„Die Erde segelt dahin.
Sie trägt mehr Schiffbrüchige als Passagiere.“
Eduardo Galeano war einer der umtriebigsten linken Autoren des 20. Jahrhunderts. Fußballfan und Feminist, anprangernder Journalist und Geschichtenerzähler, Mythensammler, Aktivist und Herausgeber – die Breite seiner Interessen, die Größe seines Augenmerks und seines Bewusstseins für Ungerechtigkeiten, Verschüttetes und Tröstendes war enorm.
Diesem besonderen Gespür bot sich in Südamerika und seinem Heimatland Uruguay genügend Stoff dar. In einem seiner bekanntesten Bücher, „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (das in vielen der südamerikanischen Militärdiktaturen verboten war), zeichnete Galeano minutiös und akribisch die einstigen und derzeitigen Ausbeutungen und Zerstörungen des Kontinents und seiner indigenen und derzeitigen Bevölkerung nach. Auch in vielen seiner anderen Bücher war ihm vor allem daran gelegen, den Reichtum und die Grausamkeit des Daseins nebeneinander zu stellen und auch aus der kleinsten Perspektive heraus sichtbar zu machen.
„Geschichtenjäger“ ist das letzte von Galeano noch abgeschlossene Buch (in der deutschen Ausgabe befinden sich aber auch noch einige Stücke aus seinem vor dem Tod begonnenen Buch „Kritzeleien“). Es ist, dies will ich direkt sagen, eines der schönsten, mannigfaltigsten, reichsten, aufrechtesten Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe. Es ist ein Schatz, ein Buch für alle Zeiten und Tage.
Wie soll man die zumeist nur eine Seite langen Kurzprosastücke dieses Büchleins beschreiben? Begebenheiten? Erinnerungen aus der Unzahl der Leben und Tode? Spuren der Ungerechtigkeit und der Schönheit? Verbrechen und Wunder? Phänomene? Nadelstiche, stechend und gleichsam ein großes Panorama nähend? Anekdoten und Fabeln? Zerschlagenes und Utopisches? Berichte von Courage und Ignoranz?
Das alles deckt einen Teil der Texte ab und vernachlässigt manch anderes, eigensinniges oder plötzlich aus einer ganz anderen Richtung herbeiwanderndes Kleinod. Über Galeanos Buch kann man sagen, was man über die Erzählbände Julio Cortázars oft sagt: es sind keine Bücher, es sind Welten.
Bei Galeano bestehen diese Welten zu gleichen Teilen aus scheinender Transzendenz und harter Realität. Die Adjektive sind wichtig. Denn auf der einen Seite breitet er Mythenkosmen und Sagenstoffe aus, spielt sie an wie Melodien und es scheint daraus ein Glaube an den ewigen Kreislauf von Überwindung und Fehlschlag hervor, an die Kraft der Ideen und gleichzeitig Zerrissenheit der Existenz.
Auf der anderen Seite legt er ohne Ende die Verfehlungen, die ganze Ignoranz der menschlichen (und vor allem männlich dominierten) Gesellschaften bloß: Prüderie und Körperfeindlichkeit, Bigotterie und mangelnde Vorstellungskraft, Rassismus und Unterdrückung, Misogynie und Vorurteil – seine Geschichten aus der Realität handeln von all diesen Verbrechen und wie Menschen und Völker ihnen erliegen, sie verfechten und wie einzelne und viele sich ihnen entgegenstellen.
Ca. 250 dieser anekdotischen Fundstücke, erjagten und erinnerten Geschichten sind hier versammelt. Sie machen Mut, berühren, erschüttern, faszinieren und stimmen nachdenklich. Galeano liefert ein Panorama der Niedertracht und erzählt dazwischen von den Momenten des unbeirrbaren Widerstands, Fortschritts und von kleinen leuchtenden Beispielen, die sich wie Wunder aus dem Getümmel der sonstigen harten Fakten emporheben, die über den Globus wuseln, zusammenstoßen und sich vermehren, sodass man gar nicht glauben mag, dass ihnen jemand entgehen kann.
Hier und dort kann man dieser Härte entgehen, wenn man sich dem Ewigen zuwendet oder gegen den Sog der Härte ankämpft, für und für andere einen kleinen Flecken erstreitet, auf dem Ideen des Guten und des Wandels gedeihen können. Galeano erzählt von diesen Versuchen, vom Scheitern, vom Untergang und schafft es, dass man als Lesende/r, in diesen Darstellungen nicht bloß Ereignisse sieht, sondern Lektionen fürs Leben, Flammen, die bewahrt werden sollten, weil noch viel in ihrem Schein bewerkstelligt werden kann.
Ich kann wirklich nur jedem empfehlen, sich dieses Buch zuzulegen. Es ist ein Schatz fürs Leben. Ein Vermächtnis, ein glühendes, funkenschlagendes, strahlendes. Danke Eduardo Galeano. Für so vieles.
Und dank auch an den Peter Hammer Verlag, dafür, dass er seit vielen Jahren die Werke von wichtigen südamerikanischen Autor*innen wie Eduardo Galeano oder auch Ernesto Cardenal herausgibt.