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“O stelle deine Füße in mein Herz”


„Ein hölzern Würfelhaus ist meine Ruhe.
Die leiseste Besorgnis macht mein Haus schwanken,
Die leiseste Besorgnis …
Da ist der Augenblick, in dem ich alles verspielen
Oder gewinnen kann.
Und lächle ich,
gelingt mir dies nach meinem Willen.“

Eine meiner intensivsten frühen Lektüren verdanke ich einer abgenutzten Suhrkamp Taschenbuch-Ausgabe von Emmy Hennings Tagebuch „Das Brandmal“, nach wie vor eines der besten autobiographisch-motivierten Werke, die ich gelesen habe: haltlos, sirrend und doch geradezu furchterregend genau in seinen Beobachtungen, seinen Beschreibungen von Körperlichkeit.

Ich stieß in der Folge auch auf einige Gedichte von Hennings, meist in Anthologien zu Dada oder Liebeslyrik – es waren allerdings immer dieselben vier oder fünf Texte. Umso erfreuter war ich, als ich sah, dass im Wallstein Verlag eine kommentierte Gesamtausgabe ihrer Gedichte erscheinen würde – mit dem stattlichen Umfang von über 600 Seiten.

„In mich hineingeliebt hast du das Leben
Du hauchtest dein Gedicht in mich.“

Das lyrische Werk von Hennings hat dann aber auf knapp 380 Seiten Platz; der Rest sind umfassende Erläuterungen/Kommentare zu jedem einzelnen Text, seiner Entstehung und dem Bearbeitungsprozess, sowie den Motiven und Hintergründen – außerdem ein Nachwort der Herausgeberin Nicola Behrmann (die andere Herausgeberin ist Simone Sumpf; Mitarbeit: Louanne Burkhardt).

In diesem Nachwort heißt es an einer Stelle:

„Ihre eigene Dichtung hat Hennings zeitlebens mehr als freien Gesang und gläubiges Spiel und weniger als ein »Werk« verstanden.“

Etwa 80% von Hennings „Werk“ sind gereimte Gedichte (die man sich durchaus gut als etwas Vorgetragenes vorstellen kann). Mindestens ein Drittel dieser gereimten Gedichte muss man außerdem der religiösen Dichtung zuschlagen – davon ein Großteil Nacherzählungen von Begebenheiten des neuen Testamentes und Gedichte zu Feiertagen, außerdem zahlreiche Gedichte über und an Maria, die Mutter Gottes – eine Figur, die Hennings immer wieder umgetrieben hat.

Dieser religiös inspirierte Teil ihres Werks mag manche Leser*innen überraschen, die Hennings (falls überhaupt) vor allem als eine der ersten weiblichen Bohemiens, als Vortragskünstlerin, Verfechterin freier Liebe und Teil der Dadaistischen-Bewegung kennt (u.a. Mitbegründerin des Cabaret Voltaire), die mit Drogen experimentierte und als Person gilt, die ihrer Zeit voraus war.

„Einmal deuteten unsere Prisma-Augen den Regenbogen.
Offenbarten Gott, der über Bergeskurven ging im Abendfrieden.
Sahen die Engel in den tiefen Tälern leuchten.
Wir verstanden das Murmeln der Geister in den Goldquellen
Und erwiderten die Schneeflockensprache, die aus der Höhe sank.“

„Du kannst den Sonnenaufgang machen.
Schaff neu mein Herz und mein Gesicht.
O, wolle es noch einmal ragen,
Dein erstes Wort: Es werde Licht!“

So wichtig all dies für ihr Leben auch gewesen sein mag und so sehr es das Bild von Hennings in der Nachwelt prägte (woran man wieder mal sieht, dass das Ikonische die Unordnung der meisten Lebensläufe wegzuwischen versteht), in ihrem lyrischen Werk hat sich wenig davon niedergeschlagen – zumindest in ihrem gereimten lyrischen Werk. Es gibt ein paar Prosagedichte aus dem Nachlass, allen voran das Fragment „Dagny“, in dem die schillernde Welt mit Dada und Drogen etwas präsenter sind.

Ansonsten ist Hennings lyrisches Werk, trotz unbestreitbarer individueller Qualitäten – von Wortschöpfungen bis zu ungewöhnlichen Dynamiken –, eher orientiert an Dichtungen wie denen von Hermann Hesse, dem sie zeitlebens eine große Bewunderung entgegenbrachte und dem sie regelmäßig Texte von sich schickte; auch Rilke meint man in dem ein oder anderen Gedichte herauszuhören.

„Wir halten uns umfangen
Und Wasserrosen rings umher.
Wir streben und wünschen und wollen nichts mehr.
Wir haben kein Verlangen.
Geliebter, etwas fehlt mir doch,
Einen Wunsch, den hab ich noch:
Die Sehnsucht nach der Sehnsucht.“

Vielleicht am besten Vergleichen lässt sich Hennings allerdings mit einer Dichterin, die zur selben Zeit wie sie in Finnland lebte (wenn auch sehr viel früher starb): Edith Södergran, die, wie Hennings, unbändige Liebesdichtungen verfasste, aber eben auch mythisch-phantastische, zum Teil religiös inspirierte.

Beide Dichterinnen verbindet vor allem der rigorose Ausdruck ihrer Sehnsüchte und ihr ambivalentes Verhältnis zu klassischen Motiven des „Weiblichen“. Södergran war hier drastischer, imaginierte auf der einen Seite Amazonenkriegerinnen und beklagte offen die Kluft zwischen der Liebe als herrlicher Vorstellung und der Realität des ausgelieferten Frauenlebens und schrieb auf der anderen Seite Gedichte, in denen sie ihrer emotionalen Bedürftigkeit schillernd und wortgewaltig, bis zur Unterwerfung, Ausdruck verlieh.

Hennings dagegen webt die Ambivalenzen umsichtiger ein, wenn sie bspw. das geläufige Motiv der Blume, die für die weibliche Unschuld (und gleichsam für Anziehung, Schönheit) steht, hinterfragt und damit gleichsam den Schönheits-/Jugendanspruch an Frauen und ihre generelle Objektifizierung:

„So ist die Rose: sie duftet und blüht.
Sie träumt von ihrer Mädchenzeit.
Warum nur tut sie mir so leid?
Sie senkt ihr Haupt, wird weich und müd.

[…]

Schon weit von mir. Ich bin geblieben.
Mein Blut ist länger als die Rosen rot.
Die Seele nur will ewig lieben,
Will überleben jeden Rosentod.“

„Wo es am innigsten blüht, blüht die Lust.
Was weinst du, weil du leben mußt?
Was singst du, weil du stirbst, mein Herz?
Wo es am innigsten blüht, blüht der Schmerz.“

Ebenso wie bei Södergran spielt bei Hennings außerdem das Gegensatzpaar Freiheit-Gefangensein eine nicht unbedeutende Rolle: die Freiheit als Dichterin, die Freiheit in der Imagination auf der einen und das Gefangensein als Frau, als Körper auf der anderen Seite – wobei dieser Konflikt in Hennings lyrischem Werk nur in einigen wenigen Texten wirklich zutage tritt und sonst eher religiös transzendiert wird.

Schon zu Lebzeiten bekannt waren jedoch ihre Gefängnisgedichte, die aber vor allem tatsächliche Gefängnisinsassen und -insassinnen zum Thema haben:

„Da draußen liegt die Welt, da rauscht das Leben.
Da dürfen Menschen gehen, wohin sie wollen.
Einmal gehörten wir doch auch zu denen,
Und jetzt sind wir vergessen und verschollen.
Nachts träumen wir Wunder auf schmalen Pritschen
Tags gehn wir einher gleich scheuen Tieren.
Wir lugen traurig durchs Eisengitter
Und haben nichts mehr zu verlieren“

Ein letztes gemeinsames Motiv von Södergran und Hennings ist das Gefühl, einsam zu sein unter den Menschen, unverstanden und fremd dem Zeitgeist, was bei beiden die Hinwendung zu größeren Ideen, spirituellen bzw. phantastischen Vorstellungen sicher begünstigt hat.

„Ich bin des Schweigens Königin,
Wenn ich dir still am Munde hange.
Was mag es sein, das ich verlange?
Du wirst mir sagen, wer ich bin.

Bin ich nur deine Lauscherin
Und du das Wunder, welches glänzt,
Das nur mein Amen leis begrenzt?
O, sag mir, wie ich einsam bin …

Drei Gedichtbände sind von Hennings zu Lebzeiten erschienen. Es ist fraglich, ob sie allein mit ihnen eine Bekanntheit hätte erreichen können, die ihren Namen bis in unsere Zeit getragen hätte. Was aber keineswegs heißt, dass ihr lyrisches Werk nicht lesenswert ist – ganz (!) im Gegenteil.

Es liegt oft eine schöne Inbrunst in ihren Versen und eine an Naivität gemahnende, aber, für mich zumindest, erfrischende und mitunter bestechende Einfachheit, der es immer wieder gelingt, Gefühle und Fragen und Ängste eindringlich vorzubringen. Nicht jede/r mag sich für ihre religiösen Dichtungen erwärmen können, aber dazwischen finden sich genug andere Texte, in denen es um Liebe, Sehnsucht, Glück, Freiheit, Hoffnung und Leid geht.

Hennings lyrisches Ich ist meist eines, das trotz aller Hemmnisse und Widerstände und Unmöglichkeiten für das Verbindende und zu Erhoffende wirbt, ja mitunter plädiert. Solche Gedichte, die (man darf und muss es ganz unironisch feststellen) vor allem zu Herzen gehen, die braucht es auch heute, vielleicht mehr denn je.

„Und jede Frucht sehn sich zu reifen,
Von Sonnenstrahlen warm berührt.
O, Seele, könntest du begreifen,
Was dich zum Blühen hat geführt!“

„O Welt, die ich suche, fühlst du nicht:
Über dir meine hungernden Augen?
Klopfte mein Herz vor deiner Tür,
Vor deinem liebeumschleierten Hause?
Wohnst du so hoch, kleine Welt?
Ich fliege dir zu.
Wohnst du so tief, kleine Welt?
Ich falle dir zu.
Wo du auch sein magst.
Einmal trete ich über deine Schwelle.
Dann bin ich bei dir und frage dich zärtlich:
Bist du die Heimat? Nimmst du mich auf?“

Leidenschaft der Klugheit, Klugheit der Leidenschaft


Schon Lukas Bärfuss erster Essayband „Stil und Moral“ hatte mich überzeugt und so war ich gespannt auf den zweiten, mit dem vielversprechenden, aber auch gefährlichen Titel „Krieg und Liebe“. Und, was soll ich sagen: ich bin verblüfft, berückt, aufgewühlt, beseelt.

Wenn es um Begeisterung geht, furiose zumal, ist immer die Frage, wie man die vernünftig zu Papier bringt. Und in diesem Fall könnte sie auch ausufern, denn nicht nur sind die Texte von Bärfuss in sich gut, sie schneiden zudem unglaublich viele Themen an, über die lange nachzudenken nicht schwerfallen dürfte, auch über die Ansätze und Ideen von Bärfuss hinaus.

Da ich hier nicht auf alle Texte eingehen kann, will ich nur 1-2 als Beispiele kurz herausgreifen. Als erstes gleich den Einstiegstext, der zunächst unaufgeregt, geradezu bewusst neutral wirkt, wie ein kurzer Abriss, eine eher uninspirierte Rezensionsnotiz zu einem japanischen Kriegsbericht.

Und dann geschieht das Wunder: mit einer kurzen Beobachtung, die er gegen Ende hin zuspitzt, schafft Bärfuss es, dass den Leser*innen aus dem glatten Text eine fulminante Erkenntnis entgegenspringt: Er verquickt die Leidenschaft, mit der sich die Soldaten für ihr Land, ihren Kaiser oder dergleichen opfern, mit der Leidenschaft der Liebe. Und formt aus dieser unheiligen Verbindung die Frage: kann es sie geben, eine Welt ohne Krieg, in der aber noch (leidenschaftlich) geliebt wird? Wie lässt sich die Leidenschaft für das eine von der Leidenschaft für das andere trennen?

Sie haben immer ein bisschen etwas Abwegiges an sich, diese Essays, und stoßen dann mit einem Mal oder auch ganz subtil ins Zentrum der Überzeugungen vor. Nicht anders in einem Text, in dem es um Nietzsche „und die Populisten“ geht. Gähn, hab ich da gedacht. Und erstmal wirkte der Text auch recht gewöhnlich, gutgeschrieben durchaus, aber eher lammfromm, überschaubar.

Doch schon bald war da eine besorgniserregende Umwälzung zu beobachten und nach der Lektüre musste ich mir eingestehen: ich hatte noch nie einen so guten Text über Nietzsche oder über Populismus gelesen; ich begriff jetzt wesentliche Aspekte von beiden, wo ich bisher meinte, dass eine vage Vorstellung, eine vorgefasste Meinung genügen würde.

Nicht alle Texte in dem Buch sind so umwerfend wie diese beiden oder auch die grandiose Dresdener Rede „Am Ende der Sprache“, die ich nun schon mehrmals gelesen habe und die so trostspendend und gleichsam kämpferisch ist wie nur Weniges, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Aber immer sind sie interessant, hinterfragen, zeigen auf, schaffen Perspektiven, wo es vorher nur festgelegte Linien zu geben schien.

Es ist ein Buch für jene, die sich gern wirklich mit Texten beschäftigen, nicht nur denken gefällt mir (nicht), nicht nur Unterhaltung suchen, sondern auf der Suche nach Auseinandersetzung, Denkimpulsen, Erschütterung und Belebung sind. Kurzum: es ist wirklich nur ein Buch für leidenschaftliche Leser*innen. Aber die werden es zu ihren Schätzen zählen, da bin ich mir sicher.

Ein paar Rezensionen zu Gedichtbänden


Die neusten Rezensionen zu Gedichtbänden:

“Plötzlich alles da” von Dorothea Grünzweig

“Séptimas” von Klaus Anders

“Depression and other magic tricks” von Sabrina Benaim

“In Erwartung der Zeichen” von Peter Engel

“Vibrationen” von Kae Tempest

“Am Ende der Stadt” von Adina Heidenreich

Fulminantes Debüt


9783835337305l Wann ist ihnen das das letzte Mal passiert: dass sie das Gefühl hatten, ein Buch bringt ihnen das Lesen ganz neu bei, zeigt ihnen ohne Unterlass, dass Sprache nicht nur ein Informationsmedium, sondern ein Gefüge, eine Komposition, ein Spielplatz, kurzum: eine gänzlich eigenständige Erfahrung ist. Falls eine solche Begegnung ein Weilchen her sein sollte, empfehle ich sehr, dass sie sich Leander Fischers Debütroman „Die Forelle“ zulegen.

In diesem Roman geht es, auf der Handlungseben, um zwei große Fs: Fliegenfischen und Freundschaft (bzw. Feindschaft). Aber es ist auch ein (Anti-)Provinzroman und eine Auseinandersetzung mit österreichischer Geschichte vom 2. Weltkrieg bis in die frühen 90er Jahre (und einer Darstellung der Mentalitäten, die aus diesen beiden Schauplätzen ergeben). Es ist eine Erzählung über das unerfüllte Leben, Intrigen und die Distanz (sowie Nähe) zwischen Mensch(engeschaffenem) und der Natur.

Das Fliegenfischen, also die Praxis, den Fisch mithilfe von naturgetreuen Nachbildungen von Beuteinsekten zu fangen, ohne ihn jedoch durch einen Widerhaken zu verletzten (stattdessen wird er wieder freigelassen) und die Freundschaft, die Praxis des Menschen, sich im Bestreben nach Gemeinschaft/Harmonie mit Menschen zu umgeben, die einen verstehen und mit denen man etwas teilen kann, wodurch eine Nähe entsteht, die einen wiederum anfällig macht für Verletzungen und in der man dem freien Willen des anderen ein Stück weit mehr ausgeliefert ist – vor dem Hintergrund dieser beiden Komplexe und ihrer breiten Potenziale, bewegt sich Fischers Werk.

Es sollte natürlich ehrlicher Weise gesagt werden, dass „Die Forelle“ kein handelsüblicher Page-Turner ist. Fischer entspinnt ein Narrativ, das die Leser*innen in die Leerräume zwischen die Zeilen schickt, damit sie als verbindendes Element agieren. Seine Prosa schweift ab, verliebt sich in Bilder, Anklänge, ergeht sich hier und da in Wortspielen, macht Sprünge, bewegt sich auf mehreren Ebenen – seine Art des Erzählens fügt nicht alles zusammen, sondern muss aktiv nachvollzogen, interpretiert werden, an manchen Stellen fast wie ein Gedicht. Wer sich den Akt der Partizipation, des Mitspielens, zu eigen macht, wird allerdings belohnt mit einer schier unerschöpflichen Lektüre.

Viele Referenzen könnten an dieser Stelle genannt werden, bei wenigen belasse ich es: im Bezug aufs Fliegenfischen (man denke an Robert Redfords Film „In der Mitte entspringt der Fluss“, aber auch Paulus Hochgatters Novelle „Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen“ oder Ernest Hemingways schwebende Erzählung „Großer doppelherziger Strom I+II), aber auch im Bezug auf Fischers Stil und Ästhetik, die beeinflusst sind von den Werken Thomas Pynchons, William Faulkners, Claude Simons, Valeria Luisellis und anderer moderner bis postmoderner Autor*innen.

Fazit: Sie werden vielleicht ein bisschen brauchen, um in den Roman hineinzufinden. Aber dann werden sie kaum wieder herausfinden – schnappend nach jedem Glänzen in den Strömungen, Kreiseln und Wellen von Fischers Sprache, und kaum, dass sie etwas zu fassen bekommen, werden sie wiederrum hineingeworfen, tauchen wieder ein in den Strom dieser erstaunlichen, widerspenstigen, genüsslichen und überbordenden Prosa, die für mich zu den großen Entdeckungen des Jahres gehört.

Auf jenen Höhen seid gewahr


Gang zu jenen Höhn

Wir verdanken ihm u.a. eine Geschichte der Kreuzzüge, eine Karl-May Biographie, einen Briefwechsel mit Arno Schmidt, einen Essay, der zum heutigen Kernprogramm von vielen Tierschützer*innen gehört und die Übersetzung von James Joyce Jahrhundertroman Ulysses, eigene Romane u.v.a. – Hans Wollschlägers literarisches Vermächtnis ist breit und vielseitig. Wohl auch deshalb gibt der Wallstein Verlag seit beinahe 20 Jahren eine Edition seiner Werke in Einzelausgaben heraus. Nun ist der Band „Der Gang zu jenen Höhn“ erschienen, mit dem Untertitel „Legenden zur Literatur“.

Legenden, da denkt man an Mythen, an Kuriositäten vielleicht, an Entrücktes, Strahlendes. Nun sind aber weniger diese sagenhaften Legenden gemeint, sondern jene, die als Zeichenerklärungen bei Landkarten oder Plänen beigefügt sind. Hier arbeitet ein Kenner der Literaturen für seine Leser- und Zuhörer*innen eine ganze Reihe von (An)Zeichen heraus, die ihnen die Navigation und Übersicht in den Werken einiger Autoren erleichtern können; mitunter so beflissen und gleichsam subtil, dass man fast die Stellen übersieht, an denen Wollschlägers Argumentation/Darstellung einen entscheidenden Ausfallschritt macht, eine Wendung vollzieht, zu einem wichtigen Punkt vorstößt.

Allein fünf Texte des Bandes drehen sich um die Werke von Friedrich Rückert, an dessen historisch-kritischer Ausgabe Wollschläger mitgearbeitet hat – besonders berührend und aufschlussreich ist seine Analyse des Gedichtes Chidher, ein Text, für den er mich voll und ganz gewinnen konnte, allein durch seine Betrachtungen. Aber auch andere Texte und Themen des Bandes sind ein großes Vergnügen, bspw. ein Beitrag mit dem Titel „Vom Wahnsinn des Unterfanges“, in dem es um eine Auswahl aus der „Fackel“ von Karl Kraus geht.

Die meiste Literatur erschließt sich, zumindest auf einer Ebene, vor den Augen aller geduldigen, aufmerksamen Leser*innen. Aber es zeigt sich immer wieder, dass es Menschen gibt, die eine schier endlose Anzahl an Schlüsseln zu noch mehr Ebenen und/oder auch zu den komplexesten Werken der Literatur besitzen. Wollschläger war so ein Schlüsselträger, einer, der bei den verschiedenen Ebenen großer Werke ein- und ausgehen konnte, wie es ihm beliebte. Und zu unserem großen Glück nahm er gerne Leute mit auf den Gang zu jenen Höhn.

Zu den Gedichten von Wilhelm Killmayer


Der alte Mann mit dem Cello „Der alte Mann mit dem Cello
sagt statt »hallo« jetzt immer nur »hello«
denn sein »a« ist gerissen
und er fühlt sich beschissen
wie von Jago einstmals Othello.“

Dieser Band mit Gedichten ist auch eine Art Gedenkbuch für den Komponisten Wilhelm Killmayer, der zahlreiche Lieder, außerdem Opern, Symphonie, Kammer- und Ballettmusik schrieb und 2017 verstarb. Michael Krüger macht einem im Vorwort ein bisschen mit dem Menschen Wilhelm Killmayer bekannt.

Als Schreibender hat er vor allem Limericks verfasst, also fünfzeilige Gedichte, die meist um eine Person/Figur und ihr Tun und Lassen kreisen, abgerundet durch eine Pointe. Viele von Killmayers Limericks könnte man auch als Musiker*innenwitze bezeichnen, drehen sie sich doch häufig um die Beziehung zwischen selbigen und ihrem Instrument oder sie verhandeln Verfahrensweisen und Abläufe bei der Oper oder beim Ballett. Oft sind sie albern, manchmal belehrend.

„Die Orgel, die man Hammond nennt,
von der Kirchenorgel sie einiges trennt;
ihr rührendes Wimmern
wirkt vor allem in Zimmern
wo man Jesus verehrt und Bach gar nicht kennt.“

Des Weiteren gibt es in dem Band noch Kinderlyrik und ein paar wenige etwas längere Gedichte, die meist zu bestimmten Anlässen entstanden sind. Sie haben alle einen gewissen artistischen Charme, doch muss klar gesagt werden, dass Killmayer als Lyriker wohl nicht in Erinnerung bleiben würde, wäre er nicht auch noch Komponist gewesen. Diese gesammelten lyrischen Texte sind zumeist klassische Gelegenheitstexte, was sie nicht abwertet, aber es steht keinerlei lyrischer Ehrgeiz dahinter.

Wer Limericks mag und gern beschaulich-heitere Gedichte liest, für den ist die Sammlung dennoch empfehlenswert. Es wartet allerlei Pos(s)ierliches.

„Es schlürft die Giraffe
ganz hoch ihren Kaffee;
Herr Maier im Kran
der bietet ihn an.“