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Zu “Ich erwarte die Ankunft des Teufels” von Mary MacLane


Ich erwarte die Ankunft „Ich, neunzehn Jahre alt und im weiblichen Geschlecht geboren, werde jetzt, so vollständig und ehrlich wie ich kann, eine Darstellung von mir selbst verfassen, Mary MacLane, die in der Welt nicht ihresgleichen kennt.“

Auch der Titel eines Spielfilms aus dem Jahr 2019 wäre wohl ein brauchbarer Titel für dieses wiederentdeckte Werk von Mary MacLane aus dem Jahr 1902 (übersetzt und mit einem Nachtwort von Ann Cotten + einem Essay von Juliane Liebert) gewesen: „Portrait einer jungen Frau in Flammen“.

Denn nicht mehr und nicht weniger ist dieses Buch: eine flammende und knisternde, sich selbst in Ansätzen verzehrende und auf alle Bestandteile der Welt übergreifende Selbstverortung einer jungen 19jährigen, die sich zu größerem als dem vor ihr, in Landschaft und Gesellschaft, ausgebreiteten Dasein berufen fühlt und schier platzt vor Bedürfnissen und dem Wunsch nach Erfahrungen, die es mit der Spannung, den Bewegungen in ihrem Geist aufnehmen können.

„In mir trage ich den Keim eines intensiven Lebens. Wenn ich leben könnte, und wenn es mir gelingen könnte, mein Leben aufzuschreiben, würde die Welt seine schwere Intensität spüren.
Ich habe die Persönlichkeit, die Anlagen eines Napoleon, wenngleich in einer weiblichen Version. […]
Kann ich sein, was ich bin – kann ich ein seltsames, seltenes Genie besitzen und doch mein Leben verborgen in diesem ungehobelten, verzerrten Städtchen in Montana fristen?“

In Tagebuchform breitet Mary MacLane vor uns ihr Leben aus. Wobei, es ist weniger ihr Leben, es sind vielmehr ihre Vorstellungen, die in ihrer überbordenden Art nur dann und wann auf den schmalen Raum zurückweisen, der ihr im ländlichen Montana im Jahr 1901 zum Leben gegeben ist und den sie mit allen Zügen ihrer Philosophie und ihrer Gedanken und Hoffnungen zu verlassen sucht.

Fast phänomenologisch muten ihre teilweise ins Gewaltige gehenden, dann wieder manisch an einem kleinen Gegenstand oder Gedanken hängenden Eintragungen an, manchmal erscheinen sie eher wie Gesänge, ja, wie ein Anti-Walt-Whitman-Gesang, ein Gesang von einem Ich, das sich nicht auflöst und niederschlägt in den amerikanischen Städten und Landschaften, sondern diese mit seinem Geist, seinem Wesen übertrumpfen, überflügeln will.

„Sie dürfen das Bild vorne in diesem Buch betrachten und bewundern. Es ist das Bild eines Genies – eines Genies mit einem guten, starken, jungen Frauenkörper, – und im Inneren des abgebildeten Körpers befindet sich eine Leber, eine MacLane-Leber, von bewundernswürdiger Perfektion.“

In mancherlei Zügen habe ich mich an Emmy Hennings „Brandmal“ oder auch, sehr viel entfernter, an manche Passagen bei Djuna Barnes erinnert gefühlt. Wobei der Vergleich mit Hennings noch am ehesten greift, da in beiden Büchern das Ausleben der Selbstbeschreibung/-erschließung, der Versuch, das eigene Innenleben als das Leben, das Lebendige schlechthin abzubilden und zu propagieren, bis zur Erschöpfung betrieben wird.

In MacLanes Tagebuch noch erschöpfender als bei Hennings. Die ausufernden und gleichsam immer wieder um fixe Ideen kreisende Wucht des Textes trägt dabei durchaus repetitive, beschwörende Züge, als würde die Autorin ein einziges langes Plädoyer zur Verteidigung ihrer Gefühle und Ansprüche halten und dabei eine eigene, ciceronische Rhetorik entwickeln. Auch manche Motive sind in diese Wiederholungen eingespannt: ihre Leber bspw., die sie immer mal wieder erwähnt und der Teufel, den sie als eine Art besseren Schöpfer inszeniert und dem sie sich, teils spielerisch, teils ernsthaft, andient; auf dessen „Ankunft“ sie wartet, da mit ihm, so hofft sie, eine neue Freiheit in ihr Leben Einzug hält.

„Die Welt besteht hauptsächlich aus nichts. Davon kannst du dich überzeugen, wenn ein bitterer Wind deine falschen Vorstellungen davongefegt hat.“

Es gibt großartige Passagen, zum Beispiel einen Abschnitt, in dem sie in vollster Zufriedenheit von ihrem Essen, einem Steak und ein paar Zwiebeln, erzählt und in denen auch eine kompromisslose Komik durchscheint. Letztlich steht im Zentrum dieser zweihundert Seiten, inmitten dieses geballten Manifests von der Notwendigkeit einer Perspektive, einer Aussicht auf etwas, jedoch die Verzweiflung. Wo MacLanes Schreiben ein Feuer ist, rauchen Verzweiflung und Einsamkeit daraus hervor – und sind gleichsam das Brennmaterial, an dem sich das Feuer entzündet.

Ist das Buch als Dokument oder auch als Literatur wertvoll, diese Frage könnte sich für manche Leser*innen stellen, die mit einer zweihundertseitigen Rekapitulation der eigenen Bestimmung im Jahr 1901 nicht viel anfangen können. Ich glaube, man muss tatsächlich die poetischen (und teilweise die humoristischen) Aspekte des Buches schätzen (lernen), um wirklich Genuss bei der Lektüre zu empfinden.

Aber natürlich ist das Werk auch ein Dokument und muss auch als solches gesehen werden – als Portrait eines Individuums, geboren in die Zwänge einer Zeit und einer Gesellschaft, mit ihren Idealen und Vorstellungen, das versucht, seinen Status als Individuum auf irgendeinem Weg Geltung zu verschaffen, hier vor allem durch die Niederschrift, durch die Gestaltung des eigenen Mythos. Ein Thema, das auch in unserer Zeit nichts von seiner Sprengkraft eingebüßt hat, sondern, im Gegenteil, wohl eine Art ewiges Narrative darstellt, wenn man sich die „Weltliteratur“ anschaut.

Teilweise wirkt das Buch naiv in seiner Unbedingtheit, aber gerade diese „Naivität“ hat auch etwas Erfrischendes, Unumgängliches.

„Wenn ich vierzig bin, werde ich mich auf mich selbst zurückblicken und auf meine Gefühle mit neunzehn – und ich werde lächeln.
Werde ich wirklich lächeln?“

Walt Whitmans großartige Grashalme


“Bleibe nur diesen Tag und diese Nacht bei mir, und du
sollst den Ursprung aller Gedichte erfassen!
Du sollst das Gut der Erde und der Sonne haben (Millionen
von Sonnen sind noch übrig),
du sollst die Dinge nicht mehr aus zweiter oder dritter
Hand nehmen, auch nicht durch die Augen der
Toten sehen und dich nicht nähren von den
Gespenstern in Büchern;
Du sollst auch nicht mit meinen Augen sehen, noch die
Dinge von mir empfangen,
Du sollst Horchen nach allen Seiten und sie alle durch dich selbst filtrieren!”

Ein Freund von mir (danke Holger!) brachte mich dazu noch einmal nach langer Zeit zu diesem Werk zu greifen.

Borges meinte einmal, dass jeder große Schriftsteller ein Symbol geprägt habe und auch prägen müsse, weil es ansonsten ganz unerheblich sei, ob er gut schriebe oder nicht, er würde dann die Zeit nicht überdauern: Kafkas Labyrinthe; Cervantes Gestalt Don Quijote, mitsamt Gefährte Sancho Pansa und den Windmühlen; Melvilles weißer Wal Moby Dick. Doch Borges nennt stets auch ein Ausnahme: Wald Whitman, der kein Symbol geprägt habe (außer vielleicht das Bild der Grashalme), sondern selbst zu einem geworden sei.

“Ochsen, die ihr mit dem Joch und der Kette rasselt oder
unter schattigem Blätterdach haltet, was ist es, das
ihr in euren Augen ausdrückt?
Es scheint mir weit mehr als alles Gedruckte, das ich in
meinem Leben gelesen.”

Whitman ist ein Rufer des Lebens. Dies, was uns durchpulst, unser Maß, doch aus der Aufmerksamkeit geputzt, oft verbannt aus unserer Mitte, benutzt, analysiert, systematisiert und verbogen, will er uns wieder nahebringen. “Das Alles” ruft er uns aus seinen Zeilen zu, ist das Leben, alles was an Wunderbarem zu greifen ist, in unser Nähe geschieht, jedes noch so kleine Wunder, das uns kurz umgibt, jede noch so einfache oder schwierige Tätigkeit, jeder Name, jede Periode unseres Lebens und der Ewigkeit. Whitman steht außerhalb jeder literarischen Tradition, weil er in der Tradition des Lebens wandelt.

“Alle Wahrheiten harren in allen Dingen,
sie haben’s nicht eilig mit ihrer Befreiung, noch
widerstehen sie ihr,
Sie bedürfen nicht der Zange des Geburtenhelfers.
Das Unbedeutende ist mir so wichtig wie irgendetwas.
(Was ist weniger oder was ist mehr als eine Berührung?)”

Die Grashalme sind Musik, sind Hymne, aber auch philosophischer Sturm, in dessen Wind das Flüstern der kleinen Wahrheiten und die große Potenz der Wirklichkeit an unser Ohr schwebt: “Die Uhr zeigt die Minute – aber was zeigt die Ewigkeit?”
Pathos ist bei solchen Gesängen ja eigentlich schwer zu umgehen; aber, o Wunder, gerade das würde man nie über die Grashalme sagen, dass sie pathetisch seien, zu sehr erkennt man sich selbst in der einen oder anderen Liebe, in dem ein oder anderen Halm. Es bleibt das Gefühl einer natürlichen, nie zu schnellen, nie zu langsamen Bewegung, die immer in die eigene Erweckung schreitet, hierhin zeigt, dies aufdeckt, jenes nacherzählt.

“Meinst du, ich möchte Erstaunen erregen?
Erregt denn das Tageslicht Erstaunen? Oder der
frühmuntere Rotschwanz, der durch die Wälder
zwitschert?
Errege ich mehr Erstaunen als diese?”

Die von mir zuletzt gelesene Ausgabe beim Anaconda Verlag umfasst einige Gedichte aus den “Trommelschlägen” (dies Impressionen aus den Jahren des Bürgerkriegs, z.B. ein in Worten gemaltes Bild von Kavallerie, die ein Furt durchquert); dann, über 60 Seiten, also ein Drittel des Buches, einen Ausschnitt aus dem gewaltigen “Gesang von mir”, einem Text, halb Gesang, halb Erzählung, voller Ansichten und Verherrlichungen, voller Schönheit und immer wieder sinnlich-geistreich; des Weiteren noch viele andere, auch kleine Gedichte, meist ein-zwei Seiten lang, aus dem Spätwerk, die meist neben dem “Gesang von mir” entstanden.

“Hier oder fortan, mir ist es gleich, ich vertraue der Zeit unbedingt.
Sie allein ist ohne Unterbrechung, sie allein rundet und
vollendet alles,
Dies Mystisch verwirrende Wunder allein vollendet alles.”

Vielleicht ist dies die letzte Botschaft Whitmans: Alles vollendet sich von selbst, es hat keinen Sinn Krieg zu führen, zu hetzten, sich von irgendetwas auffressen zu lassen. Letztendlich geht das Leben seine Wege und man sollte ihnen folgen, man sollte sein Glück machen, die Augenblicke haben – seine Stimme flüstert: Das Leben ist dies alles, was versuchte außerhalb zu sein, sich davor zu retten, sich darin zu verstecken, es gibt nur dies und das ist das Großartige! Es gibt die Welt, die Welt als das Ding, dass sie ist, Geheimnis ist sie und doch so wach, so wach ist das Geheimnis, das sollten wir erkennen: und wir gehören dazu.

“Seht ihr, o meine Brüder und Schwestern?
Es ist nicht Chaos oder Tod, es ist Form, Einheit,
Bestimmung, ist ewiges Leben – ist Glückseligkeit.”