Tag Archives: Vladimir

Zu Vladimir Nabokovs drittem Roman “Lushins Verteidigung”


Lushins Verteidigung Die Angst, man könnte sich nicht mehr zurechtfinden, ist allgegenwärtig, ebenso wie der Wunsch sich zurechtzufinden (sich als etwas Zurechtes vorzufinden). Deswegen gibt es Konventionen, Normen, Regelwerke, Traditionen und Misstrauen gegen alles Neue und auf der anderen Seite das Verlangen nach Neuem, nach Diversität, Freiheit, Emanzipation. Jeder Mensch will in Umständen leben, in denen sein (gewähltes) Verhältnis zur Welt (und zu den Mitmenschen) repräsentiert oder zumindest ermöglicht wird.

Was ist aber, wenn man es nicht schafft, ein Verhältnis zur Welt und zu den Menschen zu entwickeln? Was, wenn alles, was die Gesellschaft und die Welt einem bieten, einen nicht reizt? Was wenn man sich mit dem Zurechtfinden übermäßig schwertut, und keine Basis für eine Teilnahme am Leben finden kann?

Vladimir Nabokovs dritter Roman “Lushins Verteidigung” handelt von einem Sonderling; keinem exzentrischen, aufregenden Sonderling, sondern einem stillen, unkommunikativen Geschöpf. Lushin ist ein seltsames, trübsinniges Kind, findet keinen Spaß am Toben, an Raufereien, zeigt aber zunächst auch keine besonderen, autistischen Begabungen, scheint kein Interesse an irgendwas zu haben, will vor allem in Ruhe gelassen werden. Von den meisten Menschen wird er für beschränkt gehalten und Emotionen scheinen bei ihm unterentwickelt zu sein; selbst den Eltern gegenüber verhält er sich abweisend.

Dann findet sich doch noch ein Fixpunkt für sein Leben: Schach. Er ist sofort fasziniert von diesem Spiel und nach kurzer Zeit brilliert er nicht nur darin, sondern findet auf dem Brett und in den Figuren einen Lebensraum, eine Wirklichkeit, in der er sich zurechtfinden, in der er existieren kann. Über Jahre spielt er Turnier um Turnier, beheimatet in der Welt der Diagonalen und Geraden, der Züge und Stellungen, der Abläufe und Möglichkeiten. Schließlich setzt seinem Verstand die permanente Auseinandersetzung damit zu, die Welt der Schachformen droht ihn zu verschlingen. Doch wie soll Lushin die Welt anders begreifen…

Der Roman ist nicht unbedingt ein Unterhaltungsglanzstück, aber das großartiges Portrait eines Menschen mit Inselbegabung. Nabokov lässt sich Zeit mit der Beschreibung von Lushins Innenwelten, vermittelt keine frontalen Erkenntnisse über und von ihm, sondern kleidet seine Narration in fast schon beiläufige Schilderungen, bevor sie sich an bestimmten Stellen zu Erkundungen von Lushins Wesen verdichtet; Leser*innen sollten eine Freude an Detailverliebtheit und psychologischer Finesse mitbringen.

Lushin wurde mit bestimmten Anlagen geboren, aber machten die Reaktionen seiner Umwelt ihn zu dem Menschen, der er am Ende ist? Nabokovs filigrane Erzählung wirft, neben vielen anderen, auch diese Frage auf, hütet sich aber, den Fall in die eine oder in die andere Richtung auszudeuten und streut lediglich ein paar Hinweise. So bleibt das Buch für die Lesenden bis zum Schluss eine Erforschung von Lushins Psyche und man schwankt zwischen Erbarmen und Unverständnis.

“Lushins Verteidigung” ist wohl Nabokovs erstes Meisterstück. Hier zeigt sich auch zum ersten Mal sein Faible für Außenseiter und Querköpfe, die in seinen bedeutendsten Romanen (wie “Lolita”, “Pnin” und “Fahles Feuer”) die Protagonisten stellen werden. Leicht hätte der Stoff des Buches zu einer leeren Hybris werden können, aber Nabokov gelingt es, die Aufmerksamkeit auf Lushin als Mensch zu konzentrieren und nicht auf Lushin als Schachgenie.
Somit ist “Lushins Verteidigung”, ähnlich wie Stefan Zweigs “Schachnovelle”, kein Buch in dem es primär um Schach geht. Aber in beiden Büchern wird Schach zu einer großartigen Metapher für die jeweiligen Inhalte.

“Lushins Verteidigung” ist ein sinnliches, mitunter betont langsames Werk, das seine volle Wucht in den Untertönen, den unauffälligen Umwälzungen entwickelt. Es ist keine mitreißende oder einnehmende Lektüre, aber so filigran, dass man durchaus gebannt ist von der Entwicklung in jedem neuen Abschnitt, auch wenn eigentlich nicht viel passiert. Wie gesagt: man sollte Interesse an einer Seelenerkundung mitbringen – denn nichts anderes ist dieses vortreffliche Werk.

Zu Vladimir Nabokovs Debüt “Maschenka”


Maschenka

Und über diese Straßen, die jetzt so breit sind wie glänzende schwarze Meere, zu dieser späten Stunde, da die letzte Kneipe längst zugemacht hat, läuft ein Mann aus Russland, bar der Fesseln des Schlafs, in hellseherischer Versunkenheit umher; zu dieser späten Stunde über diese breiten Straßen Welten, die einander vollkommen fremd waren; kein Passant, sondern jeder eine völlig abgeschlossene Welt, jeder eine Ganzheit aus Wundersamem und Bösem. […] In Augenblicken wie diesen geschieht es, dass alles mythenhaft und unauslotbar tiefgründig wird und das Leben schrecklich und der Tod noch viel schrecklicher erscheint. Und dann, während man schnellen Schrittes durch die nächtliche Stadt dahineilt, durch Tränen nach den Lichtern blickt und in ihnen eine herrliche, blendende Erinnerung an vergangenes Glück sucht – etwas, das nach vielen Jahren öden Vergessenseins wieder emportaucht –, wird man plötzlich in seinem wilden Voranjagen höflich von einem Fußgänger angehalten und gefragt, wie er wohl in die und die Straße gelangen könne, gefragt in einem ganz alltäglichen Ton, aber in einem Ton, den man niemals wieder hören wird.

Debüts sind zumeist entweder sehr unbeschwert/einfach oder sehr ambitioniert (oft sind die Autor*innen des ambitionierten Debüts gezwungen, danach immer und immer wieder gegen dieses Debüt anzutreten, sie versuchen sich davon abzugrenzen, versuchen daran anzuknüpfen, führen die Grundmotive endlos fort, etc., während die Autor*innen der unbeschwerten Debüts meist mehr Entfaltungsspielraum haben und eine deutliche Entwicklung durchlaufen.) Autoren wie Virginia Woolf, Albert Camus oder Kazuo Ishiguro starteten ihre Karriere mit eher unbeschwerten Büchern – so auch Vladimir Nabokov, mit seinem Emigranten- und Jugendlieberoman „Maschenka“.

Inhaltlich dreht sich der Roman um zweierlei: er wirft zum einen Schlaglichter auf die Schicksale einiger Menschen, die gemeinsam in einer deutschen Pension in Berlin wohnen; ein großer Teil von ihnen russische Emigranten, die vor den Revolutionswirren geflohen sind. Darunter ein alter Dichter, der hofft nach Paris weiterreisen zu können, was sich wegen seiner Passsituation als schwierig erweist, zwei Tänzer und ein schwatzender Wichtigtuer, der sehnsüchtig auf seine Frau wartet, die ihm demnächst folgen soll.

Gleichzeitig schildert das Buch in Rückblenden Episoden aus dem Leben des Protagonisten Ganin, der ebenfalls in der Pension wohnt. Durch einen Zufall wird er mit einem Bild seiner ersten Liebe Maschenka konfrontiert und mit ihr kehrt nicht nur die Erinnerung an seine Heimat Russland, sondern auch der ganze Mythos einer Reihe von Tagen in seiner späten Jugend, eine Zeit voller erster Reize und Entdeckungen, Umbrüche und Hoffnungen, zurück. Der derzeit in Berlin gestrandete, unschlüssige und perspektivlose Ganin verliert sich in diesen Erinnerungen, die von Zeiten künden, in denen zumindest die Jagd nach Gewissheiten, nach der Erfüllung von Sehnsüchten, ihn immer begleitete, noch in ihm brannte. Das alles ist mit Maschenka verbunden, sie steht wie eine Ikone im Zentrum dieser Zeit.

Sie benutzte ein billiges, süßliches Parfum, das «Tagore» hieß. Diesen Duft, vermischt mit den frischen Gerüchen des herbstlichen Parks, versuchte Ganin jetzt noch einmal einzufangen; aber wir wissen ja, unser Gedächtnis kann fast alles wiedererstehen lassen, nur Gerüche nicht, obwohl die Vergangenheit durch nichts so vollkommen wieder auflebt wie durch einen Geruch, der einst mit ihr verbunden war.

Von allen Romanen Vladimir Nabokovs war mir „Maschenka“ am wenigsten und zugleich am ahnungsvollsten im Gedächtnis geblieben; vielleicht weil er einen recht simplen Topos hat. Jetzt, beim Wiederlesen, überraschte es mich, wie sehr mich die Intensität der ersten Lektüre wieder einholte und für wie gelungen ich diesen Roman mehr denn je halte. Natürlich hält er einem Vergleich mit den ambitionierteren Werken Nabokovs insofern nicht stand, als spätere Romane vielfach existenzielle Dilemmata und Situationen verhandeln, während es in „Maschenka“ hauptsächlich um relativ unspektakuläre Emigrantenschicksale und einige Gefühlswelten geht.

Auf der anderen Seite tritt in der Ausformung dieser Gefühlswelten und in der Schilderung einiger Szenen bereits jene Kunst Nabokovs zutage, die in meiner Ansicht nach von vielen anderen Autor*innen unterscheidet: die Kunst, die emotionalen Auswüchse, die gefühlsbedingten Tendenzen, und die damit einhergehenden Gedanken und Empfindungsräume seiner Figuren malerisch und gleichsam prägnant und nachvollziehbar darzustellen. Diese Verdichtungen, die Sensibilität mit Anschaulichkeit verbinden, werden mich immer zu Nabokovs Werken hinziehen, ebenso wie die Bravour mit der Figuren entwirft, die zumeist nur wenig illustriert werden, aber gerade deswegen authentisch wirken, weil Emotionen und Handlungen, und die Art wie andere auf sie reagieren und sie sehen, ihre Gestalt vor dem Leser entstehen lassen.

Obgleich es vielerlei verhandelt, ist „Maschenka“ ein unscheinbares Werk. Mancher Nebenfigur mangelt es trotz geschickter Pinselführung an wirklicher Tiefe, hier und da wirkt manches Plot-Element etwas forciert, aber das alles tritt zurück hinter ein paar innige und unnachahmlich präzise Schilderungen, in denen Nabokov die Andeutung und Auslotung komplexer und langwidriger Gefühlszustände gelingt. Allein für diese Passagen lohnt es sich, „Maschenka“ zu lesen. Und sei es nur, um wie Ganin eine Reise in die Ferne (und Nähe) der ersten Liebe, der eigenen Biographie anzutreten.

Vladimir Nabokovs “Das wahre Leben des Sebastian Knight”


[…] und außerdem wusste er, dass im Grunde keine Idee wirklich existiert, wenn ihr nicht die Worte genau nach Maß angelegt werden.

Romane, die als Weltliteratur oder gehobene Literatur bezeichnet werden, haben nicht gerade den Ruf leicht lesbar zu sein. In kaum einem Genre herrscht aber auch eine so große Bandbreite an Formen und somit auch nahezu nirgends eine so große Bandbreite an Verständlichkeitsstufen: von Simmel und Konsalik (deren Büchern einige Gralshüter des Romans wie Kundera oder Vargas Llosa – möglicherweise zurecht – die Bezeichnung Roman absprechen würden) bis zu Arno Schmidt und Oswald Wiener ist es ein weiter Weg und doch steht auf den Büchern dieser grundverschiedenen Literaten das Wort Roman geschrieben. Irgendwo in der Mitte aber gibt es jene Romane, die bereits eine vielfältige, subtile Erfahrung bereithalten und dennoch nicht besonders schwer zugänglich sind, keine großen Mühen und Anstrengungen vom Leser erwarten. Manche Romane von Kundera und Vargas Llosa gehören dazu, Werke von Camus oder André Gide, Carson McCullers und Nicole Krauss und es wären noch einige Autor*innen zu nennen, bevor diese Liste fertig wäre.

Einer, der in dieser Liste auch nicht fehlen dürfte ist Vladimir Nabokov. Kaum ein Autor ist ein besserer, lebendigerer Inbegriff der hohen Narration, die beileibe nicht schwer zugänglich ist oder sich allzu sehr in Formspielen oder perspektiven Verzerrungen ergeht. Von seinen frühen russischen Romanen bis zu jenen späten Meisterwerken „Lolita“ und „Pnin“ hat er es bravourös und virtuos vermieden, etwas Verkopftes zu Papier zu bringen und ist dennoch kein unmoderner Autor (wenngleich einige Gralshüter der Avantgarde und neuer Roman- und Kunstbegriffe ihn vielleicht so bezeichnen würden).
Nabokov stammte aus Russland, in dem es zwei Romanciers gab, die ebenfalls zur Hochliteratur gezählt werden und dennoch fesselnd sind, ja geradezu Bestsellercharakter haben: Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski. Man könnte auch noch den großartigen Erzähler Anton Chechov hinzufügen. Es liegt mir fern ihn in eine Reihe mit diesen dreien zu stellen, aber Nabokov hat vielleicht auf kluge Art und Weise von ihnen gelernt, nicht was die Themen und was die Sprache anging, aber in Sachen Bodenhaftung und narrativer Eleganz ist er ihnen, behaupte ich, gar nicht so fern.

„Das wahre Leben des Sebastian Knight“ war der erste Roman, den Nabokov auf Englisch schrieb, mehr aus Notwendigkeit, denn aus einem Wunsch heraus. Er war auch zum Teil eine Art selbsterlegte Auftragsarbeit, mit der Nabokov sich bei einer Geldmöglichkeit bewerben wollte. Diese Entstehungsgeschichte flößt nicht gerade Vertrauen ein und man könnte zunächst glauben, man hielte eines jener Bücher in der Hand, die der Verlag herausgegeben hat, obwohl der Roman nicht die Höhe des sonstigen Werkes erreicht (Ähnliches ist ja schon geschehen, bei Witold Gombrowicz und „Die Besessenen“ zum Beispiel) und nur weil man die Rechte am Gesamtwerk besitzt.

Doch weit gefehlt: in seiner eigenen, schummrig-kristallinen Art ist dieser Roman ein Meisterwerk, eine Schönheit. Es gibt kaum ein Buch, das ich in den letzten Jahren mit so viel Genuss und mit so wenig Frust gelesen habe. Es ist leicht, trägt aber in jedem Satz eine tiefe Bedeutsamkeit in sich und die Sprache ist, selbst in der Übersetzung (die Dieter E. Zimmer augenscheinlich wundervoll angefertigt hat) eine echte Augenweide, auf der so manches grandiose sprachliche Bild wie ein Windstoß das Gras, die Bäume und den Körper des Lesers rauschen, wehen und zittern lässt.

Erzählt wird die Geschichte eines jungen Exilrussen, der sich auf die Spuren seines kürzlich verstorbenen Halbbruders, eben jenes Sebastian Knight, begibt. Sebastian war Schriftsteller und der Protagonist möchte nun ein Buch über ihn und sein Schaffen schreiben, eben jenes, das wir in Händen halten: „Das wahre Leben des Sebastian Knight“. Anlass ist zum einen der Tod des Bruders, der den Erzähler erkennen lässt, dass er sehr wenig über dessen Leben wusste (obgleich er sein Schaffen immer aufmerksam verfolgt hat) und zum anderen das stümperhaft-blasierte biographische Buch von Sebastians ehemaligem Sekretär, das, davon ist der Protagonist fest überzeugt, ein völlig falsches Bild von dessen geistigen Haltungen, Interessen und Antrieben zeichnet.

Also macht sich der Protagonist auf die Suche, beginnend bei der gemeinsamen Kindheit, mit Ausflügen in die Welten der Bücher, die Sebastian schrieb, immer der dünner werdenden Fährte seiner Lebenswege hinterher. Genau auf dem Grat der Gefälle entlang, von dem das Buch auf der einen Seite in die Schlucht des bloßen Berichtes, auf der anderen in den Abgrund seines eigenen Aufhängers fallen könnte, bewegt sich die Erzählung, mit einer kleinen Fülle von anekdotischen und illuminierenden Momenten beladen, in die Existenz der Figur Sebastian Knight herein, überhöht ihn nicht, verwirft ihn nicht, überfüttert den Leser nicht mit Details. Der meist weit entfernte und nun tote Bruder bekommt eine dem Sujet angemessen Aufladung angediehen, er wird aber vor allem menschlich sichtbar, nicht als Figur, als angelegte Idee. Und die Entfernung bleibt, von kurzen Momenten der Nähe durchzogen, von kurzen Erkenntnissen über ein anderes Dasein.

Es ist kein spannendes und kein gewaltiges Buch, kein großer Wurf, aber ein sehr starker, reicher Roman.

 

                                                                                                  3-499-22545-x

Zu Vladimir Vertliebs Roman “Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur”


Es ist eine Geschichte von der Schwierigkeit der jüdischen Existenz und ein Blick auf und in das große Land Russland und seine zerrissene Geschichte im 20. Jahrhundert. Es ist die Geschichte einer Frau, die überlebt, was kaum zu überleben war: Verfolgungen, Kriege, Entbehrungen und Verluste. Es ist eine Geschichte schwerer Zeiten, mühseligen Lebens, ununterbrochenen Überlebens und sehr sehr zager Hoffnungen. Es ist aber noch mehr als das, es ist ein gelungener Roman.

Ich misstraue allgemein der Idee, dass ein Buch, das eine längere Erzählung beinhaltet, automatisch ein Roman sei. Zu einem Roman gehört etwas mehr; eine aufdeckende, aufschlüsselnde Gesamtwirkung, eine übergreifende Stimmigkeit; eine Art sich im Ganzen als etwas zu ergeben, das eine transzendente und nicht nur narrative Dimension hat.

Trotzdem schätze ich gelungene Erzählungen, zumal wenn sie unser Verständnis über Zustände, Zusammenhänge, Fakten und Ideen erweitern können und spannende und/oder epische Züge aufweisen, kurzum: eine gute Geschichte um ein interessantes Thema erzählen. Vladimir Verliebs Buch über Rosa Masur ist eine Mischung aus dem, was ich an Erzählungen schätze und von Romanen erwarte.

Es wäre nicht ganz falsch, aber letztlich zu einfach, wenn man diesen Roman eine Lebensgeschichte nennen würde. Zu einfach, weil es vermuten ließe, dass alle in diesem Buch aufgearbeiteten und anklingenden Konflikte nur etwas mit der Protagonistin zu tun haben. Aber Vertlieb hat wahrhaftig einen Roman geschrieben, was auch bedeutet, dass sich Konfliktfäden durch ihn ziehen, dich nicht am Anfang des Buches anfangen und nicht auf seiner letzten Seite verschwinden. Sie tauchen in der Geschichte auf, werden Teil der Romanwelt, sind aber eigentlich Konflikte, die uns ebenso etwas angehen wie die Figuren in der Geschichte. Der Roman wird hier zum Beispiel des Lebens, dem Spiegel seiner Zeit, zum Gedächtnis der Gesellschaft.

Der Blick, den Verlieb uns auf das 20. Jahrhundert und die russische Gesellschaft eröffnet, ist zweischneidig. Zum einen hat er dem Historischen zugestanden, sehr viel Raum und Umgebung für die Erzählung zu beanspruchen. Die Sorgen der jeweiligen historischen Situation sind die Sorgen der jeweiligen Menschen, miteingeschlossen die Protagonistin. Das will ich nicht geringschätzen, denn es gibt den anderen Passagen eine größere Prägnanz und Kontur und dem ganzen Buch eine große Glaubwürdigkeit – kein Mensch kann immer aus der Masse hervorragen und Einzigartiges erleben; den meisten Menschen ist dies ja wahrlich nur dann und wann vergönnt. Trotzdem drückt diese Gewichtung eine gewisse Haltung aus, die ich nicht problematisch finde, die einen aber das Buch streckenweise schlicht konsumieren lässt.

Interessanter ist es, wenn sich Rosa auf ihre eigenen Pfade begibt. Vertlieb hat seiner Figur eine sehr ausbalancierte Persönlichkeit eingehaucht und hat den Mut sie ins Ausweglose zu steuern, eines der großen Charakteristika des Jahrhunderts und des menschlichen Daseins schlechthin. Wie sie damit umgeht, welche Geschichten sich an diesen Punkten entwickeln: das sind die großen Glanzlichter dieses Buches. Sie geben ihm eine ungeheuer greifbare Dimension, Tiefe und Anschaulichkeit. Sie machen das Schicksal der Figur individuell und doch stellvertretend.

Rosa Masur ist ein Buch, das schneller endet, als man gedacht hätte. Es liest sich sehr flüssig, trotzdem weiß der Autor die Sprache feinzujustieren, wenn es drauf ankommt. Es ist eine große Erzählung und letztendlich ein gelungener Roman.