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Hafis, großer Dichter persischer Zunge


Hafis-Kanani- Seinen bis heute bekannten, klingenden Namen verdankt der persische Dichter, der eigentlich Mohammed Schemseddin hieß, einer Fertigkeit, die er sich schon in jungen Jahren aneignete: er konnte alle 114 Suren des Korans auswendig, da war er gerade einmal acht Jahre alt. Dies brachte ihm den Ehrentitel Hafis ein, durchaus ein geläufiger Ehrentitel, auch heute noch, der aber bei ihm als Poetenname über sein Zeitalter hinaus erstrahlen durfte.

Geboren wurde Hafis Anfang des 14. Jahrhunderts, in den stürmischen Zeiten der letzten Mongoleninvasionen und zahlreicher weitere Konflikte und Rivalitäten auf dem Gebiet Persiens. Seine Heimatstadt Schiras, die er, abgesehen von ein paar unbedeutenden Reisen, nie verließ, lag im südlichen Teil des heutigen Iran und war immer wieder von türkischen, afghanischen und mongolischen Überfällen bedroht.

Dennoch war Hafis ein vergleichsweise langes Leben beschieden, in dem eine große Zahl von Gedichten (vor allem Ghaselen) entstand, die bis heute als unübertroffen in ihrer Formvollendung gelten; viele sind Teil des Allgemeingedächtnisses aller Persisch/Fārsi/فارسی sprechenden Menschen geworden.

Auch in Deutschland hat Hafis viele Bewunderer gehabt, einer der bekanntesten ist Johann Wolfgang von Goethe, der mit West-Östlicher Divan ein ganzes Werk schrieb, das von den Dichtungen des Hafis inspiriert ist; auch Friedrich Rückert hat sich zeitlebens mit dem persischen Dichter beschäftigt und einige der besten Übersetzungen zu seinem Werk angefertigt.

In seiner Studie arbeitet Nasser Kanani sehr gewissenhaft die Rezeptionsgeschichte von Hafis in der deutschsprachigen (vorrangig, aber auch internationalen) Literatur und Geschichtsschreibung heraus. Beginnen tut das Buch allerdings mit einem Kapitel, in dem es vor allem um die Geburtsstadt Schiras und ihre Rezeption (die allerdings von der Hafis-Rezeption schwer zu trennen ist) in der deutschsprachigen Literatur geht und warum sie in vielerlei Hinsicht ein wichtiges Kernstück von Hafis Dichtungen ist.

Kapitel 2 und 3 beschäftigen sich dann mit Hafis Lebensgeschichte und seinen philosophischen Überzeugungen, immer auch im Spiegel seiner Werke, wozu Kanani umfangreich aus den Übersetzungen zitiert (die Originale sind auch abgebildet). Dadurch gelingt ein breit gefächertes, teilweise auch erschöpfendes Bild des widersprüchlichen und doch mit sich im Einklang liegenden Menschen, der Hafis gewesen ist.

Die letzten Kapitel 4 und 5 sind dann Hafis Dichtungen, genauer der Liebeslyrik und dem Divan, vorbehalten. Kanani präsentiert Deutungen und Rezeptionsansätze und zitiert wiederum umfangreich aus dem Werk. Auch wenn das ganze Buch eine spannende Aufbereitung ist, sind diese beiden Kapitel seine Meisterstücke.

Für wen Hafis bisher nur ein Name ist, der sollte sich diese umfangreiche Studie zulegen – sie ist ein guter Einstieg, bieter aber dennoch Tiefe und breite Auseinandersetzung. Kananis Leidenschaft und Begeisterung für Hafis sind nicht nur ansteckend, sie werden im Zuge seiner Ausführungen auch nachvollziehbar. Ob Hafis wirklich der größte Lyriker persischer Zunge war, das ist ungewiss. Gewiss aber ist: er war ein wunderbarer Poet, mit einem trefflichen Überschwang, der seinesgleichen sucht.

Zu Vladimir Nabokovs zweitem Roman “König Dame Bube”


König Dame Bube Vladimir Nabovos zweiter Roman spielt, wie schon der erste, im Berlin der 20er Jahre, wo sich auch der Autor zur Zeit der Niederschrift aufhielt. Während der erste Roman “Maschenka” unter russischen Emigrant*innen spielt, werden die Lesenden in “König Dame Bube” Zeugen/innen einer Dreiecksgeschichte in einem gewöhnlicheren Milieu.

Franz kommt nach Berlin, um für seinen Onkel Dreyer zu arbeiten, der einige gute Geschäfte macht und in einem großen Haus am Stadtrand lebt. Dort begegnet Franz auch zum ersten Mal Martha, Dreyers Frau und seiner Tante, und ist, als Unschuld vom Lande, von ihrer Schönheit sofort in Beschlag genommen.

Sie ist erfreut über diese unerwartete, jugendliche Schwärmerei und bald begierig darauf, ihre Chance auf eine Romanze mit Franz zu bekommen, wo doch ihr eigener Mann sie erotisch (und auch ansonsten) überhaupt nicht reizt. Und sie beginnt darüber nachzusinnen, wie perfekt alles wäre, wenn Dreyer nicht mehr unter ihnen weilen würde…

Auf der Rückseite des Buches steht etwas davon, dass Nabokov sich in diesem frühen Werk als “Meister delikater Psychologie” zeigt. Das finde ich etwas hochgegriffen. Es ist ohne Frage eines von Nabokovs ausgelasseneren Büchern, mit viel Witz und einer eher leichtfertigen, wenngleich beschwingten Psychologie. Er zeigt seine Figuren als mitunter einfältige, eitle, emotionsbefeuerte Wesen, die in den seltensten Fällen auf Feinsinn oder Reflexion zurückgreifen. Sie tragen alle einen gewissen Übermut in sich – oder das Gegenteil, Angst oder Verzweiflung – die das Buch lebendig halten.

Dennoch (oder gerade wegen dieser Machart) ist “König Dame Bube” ein unterhaltsamer Roman, der hier und da mit Sprachverliebtheiten und Beschreibungsfiligranitäten auftrumpft, die einen Nabokov in der Probierphase verraten, der es sich bei diesem Buch anscheinend gegönnt hat, weniger Balance und mehr Esprit walten zu lassen. Immer wieder macht der Roman Spaß, hat aber auch gewisse Längen. Nicht der beste Nabokov und wenn man etwas von den früheren Werken lesen will, dann sollte man eher zu “Maschenka” oder “Lushins Verteidigung” greifen.

Zu Roberto Bolaños frühem Roman(fragment) “Der Geist der Science-Fiction”


Der Geist der Science-Fiction Robert Bolaños Ruhm, der ja posthum kam und mit „2666“ und „Die wilden Detektive“ seinen Höhepunkt erreichte, drohte, in meinen Augen, etwas unter der Veröffentlichungswut zu leiden, die in den darauffolgenden Jahren einsetzte und auch noch die frühsten Erzählungen, Romanfragmente, etc. hervorkramte. Anfangs war Großartiges darunter, aber speziell die letzten beiden Veröffentlichungen – die Erzählungen in „Mörderische Huren“ und das Romanfragment „Die Nöte des wahren Polizisten“ – waren, obgleich interessant, qualitativ eher ein Abstieg.

Natürlich ist es auf der anderen Seite toll, dass die Verlage Hanser und S. Fischer sich bemühen, eine lückenlose Ausgabe von Bolaños Werken auf Deutsch anzubieten – im Zuge dessen sind, wie gesagt, auch viele meisterliche Arbeiten wiederaufgelegt worden oder dies wird noch geschehen (so werden beispielsweise auch die großartigen Erzählungen in dem Band „Telefongespräche“ im nächsten Jahr bei S. Fischer neu aufgelegt).
Ich verstehe es ja: Bolaño-Fans wollen natürlich auch noch die letzte Zeile ihres Idols lesen und die Verlage liefern selbstverständlich. Aber es darf wohl die Frage gestellt werden: inwieweit sollte beim Veröffentlichen die Veränderung mitbedacht werden, die jede zusätzliche Publikation am Bild des Werkes und seines Autors vornimmt?

„Der Geist der Science-Fiction“ ist ein früher Roman (und wirkt sehr wie ein Fragment), der aber, laut Angabe im Buch, erst 2016 im Original veröffentlicht wurde. Bolaño arbeitete 1984 daran und verwendete einige Teile wohl für das 1993 erschienene „Fragmentos de la universidad desconocida“.
Der Roman spielt in den 70er Jahren in Mexiko-Stadt und besteht im Wesentlichen aus drei Strängen, die sich abwechseln. Zwei dieser Stränge sind verknüpft mit den beiden jungen Männern Remo und Jan, die sich ein Zimmer in der Metropole teilen. Während Remo versucht, Anschluss an die literarischen Institutionen zu bekommen und für verschiedene Magazine Artikel schreibt, liest Jan hauptsächlich nordamerikanische und europäische Science-Fiction-Romane und schreibt Briefe an die Autor*innen, in denen er sie, mit etwas wirren Erläuterungen und Abschweifungen, dazu anleiten will, sich für die Länder der Dritten Welt einzusetzen, ein Komitee für diese Angelegenheit zu bilden.

Die Briefe sind ein Strang, die Geschichte von Remos Erkundungen, die über ein paar Umwege in eine Liebesgeschichte münden, der andere. Der dritte Strang ist das Interview/Gespräch eines unbekannten jungen Science-Fiction-Autors, der anscheinend gerade einen bedeutenden Preis gewonnen hat, und einer ebenfalls unbekannten fragenden Instanz/Person.
Dieser dritte Teil fällt ziemlich heraus, bleibt bis zum Ende für sich und wirkt ein wenig deplatziert. Auch die Briefe sind, obgleich sie für sich genommen ein interessantes Narrativ darstellen, nur sehr lose mit der Haupthandlung verbunden und Jan tritt in ihnen ganz anders auf als in den Abschnitten mit Remo. Bis zum Ende greifen die Stränge nicht wirklich ineinander, das Konzept dahinter (wenn es denn eines gibt) geht für mich nicht auf.

Bewährte Motive Bolaños tauchen natürlich auch in „Der Geist der Science-Fiction“ auf: Nazis, leise Phantastik, Boheme, Vagabuntentum und Außenseiterphantasien, literarische Anspielungen und Referenzen in Hülle und Fülle. Immer wieder gibt es Passagen mit großartigen Einzelbeschreibungen, die eindringlich sind, Spaß machen.
Aber das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Buch kein fertiger Roman, sondern ein liegengelassenes Projekt ist. Es sollte nicht als abgeschlossener Roman verkauft oder gelesen werden.

Spannend ist sicherlich, wie man in diesem Buch Bolaño bei Fingerübungen zusehen kann und wie stark hier teilweise, vor allem in den Briefen, nicht nur seine gewohnt satirische, sondern auch seine kritische Ader zum Vorschein kommt. Die Science-Fiction wird zum Sinnbild für die Utopie, zur Metapher für das Neu- und Besserdenken der Welt, der Verhältnisse. In der Hoffnung, welche Jan in seine Briefe an die Autor*innen legt, setzt Bolaño ein altes Dilemma, die Diskrepanz zwischen literarischer Vision und tatsächlichem Engagement, innovativ in Szene. Die Briefe sind somit Kabinettstücke mit einem gut gezimmerten doppelten Boden.

Lässt man die Einschränkungen (von denen aber jeder Kenntnis haben sollte, bevor er zu dem Buch greift) beiseite, ist diese frühe Prosa durchaus lesenswert. Ich mag, wie sich die Liebesgeschichte entfaltet. Die Beschreibung der Annäherung zwischen Remo und einer Frau namens Laura, erinnert an ein paar Glanzstücke von Bolaño Erzähltalent, seine Sprache wirkt auch in diesem frühen Werk nicht ungeschliffen, sondern schon sehr präzise; vielleicht sogar ein bisschen weniger verkopft und verstiegen als in den späteren, furioseren Werken.
Mit dem Interview konnte ich nicht viel anfangen und ich glaube, hier wären ein paar Backgroundinformationen wichtig oder interessant gewesen.

Überhaupt: es gibt zwar einen Abschnitt mit einigen schönen Originalnotizen aus der Entstehungszeit des Buches, aber keinen Anhang, kein Nachwort (allerdings ein kurzes Vorwort). Gerade wenn man ein Werk wie das von Bolaño zur Gänze herausgibt, sollte man editorisch ein bisschen mehr tun, ein bisschen mehr Beiwerk liefern. Und sei es nur ein Essay oder eine kleine Zusammenfassung, die vielleicht schon an anderer Stelle zu diesem Projekt oder dieser Zeit in Bolaños Leben veröffentlicht wurde. Fakt ist: Meine anfangs geäußerten Bedenken zur Veröffentlichungspolitik kann dieses Buch nicht zur Gänze eliminieren, aber es zerstreut sie erfolgreich. Mehr Bolaño bitte! Mehr Original und ein bisschen mehr Sekundäres.

 

Zu Eduardo Galeanos Vermächtnis: “Geschichtenjäger”. Großartig!


Geschichtenjäger „Die Erde segelt dahin.
Sie trägt mehr Schiffbrüchige als Passagiere.“

Eduardo Galeano war einer der umtriebigsten linken Autoren des 20. Jahrhunderts. Fußballfan und Feminist, anprangernder Journalist und Geschichtenerzähler, Mythensammler, Aktivist und Herausgeber – die Breite seiner Interessen, die Größe seines Augenmerks und seines Bewusstseins für Ungerechtigkeiten, Verschüttetes und Tröstendes war enorm.

Diesem besonderen Gespür bot sich in Südamerika und seinem Heimatland Uruguay genügend Stoff dar. In einem seiner bekanntesten Bücher, „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (das in vielen der südamerikanischen Militärdiktaturen verboten war), zeichnete Galeano minutiös und akribisch die einstigen und derzeitigen Ausbeutungen und Zerstörungen des Kontinents und seiner indigenen und derzeitigen Bevölkerung nach. Auch in vielen seiner anderen Bücher war ihm vor allem daran gelegen, den Reichtum und die Grausamkeit des Daseins nebeneinander zu stellen und auch aus der kleinsten Perspektive heraus sichtbar zu machen.

Eduard Galeano, Ausländer (Lutz Kliche)

„Geschichtenjäger“ ist das letzte von Galeano noch abgeschlossene Buch (in der deutschen Ausgabe befinden sich aber auch noch einige Stücke aus seinem vor dem Tod begonnenen Buch „Kritzeleien“). Es ist, dies will ich direkt sagen, eines der schönsten, mannigfaltigsten, reichsten, aufrechtesten Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe. Es ist ein Schatz, ein Buch für alle Zeiten und Tage.

Wie soll man die zumeist nur eine Seite langen Kurzprosastücke dieses Büchleins beschreiben? Begebenheiten? Erinnerungen aus der Unzahl der Leben und Tode? Spuren der Ungerechtigkeit und der Schönheit? Verbrechen und Wunder? Phänomene? Nadelstiche, stechend und gleichsam ein großes Panorama nähend? Anekdoten und Fabeln? Zerschlagenes und Utopisches? Berichte von Courage und Ignoranz?

Eduard Galeano, Yucatan (Lutz Kliche)

Das alles deckt einen Teil der Texte ab und vernachlässigt manch anderes, eigensinniges oder plötzlich aus einer ganz anderen Richtung herbeiwanderndes Kleinod. Über Galeanos Buch kann man sagen, was man über die Erzählbände Julio Cortázars oft sagt: es sind keine Bücher, es sind Welten.

Bei Galeano bestehen diese Welten zu gleichen Teilen aus scheinender Transzendenz und harter Realität. Die Adjektive sind wichtig. Denn auf der einen Seite breitet er Mythenkosmen und Sagenstoffe aus, spielt sie an wie Melodien und es scheint daraus ein Glaube an den ewigen Kreislauf von Überwindung und Fehlschlag hervor, an die Kraft der Ideen und gleichzeitig Zerrissenheit der Existenz.

Eduard Galeano, Sonne und Mond (Lutz Kliche)

Auf der anderen Seite legt er ohne Ende die Verfehlungen, die ganze Ignoranz der menschlichen (und vor allem männlich dominierten) Gesellschaften bloß: Prüderie und Körperfeindlichkeit, Bigotterie und mangelnde Vorstellungskraft, Rassismus und Unterdrückung, Misogynie und Vorurteil – seine Geschichten aus der Realität handeln von all diesen Verbrechen und wie Menschen und Völker ihnen erliegen, sie verfechten und wie einzelne und viele sich ihnen entgegenstellen.

Eduard Galeano, Kleine Gaucho Gil (Lutz Kliche)

Ca. 250 dieser anekdotischen Fundstücke, erjagten und erinnerten Geschichten sind hier versammelt. Sie machen Mut, berühren, erschüttern, faszinieren und stimmen nachdenklich. Galeano liefert ein Panorama der Niedertracht und erzählt dazwischen von den Momenten des unbeirrbaren Widerstands, Fortschritts und von kleinen leuchtenden Beispielen, die sich wie Wunder aus dem Getümmel der sonstigen harten Fakten emporheben, die über den Globus wuseln, zusammenstoßen und sich vermehren, sodass man gar nicht glauben mag, dass ihnen jemand entgehen kann.

Hier und dort kann man dieser Härte entgehen, wenn man sich dem Ewigen zuwendet oder gegen den Sog der Härte ankämpft, für und für andere einen kleinen Flecken erstreitet, auf dem Ideen des Guten und des Wandels gedeihen können. Galeano erzählt von diesen Versuchen, vom Scheitern, vom Untergang und schafft es, dass man als Lesende/r, in diesen Darstellungen nicht bloß Ereignisse sieht, sondern Lektionen fürs Leben, Flammen, die bewahrt werden sollten, weil noch viel in ihrem Schein bewerkstelligt werden kann.

Ich kann wirklich nur jedem empfehlen, sich dieses Buch zuzulegen. Es ist ein Schatz fürs Leben. Ein Vermächtnis, ein glühendes, funkenschlagendes, strahlendes. Danke Eduardo Galeano. Für so vieles.

Eduard Galeano, Neugier (Lutz Kliche)

Und dank auch an den Peter Hammer Verlag, dafür, dass er seit vielen Jahren die Werke von wichtigen südamerikanischen Autor*innen wie Eduardo Galeano oder auch Ernesto Cardenal herausgibt.

Zum ersten Band der neuen Jandl Werkausgabe


Ernst Jandl 1

Einmal ist die Freude so groß
dass sie die Zeit beim Genick packt
in einen Sack steckt
und in den Fluß wirft.

Das Werk Ernst Jandls ist ein wunderbarer Glücksfall für jeden Freund des Übermuts, der schnarrenden Spielerei, der gewandten Artistik und der heftigen sprachlichen Auseinandersetzung.

Im ersten Band der neuen Jandl Werkausgabe befinden sich einige seiner heftigsten und einige seiner unbekanntesten, sanftesten Schriften. Der erste, fast noch konventionelle, aber schon mit dem Übermut und der speziellen jandlschen Wachsamkeit angereicherte Gedichtband “Andere Augen” (schon der Titel sagt es) bildet den Anfang, bevor Jandls – bis ins Spätwerk hinein oft herausgefordertes, aber letztlich unerreichtes Werk – der zweite Gedichtband und sein eigentliches Debüt, “Laut und Luise” folgt, dem wir so unsterbliche Gedichte wie “schtzngrmm” oder “lichtung” und viele andere, für manche noch zu entdeckende Schätze der Wortverdrehung und der angewandten subversiven Sprachästhetik verdanken.

Auch enthalten ist der dritte Gedichtband “sprechblasen”, der die Experimente des direkten Vorgängers konzentriert und gleichzeitig auch hier und da ein wenig überspitzt und karikiert – was ebenfalls auf eine wichtige Qualität von Jandls Lyrik hinweist: sie nimmt alles sehr ernst, aber nichts nimmt sie zu ernst, auch nicht sich selbst. Was immer wieder jene schöne Ambivalenz bedingt, ohne die Jandls Lyrik mit der Zeit wohl entweder ins Gezwungene oder in die bloße Artistik abgedriftet wäre. Was aber nie geschehen ist.

Außerdem enthalten sind auch die verstreuten publizierten Gedichte aus der Zeit vor der Veröffentlichung von “Laut und Luise” und der Teil “aus ordnern und mappen”. Letzterer besteht aus unveröffentlichten Gedichten, Experimenten, Fragmenten, Ideen und nebenbei Geschriebenem. Klaus Siblewski hat ein schmales, in seiner Kürze bestechendes Nachwort verfasst, das gut in Aufbau und Inhalt einführt und auch die verstreuten und nicht publizierten Gedichte in den Kontext der drei Gedichtbände stellt.

Man kann sich hier an der ganzen Fülle und Breite von Ernst Jandls Frühwerk erfreuen – eine klare Kaufempfehlung!

 

Zu Kazuo Ishiguros Nobelpreisrede


Mein 20. Jahrhundert Für mich besteht der Kern der Geschichte darin, dass sie Gefühle mitteilt. Dass sie anspricht, was uns Menschen, über alle Grenzen und Unterschiede hinweg, eint. Rund um das Erzählen sind riesige, glanzvolle Industrien entstanden, die Buchindustrie, die Filmindustrie, die Fernsehindustrie, die Theaterindustrie. Am Ende aber handeln Geschichten immer davon, dass ein Mensch zu einem anderen sagt: So empfinde ich das. Verstehst du, was ich sage? Empfindest du genauso?

In allem, was ich bisher von dem britischen Autor und letztjährigen Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro gelesen hatte, lag eine so ungekünstelte und authentische, souveräne Authentizität, dass ich die Lektüre dieser Rede ein klein wenig fürchtete; könnte doch ein persönliches Dokument das hehre Bild, welches ich von dem Menschen Ishiguro vor dem Hintergrund seiner Werke pflegte, untergraben.
Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Ich bin nach der Lektüre sogar noch mehr von der Sensibilität, die Ishiguros Narrative meiner Ansicht nach bedingt und ausmacht, überzeugt; vom Feinsinn, den ich in seiner Prosa immer gespürt zu haben glaubte.

Eigentlich schildert Ishiguro lediglich seinen schriftstellerischen Werdegang, allerdings mit dem Augenmerk auf die kleinen Erkenntnisse, die, in einem Moment an ihn herangetreten, die Konzeption und Ideen ganzer Romane zur Folge haben sollten und sich als Wendepunkte erwiesen, die seine Auffassung vom Schreiben und Erzählen grundlegend veränderten.

Schon sein erstes Buch hätte er nicht geschrieben, wenn er nicht 1979 an einem einjährigen Graduierungskurs für kreatives Schreiben teilgenommen hätte. In einer kleinen Stadt, in einer geräumigen Dachkammer hausend, mit wenigen Kursen an der Universität, war er zurückgeworfen auf seine bisherigen literarischen Versuche. Die Auseinandersetzung damit führte schließlich, wie bei einem Fluchtreflex, dazu, dass er zum ersten Mal über Japan schrieb, das Japan seiner Erinnerung, seiner Vorstellung. Es entstand „A pale view of hills“.

„Diese Monate waren insofern entscheidend für mich, als ich, hätte ich sie nicht erlebt, wahrscheinlich nie Schriftsteller geworden wäre. Seither habe ich oft zurückgeblickt und mich gefragt: Was ging damals in mir vor? Woher kam diese eigenartige Energie? Mein Fazit ist, dass es an diesem Punkt meines Lebens um einen notwendigen Akt des Bewahrens ging.“

Das Bewahren blieb ein wichtiges Element von Ishiguros Werk, aber andere Aspekte traten hinzu. Auch die weiteren Erkenntnisse und wie er zu finden ihnen fand, beschreibt Ishiguro eindrücklich und schlicht: Wie ihn ein gewöhnlicher Filmabend auf die Essenz jeder Geschichte brachte: wir wollen, dass es darin um Beziehungen (oder die Abwesenheit von Beziehungen) geht, die etwas bedeuten. Oder wie ein Besuch in Ausschwitz, wo die schrecklichen Todesbauten der Nazis allmählich verfallen, ihn mit der Frage konfrontierte, ob und wie Erinnern in Gesellschaften gepflegt werden sollte. Wie soll man mit solchen Erinnerungen umgehen?
Diese Überlegungen wirkten sich direkt auf die Romane „Never let go“ bzw. „The buried giant“ aus.

Ishiguros Nobelpreisrede ist keine große Poetikvorlesung. Sie ist etwas viel Schöneres, Menschlicheres: eine Erzählung von den Momenten, in denen Kunst ihren Anfang nimmt, in Regungen, die dem Bedürfnis nach Mitteilung, nach Bewahrung, nach Wahrheit und Verstehen entspringen. Ishiguro verleiht dem Akt des Schöpfens menschliche Züge, ohne ihn zu entzaubern.

Ich bin sehr dankbar für dieses kleine Dokument, diese einfache Schilderung eines Lebensweges und eines daraus erwachsenden Selbstverständnisses, in dem Ishiguro im letzten Abschnitt außerdem noch klar Position bezieht, was die neusten Umbrüche und zersetzenden Dynamiken in unserer Zeit angeht, über die er kurz und bündig schreibt:

Wenn wir heute auf die Zeit seit dem Fall der Berliner Mauer zurückblicken, erscheint sie uns als Epoche der Selbstgefälligkeit und der vertanen Gelegenheiten. Wir haben eine gigantische Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Chancen zugelassen, zwischen Nationen ebenso wie innerhalb von Nationen. […] Die langen Jahre der Austeritätspolitik, die nach der skandalösen Finanzkrise 2008 dem einfachen Volk aufgezwungen wurde, haben uns in eine Gegenwart geführt, in der sich rechtsextreme Ideologien und völkische Nationalismen rasant ausbreiten. Rassimus, ob traditioneller Prägung oder in seinen modernen, professioneller vermarkteten Erscheinungsformen, ist wieder im Kommen. Vorläufig scheint uns jede progressive, einigende Vision zu fehlen. Stattdessen zerfallen selbst die reichen Demokratien des Westens in rivalisierende Lager, die erbittert um Macht und Ressourcen streiten.

Also: Eine in jeder Hinsicht bereichernde Lektüre!

 

Hier auch noch der Link zu einem Essay, den ich zu Ishiguros Werk verfasst habe, publiziert beim Signaturen-Magazin

Borges zum 118. Geburtstag


für Maria

Was am Anfang bestimmend war, das waren die Viertel von Buenos Aires. Die Dunkelheit, der Mondschein, das schier abhanden kommende Dasein in den Fluchten von Spiegeln und Träumen, den Serpentinen zur Nacht, den engen Gassen. Das Schein und Sein-Spiel, ganz unerheblich, und doch: deine Existenz, noch etwas tiefer geschöpft, weiter vergossen, klarer ins fast schon Zerriebene gestellt.

Der Mond rief unerbittlich auf, in seinem weißen Zink, die Entfernungen der Welten, die Nähe der Sehnsucht und die Knochen, in denen du steckst. Während dein Kopf sich universell fühlt, zu Gedanken gezogen, Phantasien, Ideen und dem Hang sich an den Fasern der Bücher, der Worte, aufzutrennen, viel mehr hereinzulassen, als existieren kann, außen und innen. Die willkürliche Seele verlangt blindlings nach Dauer und nach Inhalt. Und durch die Seiten, die Verse, ist es, als würde es nicht um Menschen gehen – in eine Haut gebannt wie jeder, der von ihnen lesen kann – sondern ein bisschen mehr ist da und wie kommt man dahin, darauf …

Meditationen. Jedes Gedicht ist einem besonders tiefen Moment verpflichtet, verdankt. Das Universum wird mit jeder Zeile als Falte gesehen, die man umschlagen kann; das Universum, jenes Etwas, das sich auf seltsame Art die Zeit einteilt und die Räume, die Erscheinungen, die Träume, die Ereignisse, die Stimmungen, in denen du leben kannst als wären sie deine. Die Dimensionen der Gedanken leuchten in deinen Kopf und finden dann und wann dein Staunen, den Schönheitsreflex.

Swedenborg, Emerson, De Quincey, Chesterton, Shakespeare. Die Lektüre von Jahrhunderten und einem verregneten Abend, der vergessen wurde, wieder auferstand. Die Verse, die Essays, Geschichten, die Fortsetzung der Lektüre mit anderen Mitteln. Die Faszination ist da – gesprengt von den Worten, den Seiten, den Büchern, Einbänden, Namen, dem Satz, den du dir nicht einmal anstreichst, weil er ein Farbton ist, dem du wieder ganz plötzlich begegnen willst, ohne Hinweis, ohne Warnung. Keine Mauer errichten, kein sicheres Lager! Ein Erinnern ist das Lesen und ein Vergessen.

Ein Ausblick so groß wie der Himmel, ein Gedanke, so groß wie eine Wolke, ein Erkennen, so sanft wie ein Regen.

Zeit. Nichts fasziniert mehr als dieses Phänomen, das keines ist, weil es immer nur war und wird. Nur wir sind. Zeit geht und kommt. Wir gehen und kommen mit.

Menschen, Dinge, die uns elektrisierten, die sich uns eingaben wie ein Gott ohne Namen, als Antwort auf ein verloren geglaubtes Gebet. Im Schreiben sich dem nähern, was aus dem Schreiben erst entsteht.

Die Vorstellung: ein Wunder? Oder gekrümmte Realität? Realität: eine zurechtgekrümmte Vorstellung?

Zumindest ein Wunder: Dass es so viel zu lesen gibt. Durch das Geäst der Worte entsteht der Wald der nicht gerodeten Freiheit sich etwas auszudenken, mitzudenken, nachzudenken, vom Denken ins Schreiben zu wechseln.

Auf Wissen um die Navigation muss man verzichten, Literatur. Wir haben kein Ziel, wir fahren hinaus, wir steuern nicht an, wir reisen.

Wissen, dass Dichtung immer ein bisschen ein Abschied ist. Linien ins Nichts, an denen du dann hängst, dich festhältst, liegst wie in einer Hängematte, die solange hält, bis du das Buch zuschlägst; und etwas darüber hinaus. Und wieder hinein.

Alles was Besitz ist, bleibt Besitz des Gestern, der sich bis heute hält. Aber was hält, ist wichtig. Ist schön. Darin findet das Leben schon länger statt, wird erstmal nicht aufhören, darin stattzufinden, vielleicht. Hoffentlich; sicher nicht ewig, denn die Ewigkeit gibt es nur und nicht für dich.

(erschienen zuerst auf dasgedichtblog.de, Link)

Tolkiens ganze Meisterschaft – von Tom Shippey in seinem Buch “Tolkien – Autor des Jahrunderts” wunderbar präsentiert


Tolkien als großer Autor des 20. Jahrhunderts? Da gibt es wohl nicht wenige, die Protest einlegen würden. Wie könnte jener Autor, der das Fantasy Genre (mit-)begründete (eine als trivial und unterhaltungsversessen abgestempelte Richtung der Literatur), denn ein großer Autor, ja, ein wahrer Meister seines Faches, der Sprache, der Literatur sein?

Barock und mythenverklärt, infantil und pathetisch, eindimensional, weltfremd und heroisch – es gibt genug Vorwürfe gegen Tolkien und seine Werke. Dass die meisten dieser Vorwürfe einer Unkenntnis des Werkes entspringen, sich lediglich auf Vorurteile oder Medien zweiter Hand (Filme, Nacherzählungen, Zusammenfassungen) stützen, ist das eine; dass aber trotz der Verehrung und Popularität, die Tolkien und seine Werke genießen, für einen Großteil der Leser noch immer nicht ersichtlich und klar ist, dass Tolkien einer der vielschichtigsten, fortgeschrittensten und wegweisensten Autoren seiner und unserer Zeit ist, nicht nur thematisch, sondern erzähltechnisch, allegorisch, metaphysisch, Ambivalenz und sprachliche Schönheit mit Wissen, Transzendenz und Können vereinend, kann man fast nur als unverständlich und muss es als rückständig ansehen.

Dieses Buch kann bei diesem Missstand etwas Abhilfe schaffen. Es zieht einen wirklich in die Materie von Tolkiens künstlerischem Hintergrund, gespeist von seinem Leben und seiner Arbeit mit dem Altenglischen, den Sagen der britischen Inseln, dem Beowulf-Epos, sowie einigen zentralen philosophischen Problematiken, um die seine Werke kreisen: der Ursprung von Gut und Böse, die Willensfreiheit des Individuums im Kontext übergreifender Ereignisse, Fragen der Hoffnung und der Tod und die Ewigkeit. Einem werden die Augen geöffnet inwieweit Der Herr der Ringe und Tolkiens andere Werke nicht nur Geschichten, sondern metaphysische, psychologische und mythische Kosmen sind, die durch ein Gespann von Handlung gezogen und ausgebreitet werden, aber im Kern immer ein metaphorisches und transzendentes Wesen, Bezüge und Konzepte haben.

Es macht außerdem einfach Spaß dieses Buch zu lesen. Über die Einleitung, die sich auch ein bisschen mit Tolkiens Rolle in der Literaturlandschaft des 20. Jahrhunderts beschäftigt, über eine genauere Betrachtung der einzelnen Werke, bis hin zur Analyse einiger grundlegender Motive in seinem Werk wird man bestens unterhalten und belehrt, ganz ohne elitäre Strapazen. Gerade für Leute, die Interesse an Sprache haben, ist dieses Buch eine Goldgrube. Da der Autor selbst Philologe ist gelingt es ihm zu zeigen wie Tolkien einst durch sein Suchen nach den Ursprüngen der Worte zu Namen, Orten und Einfällen (und eigenen Sprachen) für seine Werke kam und führt uns ganz nah heran an die Quellen seiner phantastisch anmutenden Werke, die dadurch nicht weniger phantastisch werden, aber viel ansichtiger, heller, mit einer Balance zwischen Fiktion und Idee. Das macht nicht nur die Werke zugänglicher, sondern bringt auch ihren Autor klarer und menschlicher, als Kontur dahinter, hervor und zu Bewusstsein; wir lernen Tolkien kennen, als Schaffenden und Suchenden, lernen die besondere Beschaffenheit seines Denkens zu verstehen.

Gleichzeitig ermöglicht uns Shippey Einblick in die große Dimension von Tolkiens Leistung. Man ist fast dazu verleitet, sofort sämtliche Werke Tolkiens aufzutreiben und zu studieren, zu lesen – diesem großen Reichtum hinter dem Text nachzugehen, die Shippey uns mit seinen Betrachtungen öffnet und der einen vermuten lässt, dass jede Sprechweise der Charaktere, jede Szene, ein tieferes Postulat, eine größere Gedankenwelt bereit hält.

Nachdem ich das Buch zweimal gelesen habe und es schon wieder lesen will, fasziniert von Sachen, die ich gelesen und schon wieder vergessen habe, die aber Anstoß für weitreichende Überlegungen waren, kann ich nur sagen: dieses Buch ist lesenswert, es ist inspirierend und vor allem sollte es gelesen werden, damit klar wird, was für ein großer Geist hinter den Werken des J. R. R. Tolkien steht.

Gedicht – Zum Tod von Tomas Tranströmer


Zum Tod von Tomas Tranströmer

Er schrieb dünne Partituren
für eine ganze Landschaft an Sinnen
in einem Weltgeschehen aus Bildern.

Ein um Pfand erleichtertes Licht
hinter allen Blenden,
das sie umstürzt, scheint dazwischen.

Es berührt uns, obwohl wir dunkel sind,
nicht sehen wo es uns zuknüpft
oder auf.

Bleiben beide unbestimmt.
(Sind uns aber ähnlich.)

Wirklichkeiten entstrauchelte er, lieh ihnen Stimme,
und hauchte dünne Linien ihnen ein
deren Muster als Naht entlang der Seele diente.

Mancher Vers wusste kaum wohin er führte;
keinerlei Bestimmung ewig zu sein,
sondern als Eindruck zu strömen; strömend

war da doch ein Anteil Ewigkeit.
Ein Anteil, der fragt nach den Dingen.
Poesie lädt immer zum Zweifeln ein,

aber vor allem zum Träumen. Sie kann,
sie darf,
sie will,
sie wird
dich faszinieren.

Denn da ist keine Stelle, die nicht etwas sieht. Nichts
ist leer,
alles
ist offen.

Sieh hin. Ein Wunder gibt es,
das stets geschieht.
Von ihm oft eingefangen, aufgeschrieben,

eingeladen, sich in die Worte zu verlieben,
damit jeder es durch Sprache sehen kann.
Nur Dank, nur Liebe
für diese Art von Poesie,
selbst in der Trauer.