es auch etwas sporadisch wirkt. Wie dort vermerkt handelt es sich bei dieser Ausgabe um so ziemlich alle relevanten Gedichte, die unter dem Namen de Campos geschrieben wurden.

Noch einmal möchte ich zusammenfassen und betonen: Wer sich an dieses Werk wagt wird größtenteils weitschweifige, exaltierte und anstrengende Gedichte vorfinden, deren Gewinn eine oftmals tiefgehende, aber eben auch aufwühlende Sprache und Sehnsuchtsanalyse ist. Auch einige Sonette und einige stillere Werke wird man finden, aber sie sind in der Unterzahl. Alle Gedichte sind feingliedrig, aber manchmal eben auch überbordend, vielleicht sogar erschreckend. Ich weiß nicht, ob ich eine Empfehlung aussprechen soll und ob ich schon alle Empfindungen beschrieben habe, die de Campos/Pessoa auslöst – vielleicht habe auch ich mehr die Sehnsucht gespürt, weil ich dafür empfänglich bin und lauern tut darin noch reichlich anderes. Es gibt gewisse einige bedeutende Dichtungen in diesem Werk, einige fulminante Zeilen und Wendungen und überhaupt gehört es zu den interessantesten literarischen Torturen, die ich auf mich genommen habe, keine Frage. Aber ich persönlich würde mich, trotz aller lyrischen Freude, nicht noch einmal durch dieses Werk lesen.

Jedoch, Pessoa hat Recht, wenn er aus de Campos Feder fließen lässt, was alle großen Dichter, auch ihn selbst, betrifft:
“Der lebenspendende Geist bin in diesem Augenblick ICH.”

Hier finden sich noch einige Textbeispiele, die den poetischen Wert des Werkes noch mal untermauern sollen:

“Ich möchte schlafen wie ein verscheuchter Hund auf dem Weg, in der Sonne,
entgültig für das ganze übrige Universum,
und die Wagen mögen mich überrollen.

Die Denkwürdigkeit reicht in die Tiefen der Existenz,
hat mich seit vorgestern gealtert und meinen Körper frösteln lassen.

… dass Metaphysik nur die Folge von Unwohlsein ist.

Was ward aus jener unserer Warheit – dem Traum am Fenster der Kindheit?

Was verbergen die Jalousien der Welt in den Schaufenstern Gottes?

Ach, dieser Kai ist steingewordene Sehnsucht!
Und wenn das Schiff vom Kai ablegt
und man plötzlich gewahrt, dass sein Abstand klafft
zwischen dem Kai und dem Schiff,
überkommt mich – warum wohl? – eine neue Angst,
ein Nebel trauriger Gefühle
und schimmert in der Sonne meiner grasbewachsenen Ängste
wie das Fenster, an das der junge Morgen pocht,
und hüllt mich ein wie die Erinnerung an ein anderes Wesen,
das auf geheimnisvolle Weise mein ist.

Link zum Buch

Außerdem gibt es bald eine Neuauflage in der auch die Prosa enthalten ist: hier

Zu Georges Perecs “Ein Mann der schläft”


Georges Perec gehört bis heute zu den unangefochtenen Königen innovativer Literatur. Davon zeugen nicht nur seine große Würfe, der 1000 Seiten Roman Das Leben – Gebrauchsanweisung und sein Roman, welcher ohne den Buchstaben “e” auskommt: Anton Voyls Fortgang, sondern auch seine kleineren, sprachexperimentellen Werke, von denen einige vor kurzem erst bei diaphanes broschur neu aufgelegt wurden.

Perecs Bücher sind Ausnahmeerscheinungen und deswegen nicht für jede Leseerwartung zu empfehlen, die man bei dem Titel “Roman” hegen könnte. Das Buch ist eindeutig ein Roman, aber der Inhalt ist, wenn man ihn schlicht als Handlung eines Romans betrachtet, wahrscheinlich eher als dürftig zu bewerten. Es gibt zwar einen Spannungsbogen und eine klare Stimmungskontur, doch davon abgesehen hat der Roman scheinbar keine prägnanten Themen oder Geschichten zu bieten. Die Frage ist: Was bewertet man – das was da ist, oder das was fehlt?

“Ein Mann der schläft” beginnt mit einer Expertise über den Schlaf; über das seltsame Gefühl, kurz bevor du einschläfst, die verlorenen Sekunden zwischen Stille und Erwachen, die Formen und Farben die auftauchen, wenn du die Augen schließt, jedoch trotzdem noch schaust. Mit wunderbarer Detail- und Sprachsensibilität schafft Perec es, dass man erstmal in sich selbst schaut, tief nachempfindet, was er beschreibt, weil man es kennt, weil man es so schon erlebt hat – weil man sofort die Augen schließen und miterleben kann, was man gerade gelesen hat.

Nach dieser, für uns sehr nahen Erfahrung, folgt die “Geschichte”, in der ein 25jähriger Student eines Tages nicht aufsteht, obwohl er an diesem Tag Examen machen soll.
Wir alle wollten schon mal nicht aufstehen, wollten unser Leben, das wir gerade leben, verwerfen wie einen Entwurf, den wir gemacht haben, und zurückkehren in die Welt der Zeitlosigkeit, dahin wo die Schliche der Zeit und des Raums sich zersetzen – und nun haben wir hier die Geschichte eines Mannes, der diesen Weg wählt; er kappt die Verbindung zur Welt, er nimmt quasi das Gefühl des Traumes für die Wirklichkeit in Anspruch.

Und wir sind immer noch ganz nah dran an dieser Geschichte. Zumindest ich konnte diese Nähe auch nicht mehr völlig ablegen – durch die geschickt an den Anfang gestellte Einstimmung, die mir so vertraut war und die in derselben feinen Sprache verfasst war, wie die darauf folgende Geschichte, war ich mit dem Folgenden ebenfalls verbunden.

“Du hast kaum gelebt und doch ist alles schon gesagt, schon vorbei.”
“Du gehst wie ein Mensch, der unsichtbare Koffer trägt, du gehst wie ein Mensch, der seinem Schatten folgt.”

Was passiert, wenn man sich auflösen will in Raum und Zeit? Wenn man die Zügel der Welt ablegt? Wenn man noch in ihr lebt, aber seinen Beitrag zu ihr einspart?
Perecs Student zieht sich in sich selbst zurück. Er will ein Baum sein, er will in Ruhe gelassen werden, er will allein sein. Will er allein sein? Nein, eigentlich will er vor allem eins: er möchte ein Teil der Welt sein und nicht ein Mensch, der nie ein Teil der Welt ist, weil er sie verstehen will, weil er wie außerhalb von ihr steht, von wo er sie immer unterschiedlich sieht, weil er sie nie gleich sehen kann, ja, weil er eine eigene Welt ist, die ständig mit einer großen, ganzen Welt konkurriert, die soviel größer ist als die seine, so groß, dass er sie nur wahlweise mit seiner Welt messen kann. Aber wonach soll man wählen? Ist die Wahl nicht armselig, im Gegensatz zum Frieden, den alles andere hat?

“Ein Mann der schläft” ist kein Roman, der eine Geschichte erzählt, auch wenn er es vordergründig vorgibt zu sein. Nein, es ist ein Buch, dass ein Gefühl einfasst,  ein Gefühl, dass sich über 140 Seiten ausspricht, das klagt, nach Lösungen sucht, das zusieht, wie alles entflieht, das sich selbst auf den Grund geht. Das Gefühl zu nennen ist nicht möglich, denn es braucht diese 140 Seiten oder einen ganz bestimmten Abschnitt, der Teil dieser 140 Seiten ist (sein muss), um dies zu tun.

Wer also gerne ein Leseabenteuer erleben, wer eine persönliche Erfahrung in Form eines Buches machen will, der lese “Ein Mann der schläft”. Kurz und knapp zusammengefasst ist über dieses Buch zu sagen: Ein wirklich interessantes Werk und tiefenwirksam.

“Vogelschwärme ziehen sehr hoch am Himmel dahin. Auf dem Yonne-Kanal gleitet ein langer Kohleschlepper mit metallblauem Rumpf, von zwei großen grauen Pferden gezogen, vorüber. Nachts kommst du über die Route Nationale zurück, aufheulende Autos kommen dir entgegen oder überholen dich, du wirst von Scheinwerfern geblendet, die, wie es einen Augenblick lang scheint, den Himmeln anleuchten wollen, bevor sie sich auf dich stürzen.”

Link zum Buch

*diese Rezension ist bereits in Teilen auf Amazon.de erschienen