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Widerständiges


Gestern, am ersten November 2021, wäre Ilse Aichinger 100 Jahre alt geworden. Es gibt wohl nur wenige moderne Schriftstellerinnen, denen trotz eines so schmalen Werkes eine so große Verehrung zuteil geworden ist ihr. Sie gilt als Meisterin der kurzen Prosa, ist so etwas wie eine literarische Ikone und es gibt wohl kaum eine*n Student*in des kreativen Schreibens (oder auch der Germanistik, Literaturwissenschaft, etc.), die*der nicht mit ihrer Spiegelgeschichte in Berührung gekommen ist oder mit sonst einer ihrer filigranen Erzählungen.

Nun ist zum Anlass ihres Geburtstags bereits Ende September dieser Band mit (genau hundert) verstreuten Publikationen erschienen, deren Spanne vom Jahr 1948 bis zum Jahr 2005 reicht. Betitelt ist der Band mit „Aufruf zum Mißtrauen“, ein programmatischer Titel (und der Titel eines Textes im Buch), der gewisse zentrale Aspekte von Aichingers Schreiben und Denken gut zusammenfasst, aber zumindest auf mich auch ein bisschen irreführend wirkt, so als handle es sich bei den verstreuten Publikationen vor allem um Glossen, Pamphlete und dergleichen.

Das ist nicht der Fall, vielmehr erwartet die Leser*innen ein Mix aus Gedichten, Feuilleton, Briefen, Beiträgen für Anthologien und andere Gelegenheitsschriften, dramatischen Fragmenten/Szenen, u.v.a.

Die Beiträge sind chronologisch geordnet, es gibt keine Gruppierung/Einteilung nach Art der Texte, was zunächst etwas beliebig anmutet, aber den Leser*innen eben die Gelegenheit gibt, dem einzigen roten Faden des Buches zu folgen, nämlich der mannigfaltigen Darstellung von Aichingers Positionen und ihrer Entwicklung.

Ich muss zugeben, dass ich mich, obwohl durchaus begeisterter Aichinger-Leser, mit dem Band etwas schwergetan habe. Das Konzept (100. Geburtstag = 100 Texte) klingt zunächst griffig, aber in der Praxis hätten vielleicht etwas weniger Texte dem Band gutgetan. Denn mancher Beitrag wirkt, trotz seiner unbestreitbaren Relevanz für die Aichinger-Forschung, deplatziert, weil nicht unbedingt von Interesse für Leser*innen, die sich mit Aichinger als Autorin, aber nicht unbedingt als Person auseinandersetzen wollen.

So erscheint der Band streckenweise weniger wie ein Lesebuch, das unbekannte Glanzstücke Aichingers dem Publikum präsentieren soll, und mehr wie eine Werkausgabenkomplettierung (was aber vermutlich nicht der Fall ist, denn es ist unwahrscheinlich, dass die Zahl der Beiträge ein Zufall ist).

Trotzdem gibt es natürlich einige wichtige und auch starke Beiträge. Besonders interessant fand ich Aichingers Auseinandersetzung mit den Geschwistern Scholl. Aber auch ihre Gedanken zu Thomas Bernhards „Heldenplatz“, zu Gert Jonke und der Gruppe 47 fand ich sehr anregend, ebenso eine Rezension zu einem Buch von Julian Schutting. Und gefreut habe ich mich, dass auch ein paar mir unbekannte Gedichte von Aichinger enthalten sind.

Meine Bedenken habe ich angebracht und abseits dieser will ich von Kauf und Lektüre des Bandes nicht abraten. Es stellt einen guten Querschnitt durch unterschiedlichste Aspekte von Aichingers Werk und Wirken dar. Vielleicht ist auch gerade die unterschiedliche Relevant der Beiträge für manche Leser*innen eine spannende oder angenehme Abwechslung.

Auf jenen Höhen seid gewahr


Gang zu jenen Höhn

Wir verdanken ihm u.a. eine Geschichte der Kreuzzüge, eine Karl-May Biographie, einen Briefwechsel mit Arno Schmidt, einen Essay, der zum heutigen Kernprogramm von vielen Tierschützer*innen gehört und die Übersetzung von James Joyce Jahrhundertroman Ulysses, eigene Romane u.v.a. – Hans Wollschlägers literarisches Vermächtnis ist breit und vielseitig. Wohl auch deshalb gibt der Wallstein Verlag seit beinahe 20 Jahren eine Edition seiner Werke in Einzelausgaben heraus. Nun ist der Band „Der Gang zu jenen Höhn“ erschienen, mit dem Untertitel „Legenden zur Literatur“.

Legenden, da denkt man an Mythen, an Kuriositäten vielleicht, an Entrücktes, Strahlendes. Nun sind aber weniger diese sagenhaften Legenden gemeint, sondern jene, die als Zeichenerklärungen bei Landkarten oder Plänen beigefügt sind. Hier arbeitet ein Kenner der Literaturen für seine Leser- und Zuhörer*innen eine ganze Reihe von (An)Zeichen heraus, die ihnen die Navigation und Übersicht in den Werken einiger Autoren erleichtern können; mitunter so beflissen und gleichsam subtil, dass man fast die Stellen übersieht, an denen Wollschlägers Argumentation/Darstellung einen entscheidenden Ausfallschritt macht, eine Wendung vollzieht, zu einem wichtigen Punkt vorstößt.

Allein fünf Texte des Bandes drehen sich um die Werke von Friedrich Rückert, an dessen historisch-kritischer Ausgabe Wollschläger mitgearbeitet hat – besonders berührend und aufschlussreich ist seine Analyse des Gedichtes Chidher, ein Text, für den er mich voll und ganz gewinnen konnte, allein durch seine Betrachtungen. Aber auch andere Texte und Themen des Bandes sind ein großes Vergnügen, bspw. ein Beitrag mit dem Titel „Vom Wahnsinn des Unterfanges“, in dem es um eine Auswahl aus der „Fackel“ von Karl Kraus geht.

Die meiste Literatur erschließt sich, zumindest auf einer Ebene, vor den Augen aller geduldigen, aufmerksamen Leser*innen. Aber es zeigt sich immer wieder, dass es Menschen gibt, die eine schier endlose Anzahl an Schlüsseln zu noch mehr Ebenen und/oder auch zu den komplexesten Werken der Literatur besitzen. Wollschläger war so ein Schlüsselträger, einer, der bei den verschiedenen Ebenen großer Werke ein- und ausgehen konnte, wie es ihm beliebte. Und zu unserem großen Glück nahm er gerne Leute mit auf den Gang zu jenen Höhn.

Zum vierten Band der Jandl-Werkausgabe


Idyllen stanzen Peter und die Kuh
„die primzahl der prinzgemahl der primizsegen
eilig eis eierspeise meidling das scheit der schrei“

Im letzten Band mit Gedichten der Jandl-Werkausgabe erleben die Leser*innen noch einmal einen Umbruch in Jandls Schaffen: die starke Hinwendung zur Dialektdichtung. Während die „Idyllen“ noch sehr stark an vorangegangene Jandl-Bände anknüpfen, sind von den „Stanzen“ an alle restlichen Werke von dieser Faszination, dieser neuen Leidenschaft immer wieder durchzogen.

Ansonsten sind die letzten Gedichte sicher auch die am häufigsten tristen, unversöhnlichen Gedichte Jandls. Sehr oft setzt er sich in ihnen mit dem Sterben, mit Krankheiten, mit dem Alter auseinander. Ja, für letzteres entwickelt er eine, einem Jandl-Gedicht zwar meist gut stehende, aber doch geradezu hartnäckige, gleichzeitig aber unlösliche Obsession.

Ansonsten stehen auch oft Freund*innen, Verwandte (vor allem Vater und Mutter) und der katholische Glauben im Mittelpunkt. Bei all diesen Themen hat man das Gefühl, Jandl würde sich (noch mehr als bisher) an ihnen „abarbeiten“, wortwörtlich, ohne Schonung und Transformation. Oft haben seine Gedichte etwas Aufreibendes (aber auch Austreibendes) und Heftiges, aber ins Nichts Verlaufendes an sich (sie erinnern einen dadurch ein wenig an Werke von Samuel Beckett).

Es ist gleichsam eine Implosion und Explosion, die man als Leser*in hier miterlebt. Nicht selten geht es in den Gedichten auch darum, dass es mit dem Schreiben nicht mehr so läuft wie früher, manche Gedichte erklären sich selbst zu Sackgassen, andere stellen sich grundsätzlich infrage, sind aber in diesem Infragestellen nicht mehr so agil wie zu Jandls besten Zeiten.

Zur Komplettierung ist der Band sicher Pflicht und sowohl die Idyllen als auch die Stanzen enthalten großartige Gedichte. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jandl seinen Zenit schon überschritten hatte und dies selbst wusste. Er trotzte sich noch einige Meisterwerke und allerhand Bewältigungsgedichte ab, aber der letzte Band vermag es nicht mehr, so zu fesseln wie die vorangegangenen drei. Mancher mag ihn allerhöchstens deswegen besonders feiern, weil Jandl hier letztlich kompromissloser vorgeht als jemals zuvor.

burst

Zum dritten Band der Jandl-Werkausgabe


dritter band jandl Der dritte Teil der Jandl-Werkausgabe enthält mit „die bearbeitung der mütze“ einen der vermutlich besten Gedichtbände des Wiener Autors. Hier findet sich nicht nur das wunderbare Langgedicht „183 Fahren für Rottweil“, sondern auch der programmatisch wie poetisch herausragende Zyklus „der gewöhnliche rilke“, mit so bekannten Gedichten wie „rilkes schuh“:

„rilkes schuh
war einer
von zweien

jeder schuh rilkes
war einer
von zweien

rilke in schuhen
trug immer
zwei

wade an wade
stand rilke
aus den beiden schuhen heraus“

In dem ganzen Zyklus, im ganzen Gedichtband, probt und vollführt Jandl mit verschiedensten Mitteln einen Stil zwischen Provokation und Brillanz, für den er schon in früheren Bänden bekannt war, den er aber hier auf enervierende bis vorzügliche Art und Weise noch einmal ausbaut. Kritisch klopfen seine Verse das Sprachliche ab und sind doch selbst Kunstwerke einer ausgereizten Sprachlichkeit (zuzüglich einer ebenso ausgereizten graphischen Anordnung von Sprache).

vorvorvorvorvorvorvorvorhang
vorvorvorvorvorvorvorhang
vorvorvorvorvorvorhang
vorvorvorvorvorhang
vorvorvorvorhang
vorvorvorhang
vorvorhang
vorhang

Dabei geht er ebenso spielerisch wie gewissenhaft vor – ja, das Absurde und die sprachliche Prägnanz kommen in seiner Dichtung immer wieder aufs Erstaunlichste zusammen, sorgen für Transzendenz und Unterhaltung in verschiedenen Kombinationen, manchmal in Form von feinen Banalitäten, manchmal in Form von grotesk-verstiegenen Konstrukten.

Kurzum: auch dieser dritte Band hält einiges bereit für jede*n Freund*in von ernsten Sprachspielereien, Lyrik von absurd bis zwingend, mit kritischen Ansätzen nebst unterhaltsamen Ausformungen. Ein Jandl-Gedicht kann man erforschen oder einfach nur bestaunen, gleichermaßen. Hier gibt es viele wunderbare, reizvolle Stücke, aus denen, wie bei jedem guten Gedicht, die Frage hervorscheint: wer sind wir eigentlich, wir, die Sprechenden, die Lesenden, die Denkenden?

du bist nicht hier
du bist gewiß nicht hier
wo du bist
mußt du selbst herausfinden
vorausgesetzt du mußt
herausfinden wo du bist
hier bist du keinesfalls
hier sind ausschließlich wir
hundertdreiundachtzig buchstaben

 

Zu den Gedichten Jean Genets


Jean Genet Gedichte
“Der Zufall – der größte! der Zufälle ließ zu oft
Aus meiner Feder ins Herz meiner Gedichte
Die Rose fließen mit dem Wort Tod, das aus ihren weißen Armbinden”
Gestickt die schwarzen Krieger tragen, die ich liebe.”

Im Prinzip sind die Gedichte Jean Genet Gesänge, ausschweifende Balladen, die gleichsam einzigartig sind und doch an die französischen Lyrik-Traditionen von Comte de Lautréamont (Gesänge des Maldoror) über Charles Baudelaire bis zu Arthur Rimbaud anknüpfen. Wer dieser Tradition und ihre Erzeugnisse schätzt, der kann bedenkenlos zugreifen. Leuten, die Genets Romane mit all ihrer Wucht, Kasteiung und Abgründigkeit, all ihrer Poesie schätzen, werden die Gedichte wie Liedpassagen aus diesen Romanen vorkommen, wie Ergänzungen, Overtüren und Vertonungen.

Rimbaud steht Genet vielleicht noch am nächsten, mit ihm hat er die schwelgerische Dichte gemeinsam und ebenso wie bei Rimbaud steht bei Genet das Außenseitertum, das Ausgestoßensein, allerdings noch einmal extremer, im Zentrum. Seine lyrischen Ichs erzählen von Qualen und Schmerzen, Schönheit und Begehren. Gefängnisse und Gefangene, der Liebe oder der Justiz, sind hier keine Seltenheit.

“Das Wasser der Einsamkeit
hält mich reglos und füllt das Gefängnis.”

Auch Sünde und Heiligkeit, Homosexualität und Körper in Lust und Gewalt, sind feste Motive in Genets (lyrischer Welt). Wer drastische und kühne, dabei durchaus mitunter blumige, Lyrik mag, der wird voll auf seine Kosten kommen. Genets Poesie zieht nicht einfach vorbei, sie fordert, rückt vor und stößt an, sprudelt über, glänzt dunkel. Mitunter ist sie unglaublich schön, dann wieder verwegen, auch dann und wann etwas überbordend. Ein besonderes literarisches Erlebnis zweifelsohne.

“Schwarzer Granitfels auf dem Wollteppich,
Eine Hand auf seiner Hüfte, höre ihn gehen.
Gehe zu der Sonne seines sündelosen Körpers,
Und streck dich ruhig aus am Rand seiner Fontäne.”

Inhalt:

Zweisprachig enthalten sind die sieben Zyklen:

La condamné à mort / DER ZUM TODE VERURTEILTE
Marche Funèbre / TRAUERMARSCH
La galère / DIE GALEERE
La parade / DIE PARADE
Un chant d’amour / EIN LIEBESGESANG
Le pêcheur du Suquet / DER FISCHER VON SUQUET
Le funambule / DER SEILTÄNZER

Ich empfehle außer Genets eigenen Werken sehr die Lektüre von Josef Winklers “Das Zöglingsheft des Jean Genet”

Zu Philip Roth


 

Seine großen Themen waren Sex und Tod. Das in manchen seiner Romane nicht ganz unproblematische und nicht selten einseitig gewichtete Frauenbild, dürfte manchen Leser*innen schon einmal sauer aufgestoßen sein. Seine Frauenfiguren, oft nur Spiegel für die Vergänglichkeit und Konflikte der männlichen Protagonisten, blieben seine Achillesverse.

In den USA sorgten einige seiner Plots für Furore – schon sein Erstling „Portnoys Beschwerden“ wurde begrüßt und gleichsam verdammt, aber auch sein in Europa kaum bekannter Satireroman über Richard Nixon, seine Zuckermann-Quadrologie und nicht zuletzt sein Buch „Der menschliche Makel“, erhitzten die Gemüter und sorgten für einige Kontroversen. Nun ist der Autor Philip Roth gestern im Alter von 85 Jahren gestorben.

Immer wieder thematisierte er das Neurotische im und am Triebhaften, die Fallhöhen der kreativen und erotischen Existenz – und schon früh, und am Ende immer häufiger, die Qualen des Alters, die Furcht vor dem Tod. Eine Furcht, der seine Protagonisten anscheinend nur durch eine Flucht ins Brodelnde oder Ebenmäßige der wiedergefundenen Jugend beikommen konnten, im Wiederaufleben der Pubertät, einer letzten Erregung.

Ich schätze vor allem seine unkonventionelleren Werke: das anarchische Baseball-Opus „The great american Novel“, halb Parodie, halb Mythos, eigentlich ein wahnsinniger Witz und streckenweise eigenwilligste Unterhaltung. Das schmale Buch „Mein Leben als Sohn“, eine Auseinandersetzung mit dem Vater. Und jene beiden ersten Bände seiner letzten Kurzromanserie „Jedermann“ und „Empörung“.

Ersteres: eine rücksichtslose, hoffnungsangekratzte Bilanz einer (männlichen) Existenz, ein Endpunktspektakel, das berührt, weil es alle Kraft der Beschreibung in die Aussichtlosigkeit investiert. Ein Konzentrat der Endlichkeit.
„Empörung“: Das Gegenstück. Eine Geschichte von Jugend, Aufbruch und Ungeduld. Ein Konzentrat der Unendlichkeit. Und beide Bücher haben ihre ganz eigene Antipointe.

Viele können sicher viel mehr über das Werk Philip Roths, seine Größe, seine Problematiken, berichten. Aber für diese vier Bücher will ich ihm einfach danken. Mir werden sie bleiben. Ruhe sanft.

Zum ersten Band der neuen Jandl Werkausgabe


Ernst Jandl 1

Einmal ist die Freude so groß
dass sie die Zeit beim Genick packt
in einen Sack steckt
und in den Fluß wirft.

Das Werk Ernst Jandls ist ein wunderbarer Glücksfall für jeden Freund des Übermuts, der schnarrenden Spielerei, der gewandten Artistik und der heftigen sprachlichen Auseinandersetzung.

Im ersten Band der neuen Jandl Werkausgabe befinden sich einige seiner heftigsten und einige seiner unbekanntesten, sanftesten Schriften. Der erste, fast noch konventionelle, aber schon mit dem Übermut und der speziellen jandlschen Wachsamkeit angereicherte Gedichtband “Andere Augen” (schon der Titel sagt es) bildet den Anfang, bevor Jandls – bis ins Spätwerk hinein oft herausgefordertes, aber letztlich unerreichtes Werk – der zweite Gedichtband und sein eigentliches Debüt, “Laut und Luise” folgt, dem wir so unsterbliche Gedichte wie “schtzngrmm” oder “lichtung” und viele andere, für manche noch zu entdeckende Schätze der Wortverdrehung und der angewandten subversiven Sprachästhetik verdanken.

Auch enthalten ist der dritte Gedichtband “sprechblasen”, der die Experimente des direkten Vorgängers konzentriert und gleichzeitig auch hier und da ein wenig überspitzt und karikiert – was ebenfalls auf eine wichtige Qualität von Jandls Lyrik hinweist: sie nimmt alles sehr ernst, aber nichts nimmt sie zu ernst, auch nicht sich selbst. Was immer wieder jene schöne Ambivalenz bedingt, ohne die Jandls Lyrik mit der Zeit wohl entweder ins Gezwungene oder in die bloße Artistik abgedriftet wäre. Was aber nie geschehen ist.

Außerdem enthalten sind auch die verstreuten publizierten Gedichte aus der Zeit vor der Veröffentlichung von “Laut und Luise” und der Teil “aus ordnern und mappen”. Letzterer besteht aus unveröffentlichten Gedichten, Experimenten, Fragmenten, Ideen und nebenbei Geschriebenem. Klaus Siblewski hat ein schmales, in seiner Kürze bestechendes Nachwort verfasst, das gut in Aufbau und Inhalt einführt und auch die verstreuten und nicht publizierten Gedichte in den Kontext der drei Gedichtbände stellt.

Man kann sich hier an der ganzen Fülle und Breite von Ernst Jandls Frühwerk erfreuen – eine klare Kaufempfehlung!

 

Umfassende Gelehrsamkeit in Erich Auerbachs Essays


Die Narbe des Odysseus Erich Auerbach – nach der Lektüre des Bandes bereue ich, diesen Namen nicht schon vorher gehört und nicht früher mit seinen Schriften Berührung gekommen zu sein. Das gemächliche und dabei umfassende Verständnis, das seine Prosa verströmt, die gediegene und doch sehr einfache Heranführung an bedeutende Sachverhalte und literarische Momente, der federleichte Witz, der eigentlich kein Witz ist, sondern eher so etwas wie Nachsicht, eine gewisse Behutsamkeit im Angesicht des Schönen, Besonderen – dies alles zeichnet Auerbachs Essays in diesem Band aus.

Auch einige Briefe sind abgedruckt, jeweils eingeleitet durch eine Darstellung der Beziehung zur angeschriebenen Person und die Umstände des Briefes. Enthalten sind Briefe an Thomas Mann, Walter Benjamin, Victor Klemperer und andere Weggefährten und Freunde.

Kernstück des Bandes ist in jedem Fall der Essay „Die Narbe des Odysseus“, nicht nur wegen dessen Länge, sondern auch weil er eine der gelungensten Analysen von literarischerer Strukturanalyse und dramaturgischem Aufbau darstellt, die ich bisher gelesen habe – ohne dabei entkernend oder erschöpfend zu wirken. Neben diesem Meisterstück gibt es Texte zu Montaigne und Proust, Giambattista Vico, sowie Dante & Vergil, wobei letzterer ebenfalls dazu geeignet ist, Faszination für einen alten Klassiker der Literatur zu wecken.

Wie viele andere Gelehrte musste Auerbach Mitte der 30er Jahre aus Deutschland emigrieren, nachdem er wegen seiner jüdischen Abstammung seinen Lehrposten aberkannt bekam. Er ging nach Istanbul, wo er den Krieg über blieb und sein Hauptwerk „Mimesis“ schrieb, und danach in die Vereinigten Staaten.
Die Einleitung von Matthias Bormuth stellt diesen Lebensweg umfassend dar und gibt auch eine Einführung in Auerbachs Werk und Denken.

Wieder einmal legt der Berenberg Verlag mit diesem Buch ein Schmuckstück, einen kleinen kulturellen Schatz vor; es ist eine Freude, diese Bücher zu lesen und sie in der Hand zu halten. Im Fall von Erich Auerbach ist es eine philologisch-intelligible, fein-humanistische Freude.

Zu der George Lucas Biographie von Brian Jay Jones


Das war 1975. Und niemand, auch nicht Lucas, war klar, dass er mit den Sequel- und Merchandising-Rechten gerade eine Milliarden-Dollar-Klausel ausgehandelt hatte.

Das war am Anfang. Also nicht ganz am Anfang. Ganz am Anfang steht in jeder Biografie die Geburt, das Aufwachsen, die Begegnung mit den Faszinationen, die später, tranformiert, das Werk prägen werden.
Es ist eine schwierige Gratwanderung, eine George Lucas-Biographie zu schreiben. Denn sein Name ist so sehr Synonym für Star Wars (oder vielleicht Indiana Jones oder meinetwegen auch visionäre Sound- und Animationstechnik), dass ein Biograph einerseits Gefahr laufen könnte, zu viel Gewicht auf die Geschichte dieser Werke zu verwenden, in Ausmaßen, die mit Lucas Leben und Schaffen nicht mehr direkt etwas zu tun haben oder es überschatten und andererseits besteht das Risiko, dass eine George Lucas-Biographie die Fans enttäuscht, wenn sie den mit seinem Namen fest verknüpften Werken zu wenig Platz einräumt.

Bedenkt man diese Voraussetzungen, so erkennt man schnell, dass Brian Jay Jones eine gute Balance geglückt ist: Das Buch ist eine Biographie der Persönlichkeit von Lucas und keine Biographie von Krieg der Sterne oder einem anderen Projekt. Auch wer ein Buch sucht, in dem das Verhältnis zwischen Lucas und der Inspiration zu seinen Filmen komplexer beleuchtet wird, wird hier nur bedingt fündig werden (und ich würde ihn oder sie eher an “Star Wars, Magie und Mythos” oder direkt an eine von Lucas Inspirationsquellen “Der Heros in tausend Gestalten” verweisen).
Zwar nennt Jones gewissenhaft die frühen und späten Inspirationsquellen und gibt immer wieder Abrisse über Hintergründe, Lektüren, frühere Stadien, aber derlei wird eher kurz am Wegrand aufgetürmt und selten vertieft.

Überhaupt legt Jones Biographie zumeist ein straffes Tempo vor, schafft es so allerdings, das Hin und Her von Lucas jahrzehntelangem Kampf für ein eigenes, unabhängiges Studiogelände, seine Vision von Kino, die Perfektionierung seiner Werke zu verkörpern. Auf diesem Wege gelingt dem Buch auch das Einfangen von Lucas zurückhaltendem, teilweise sehr eigenbrötlerischem Charakter.
Etwas überstrapaziert wird die Einbindung von Wortmeldungen von Weggefährt*innen, Freund*innen und sonstigen Beteiligten (über das ganze Buch verteilt gibt es über 1500 Quellenhinweiszeichen, die zu einem umfangreichen Register gehören und fast alle auf wörtliche Aussagen in Interviews, Dokumenten, Biographien, etc. verweisen). Natürlich ist das Zusammentragen einer so umfangreichen Meinungssammlung verdienstvoll und in den vielen Zitaten spiegelt sich das Bild von George Lucas in all der Vielschichtigkeit wieder, die eine Biographie bei einem Menschen herausarbeiten sollte. An einigen Stellen ist die Redundanzdichte aber wirklich zu hoch.

Der Biographie geht es auch weniger um Lucas Faszination, mehr um die enormen Widerstände, technischen Hindernisse, zwischenmenschlichen Probleme und Schwächen, die in Lucas Person und Werkgeschichte eine zentrale Rolle spielen; sie werden geradezu minuziös ausgebreitet. Mitunter hat man das Gefühl, Jones hat an sich selbst den Anspruch gestellt, eine dezidiert kritische Arbeit vorzulegen. Auch wenn er Lucas Verdienste und Erfolge betont und illuminiert, lässt er keine Gelegenheit aus, um auf Niederlagen, Fehler oder die Schrulligkeit des Portraitierten einzugehen.

Das ist vielleicht auch der Tatsache geschuldet, das Lucas, obwohl er der Schöpfer von Star Wars und Indiana Jones ist, kein wirklich aufregendes Leben hatte und die Dramatik aus dem geschaffen werden muss, was da ist. In relativem Wohlstand geboren und nie vor wirklich existenzbedrohende Entscheidungen gestellt (auch wenn er manchmal enorme Risiken einging, von sich aus), nie auf der Suche nach allzu großen Abenteuern, ist Lucas Leben die Geschichte eines mutigen, aber doch nicht tollkühnen, Visionärs, der durch Glück und Hartnäckigkeit zum Schaffer einiger popkulturell sehr bedeutsamer Ideen und Figuren wurde.

Alles in allem ist die Biographie ein schöner Schmöker. Ich hatte mir schon erhofft, gerade im letzten Kapitel ein wenig über Lucas Treatments für die neueren Filme zu erfahren (auf die Disney ja dann nicht zurückgriff) oder über seine Einstellung zum EU und dem Star Wars Franchise. Doch gerade in den letzten Kapiteln geht es vor allem um die Skywalker-Ranch und die Formalitäten beim Verkauf an Disney und Lucas neuste Projekte, seine derzeitige Lebenssituation.

Doch, und das ist schon wichtig zu betonen: Jones ist hier ein sehr authentisches Porträt gelungen – was man schon daran sieht, dass es eben nicht in jedem Moment vor Spannung sprüht. Gewissenhaft geht er vor, im richtigen Moment mit Witz, Anekdoten oder Differenzierungen punktend. Alles in allem also: der geballte George Lucas, unverstellt, ein ungeschönter Gesamteindruck.

Zu der Ausgabe “Gesammelte Werke” von Jack London beim Anaconda Verlag


Die gesammelten Werkausgaben von Anaconda sind ja manchmal kleine Mogelpackungen – wo es bei Schriftstellern wie Edgar Allan Poe, William Shakespeare, Franz Kafka und Heinrich Heine durchaus möglich ist, alle Hauptwerke in einem Band zu versammeln, wird man bei Friedrich Nietzsche, E.T.A. Hoffman, Mark Twain oder Stefan Zweig eher stutzig werden, wenn ein Band ihr Hauptoeuvre fassen soll (auch wenn speziell die Ausgaben von Hoffman und Zweig dennoch sehr zu empfehlen sind). Ähnlich verhält es sich mit Jack London, der eine große Anzahl von Romanen und Kurzgeschichten geschrieben hat, die ebenfalls in einem Band schwerlich Platz finden können. Vielleicht wäre es bei solchen Autoren besser von “Ausgewählten Werken” zu sprechen.

Gerade bei Jack London wäre diese Titelwahl noch aus einem zweiten Grund angebracht. Denn dieser Schriftsteller ist nach wie vor hauptsächlich als Verfasser von Abenteuergeschichten, zu Lande und zur See, bekannt; bei seinen Figuren hat man meist Glücksritter und verwilderte Sonderlinge, Wölfe und Halunken vor Augen. An diesem Bild halten auch viele Werkzusammenstellungen fest (zum Beispiel die (dennoch empfehlenswerten) Meistererzählungen bei Diogenes oder eben diese Werkzusammenstellung bei Anacaonda), die ihre „Auswahl“ entsprechend treffen.

Dabei war Jack London ein äußerst vielschichtiger Autor. Erzählbände wie Die Geschichte vom Leopardenmann knüpfen an die phantastischen Erzählungen von Edgar Allan Poe an (und es lassen sich erste Anklänge von Science-Fiction darin finden), mit König Alkohol hat London eines der erschütterndsten Portraits eines süchtigen Menschen verfasst, sein Roman Martin Eden ist meiner Meinung nach einer der besten Entwicklungsromane überhaupt, spätere Bücher wie Die Zwangsjacke beleuchteten komplexe existenzielle Situationen (sein letzter Roman Das Mordbüro kombiniert dies wiederum mit phantastischen Elementen) und seine politischen Essays setzten sich mit den damals aktuellen Problemen der Arbeiterschaft und dem Sozialismus auseinander.

Viele dieser Aspekte werden in Werkzusammenstellungen unterschlagen und das sollte zumindest bekannt sein. Warum ich diese Werkzusammenstellung trotzdem empfehle? Zum einen, weil sie für eine Einband-Werkausgabe wirklich sehr leser*innenfreundlich ist: kein zu dünnes Papier, trotzdem nicht zu schwer und die Texte sind nicht auf die Seiten gequetscht, sondern werden in einer guten Schriftgröße und mit gutem Zeilenabstand präsentiert; auch das Wort- und Sacherklärungsregister am Ende ist hilfreich. Und zum anderen, weil sie für all denjenigen, die Jack London als Abenteuerschriftsteller schätzen, tatsächlich die besten Stücke versammelt.

Der Inhalt deckt sich dabei fast komplett mit der ebenfalls bei Anaconda erschienenen vierbändigen Schuberausgabe Jack London – Romane und Erzählungen. Enthalten sind die beiden Romane Wolfsblut und Ruf der Wildnis, in denen ein Wolf bzw. ein Wolfshund der Protagonist ist, sowie der großartige Roman Der Seewolf über den rauen, egomanischen Haudgegen Wolf Larsen (quasi ein reflektierter Captain Ahab). Dieses Buch, eine Auseinandersetzung mit der Figur des übermenschlichen, unantastbaren, nihilistischen Charakters, wird nach wie vor von vielen unterschätzt, die es nicht gelesen haben; es besitzt eine große philosophische Dimension. Zuletzt dann noch eine Auswahl von vierzehn Nordland-Storys, in denen die pure Lebensnähe, die Londons Abenteuer-Erzählungen nach wie vor lesenswert macht, an jeder Ecke spürbar wird.

Jack London war ein intelligenter Autor mit hohen ästhetischen Ansprüchen, nur verabscheute er die reine Schöngeistigkeit. Das Leben, um das Leben musste es gehen; und nicht um das Leben der Hochgeborenen oder Wohlbetuchten. Sondern um das Leben, das sich mit der Natur und mit dem Tod jederzeit auseinandersetzt. „Der Mensch ist gemacht, damit er lebt; nicht damit er existiert. Ich werde meine Tage nicht damit vergeuden, daß ich sie zu verlängern suche. Ich werde meine Zeit gebrauchen“, schrieb London. Seine Werke sind ein Versuch, das Leben in die Literatur zu bringen, vom Unbarmherzigen und Menschlichen zu erzählen. Das gelang ihm des öfteren und es gelingt ihm auch in den Werken dieser Ausgabe. Und auch die Unterhaltung wird dabei nicht zu kurz kommen.

Eine letzte Empfehlung noch zu Jack London: wer sich mit dem Autor etwas auseinandersetzen will, der sollte sich Wilde Dichter: Die größten Abenteurer der Weltliteratur zulegen.