I – Die Vorzüge der Windhühner (1956)
“Brüder, Brüder, alle ihr Magenkranken,
die ihr da salzlos und von Gedichten lebt,
niemand, kein Uhrmacher will mehr die Sanftmut,
eine törichte Spieluhr reparieren.”
Günter Grass erste Publikation überhaupt war eine lyrische und er hat immer wieder betont von der Lyrik gekommen zu sein – was man ja in der Prosa auch deutlich spüren kann; er ist ein Poet, manchmal ein allzu bemühter und brachialer, doch seine besten Werke halten sich die Waage zwischen Prosa und Lyrik.
So sind natürlich auch diese ersten Gedichte, sozusagen im Gegenzug, voller Prosaelemente und tragen erzählerische Züge. Gottfried Benn, so erfuhr Grass später (berichtet in dem bei Suhrkamp erschienenen Interviewband “Das erste Buch“), hatte in den Gedichten bereits einen Erzähler erkannt, als Grass mit seinem Blechtrommelmanuskript noch in den Anfängen steckte.
“Die Tage schrumpfen, Äpfel auf dem Schrank,
die Freiheit fror, jetzt brennt sie in den Öfen,
kocht Kindern Brei und malt die Knöchel rot.”
Ist Grass ein guter Lyriker? Ein eindeutiges Ja. Doch leider einer, der nicht immer gute Gedichte schreibt. Denn ist ein gutes Gedicht ein Gedicht voller Kontraste, voller Bilder- und Wortschöpfungen, jedoch auch voller Blendwerk und Hermetik? Wenn ja, dann gelängen Grass fast nur hervorragende Gedichte. Sollte die Definition von einem guten lyrischen Werk allerdings ein halbwegs verständliches und trotzdem tiefsinniges/stimmiges/philosophisches Gedicht bedeuten, dann gelingt ihm ein solches zwar in regelmäßigen Abständen, aber eindeutig nicht immer.
Grass Credo scheint gewesen zu sein, sich ganz seiner Idee von einem Gedicht, von Poesie hinzugeben, was mal positive, mal negative Aspekte hat. Bei vielen Texten wirken die Zeilen wie einzelne, lyrische Windstöße:
“Versuche mit Tinte,
Niederschriften mit Rauch
halb erwacht
im Dickicht süßer Gardinen.
Die Straße, den Notverband wieder aufgerollt,
weil die Wunde juckt,
weil die Erinnerung sich stückeln lässt und längen,
so eine Katze unterm Streicheln.”
“Spiegel üben laut Natur”
“Vorsicht, der Wind schläft in Tüten.”
Was ja nicht schlecht ist, und auch nicht frei von poetischem Entzücken. Und natürlich ist auch nicht jedes Gedicht so lyrisch-schwirrend. Aber die Texte dieser Art überwiegen doch.
“Kinder, noch nicht, oder schon, oder fast, wenn nicht zuvor
– viele werden gezeugt, ein Teil geboren,
können nicht mehr zurück, es sei denn,
sie finden das Streichholz oder ein einsilbig Messer. –
Anna, Anna, Anna, eben trankst du noch Milch,
jetzt fließt du rot und davon.”
Es gibt bereits ein paar gute Gedichte, es gibt ein paar perfekte Zeilen. Mehr können die meisten Dichter nicht liefern und mehr sollte man auch wohl nicht von ihnen verlangen. Sprachlich ist Grass immer noch, und war es schon zu Anfang, ein eigenwilliger Virtuose. Wer diese Virtuosität in der Lyrik schätzt, kann sich heranwagen; wem diese (angebliche) Bedeutsamkeitshudelei immer schon gestunken hat, der wird sich hier nur bestätigt finden und die kleinen Geniestreiche vermutlich übersehen.
“Wir warten den Regen ab,
obgleich wir uns daran gewöhnt haben,
hinter der Gardine zu stehen, unsichtbar zu sein.”
II – Ausgefragt (1967)
“Ohnmacht, dein Nadelöhr ist der Gesang.”
“Mein großes Ja bildet Sätze mit kleinem Nein.”
“Ohne Kehrseite
doch rückversichert,
immer ein bisschen ich.”
[…]
“Ein leeres Haus im Rücken
und die Gewissheit trocknender Strümpfe;
draußen mühen sich altbekannte Gewitter ab.”
Günter Grass dritter Gedichband ist ein wahres Meisterwerk der virtuosen Sprachbilder; über weite Flächen kann man der Kraft seiner Bilder, dem Fluss seiner Kontraste kaum widerstehen oder entgehen.
“Und deine Hoffnung? – Log die Wüste grün.
Und deine Wut? – Sie klirrt als Eis im Glas.
Die Scham? – Wir grüßen uns von fern.
Dein großer Plan? – Zahlt sich zur Hälfte aus.
Hast du vergessen? – Neuerdings, mein Kopf.
Und die Natur? – Oft fahr ich dran vorbei.
Und die Menschen? – Seh ich gern im Film.
Sie sterben wieder. – Ja, ich las davon…”
Man kann auf viele verschieden Arten gute Gedichte schreiben und bis zu diesem Gedichtband dachte ich, Grass Stärke liege in kurzen, komprimierten Gedichten; nach der Lektüre von “Ausgefragt” bin ich bereit zu glauben, dass die Stärke seiner besten Dichtungen aus der Kombination seiner im eigenen (in der Prosa oft lyrischen, in der Lyrik eher epischen) Virtuosität und dem Einfallsreichtum seiner Sprach- und Bildassoziationen erwächst. Grass hat, dass muss man nach der Lektüre dieses Bandes absolut eingestehen, ein Händchen für lyrische Intonationen – hier kombiniert er sie dann und wann zusätzlich noch mit dem Aspekt des Wort- und Formspiels, was den Texten eine nicht ganz so bitter ernste oder verkopfte Note gibt, wie sich bei Grass sonst oft einschleichen kann.
“Neue Standpunkte fassen Beschlüsse
und bestehen auf Vorfahrt.
Regelwidrig geparkt, winzig,
vom Frost übersprungen,
nistet die Armut.
Ihr ist es Mühsal, Beruf,
die Symmetrie zu zerlächeln:
Alles Schöne ist schief.
Uns verbinden, tröste Dich,
ansteckende Krankheiten.
Ruhig atmen – so –
und die Flucht einschläfern.
Jeder Colt sagt entwederoder…”
In diesem Band taucht des weiteren auch erstmals eine andere Seite des Dichters Grass stark und unverhüllt auf: sein schriftstellerisches Engagement, das stark auf seine Lyrik übergreift; so nehmen sich manche Zeilen aus, als könnten sie von Brecht oder auch von Erich Fried stammen:
“Wir lesen Napalm und stellen und Napalm vor.
Da wir uns Napalm nicht vorstellen können,
lesen wir über Napalm, bis wir uns mehr
über Napalm vorstellen können.
Jetzt protestieren wir gegen Napalm.
[…]
Aber es gibt, so lesen wir,
Schlimmeres als Napalm.
Schnell protestieren wir gegen Schlimmeres.”
Die Zahl der enthaltenen Gedichte ist allerdings nicht besonders groß, doch immerhin hat der größte Teil davon etwas Zeitloses und wirkt, trotzdessen jeder der Texte schon ca. 45 Jahre alt ist, sehr unverbraucht. Viele könnten auch heute geschrieben werden und viele sind es wert wieder gelesen zu werden und nicht in Vergessenheit zu geraten.
“Schreib keinen Brief,
Brief kommt ins Archiv.
Wer den Brief schreibt,
unterschreibt,
was von ihm einst überbleibt.”
Ich empfehle den Lyriker Grass mit diesem Band kennen zu lernen. Viel von diesem Schriftsteller kann man getrost zum Teufel jagen – umso wichtiger nicht in eine Verallgemeinerung zu verfallen und sich zu greifen, was an Gutem zu haben ist.
“wenn um den Fußball Urlauber zelten
und der Nation verspielter Blick
große Entscheidungen spiegelt,
wenn Zahlenkolonnen den Schlaf erzwingen
und durch die Träume getarnter Feinde
atmet, auf Ellbogen robbt,
wenn in Gesprächen immer das gleiche Wort
aufgespart in der Hinterhand bleibt
und ein Zündhölzlein Mittel zum Schreck wird,
wenn sich beim Schwimmen in Rückenlage
himmelwärts nur der Himmel türmt,
suchen die Ängstlichsten rasch das Ufer,
liegt plötzlich Angst in der Luft.”
III – Fundsachen für Nichtleser (1997)
“Das Glück, so heißt es, ist eine Fundsache.”
“Alles, was abseits der Buchstaben
wie von Sinnen ins Auge fällt:
dieses Dingsda,
krumme Nägel oder Krümel,
die ein Radiergummi hinterließ.”
Gedichte und Aquarelle enthält dieser Band, der zu Grass 60tem Geburtstag erschien.
Nur Gedichte in den Größenordnungen von 3-10 Zeilen, dazu Buntes bis Graues. An der kurzen Leine hält Grass hier seine Worte, ebenso wie den Anspruch und es hat im Gut getan, nicht um Bedeutung zu ringen.
Ich hatte schon während der Lektüre vorheriger Gedichtbände den Verdacht, dass Grass ein Meister der kurzen Form sein könnte. Und wahrlich er ist es. Diese netten kleinen Streifzüge durch Gedanken-, Phantasie- und echte (erinnerte) Welten, sind schön, manchmal geistreich, sowohl lyrisch, als auch erzählend, und auf einzigartige, verschrobene Weise sogar subtil.
“-Jeden Morgen-
begegnet mir, auf dem Weg zur Heide,
ein Ameisenberg, dem ich nicht begegne,
denn er setzt seinen Betrieb fort
und hört nicht auf mein Krisengerede.”
Ich kann nur jedem raten seine Begegnung mit dieser beschaulichen Sammlung von Kurzgedichten nicht länger herauszuschieben; egal ob sie nun alle wahr sind oder doch gelogen.
“-Meine alte Olivetti-
ist Zeuge, wie fleißig ich lüge
und von Fassung zu Fassung
der Wahrheit
um einen Tippfehler näher bin.”
Kurz und knapp: Zusammen mit “Ausgefragt” die beste lyrische Arbeit von Grass. Zum Blättern, Vertiefen, Überfliegen und Zitieren. Eine wirklich gute, irgendwie auch erstaunliche Sammlung!
“-Für dich-
Meine leeren Schuhe
sind voller Reisepläne
und wissen Umwege,
die alle zu dir führen.”
IV – Letzte Tänze (2003)
Die letzte gute lyrische Arbeit von Grass – seine Hommage an die Symbiose des Tanzes mit eigenwilligen Einschlägen. Teilweise fast zärtlich.
“Der Herr knickt die Dame,
nein, biegt sie, so beugsam die Dame,
der Herr gibt sich steif.
Zwei Körper, die eins sind, doch nichts
von sich wissen, geschieden in Treue,
in Treue vereint.
Die Hand in der Beuge, gedehnt tropft die Zeit,
bis plötzlich die Uhr schlägt:
fünf eilige Schritte.
[…]
Das ist der Tango, die Diagonale.
Aus Fallsucht zum Stillstand.
Ich höre dein Herz.”
Ich denke dieser Teil aus Tango Nocturne kann sehr gut die Feinheiten der grassschen Lyrik anklingen lassen. Sie liebt das Bildhafte, scheut aber stets das Offensichtliche; sie hemmt das Begreifen ab und gibt doch jede Zeile ein bisschen mehr davon in die lyrische Aufnahme.
“Erklären lässt sich vieles, doch das Ohr will Fakten,
der Priester nuschelt was von nackten
und solchen, die sich modisch kostümieren,
will hören, ob mit Menschen, ob mit Tieren,
was sonst noch ruchbar ist in staubergrauten Akten.”
Klar, Grass wäre nicht Grass wenn er nicht immer wieder provozieren und anecken würde, mit Spott, mit in der Kollekte der Zeit nachhallenden Metaphoriken, übertrieben hier, ungenau dort, auch mit dem Drang sich zu profilieren, aber ebenso mit einer Idee von Wahrheit, die man ihm nicht absprechen kann; die aber wiederum mehr in den feineren Zügen liegt, als in den grob gekachelten Anklagen – wobei auch die manchmal den Nagel treffen, der uns lange vor dem Haupte saß.
“Altes Europa! Nach so viel Walzer- und Waffenexport,
schaust du tränenblind zu.”
Und Grass wäre nun mal auch kein großer Lyriker und Erzähler, wenn er nicht seinen ganz eigenen Ton hervorgebracht hätte. Seine lyrischen Werke sind eigenwillig und dabei vielfältig, von den genialkurzen Gedichten in Fundsachen für Nichtleser, über die bestechende Sammlung Ausgefragt, bis hin zu Anfang, dem Debüt, mit dem man vielleicht beginnen sollte, um Grass Metaphorik und Lyrik zu erreichen: Die Vorzüge der Windhühner. Keine dieser Sammlungen ist veraltet, was für lyrische Werke aus dieser deutschen Periode schon eine Seltenheit ist.
Letzte Tänze ist ein rein künstlerisches Produkt, eine Symbiose aus Zeichnung und Vers, ein wunderbares Buch und Werk, um es immer wieder hervor zu nehmen und die unterschiedlichsten Texte darin zu lesen. Würde man dieses Buch in hundert Jahren in einem Antiquariat finden, ich wette man wäre als Leser und Betrachter gleichermaßen angetan. Warum aber so lange warten?