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Austers “Leviathan”


Der Leviathan ist eigentlich ein Ungeheuer aus der Mythologie des Zweistromslandes, eine riesige Wasserschlange, mit biblischer Zerstörungskraft. Bekannter und für die westliche Geisteswelt von größerer Bedeutung ist jedoch das, nach diesem Ungetüm benannte, Buch aus dem 17. Jahrhundert (Der Leviathan), geschrieben von dem Mathematiker und Philosophen Thomas Hobbes. Es ist ein politik-/staatsphilosophisches Werk, der Form und dem Grundwesen nach ähnelt es dem Buch Der Fürst von Machiavelli oder Rousseaus Gesellschaftsvertrag – genau wie diese ist es weniger eine konkrete Ausarbeitung eines Staatsapparates, als vielmehr eine Abhandlung über der menschlichen Natur und wie der Staat (also die Gemeinschaft der Menschen) dieser Natur in seinen Mechanismen und Aufgaben Rechenschaft zollen muss. Hobbes sah den Menschen als ein sehr düsteres Wesen, das stets nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht und eigentlich nicht für ein Zusammenleben geeignet ist. Deswegen muss der Staat, als allmächtiger Leviathan (in der Mythologie kann kein Mensch die Macht des Leviathan brechen) dafür sorgen, dass seine Instanz die Menschen und ihre Natur stets kontrolliert und sie davon abhält, übereinander herzufallen. Dazu sind dem Staat kaum Beschränkungen auferlegt, solange die Sicherheit gewahrt bleibt und Chaos, Anarchie und Verbrechen vermieden oder zumindest bestraft werden können. Dies wird von Hobbes nicht nur als Notlösung, sondern als höchste ideele Möglichkeit des Staates angesehen.

Es ist interessant wie viele Künstler sich auch danach noch mit dem Leviathan-Motiv beschäftigt/es aufgegriffen haben. Julien Green zum Beispiel (Leviathan) und Joseph Roth. Aber auch Arno Schmidt hat eine seiner wichtigsten Erzählungen nach dieser doppeldeutigen Idee benannt. Dabei ist den Texten von Schmidt und Green eigen (den von Roth kenne ich leider nicht), dass sie nur sehr unkonkret auf das Phänomen, das ihren Werken den Titel gab, eingehen – oder anders gesagt: nur der Titel schafft die Verbindung zwischen der Idee des Leviathans und dem Text, obwohl sie dann ganz offensichtlich oder zumindest naheliegend ist. Überhaupt hat diese Idee, in abgewandelter, libertinärer Form, etwas sehr modernes, in Zeiten des Internets, des organisierten Terrorismus und solchen Gesetzen wie dem Patriot Act, etc.

Paul Auster ist bisher der letzte große Autor, der sich mit diesem Thema beschäftigt hat, obwohl bei ihm der Titel während und nach der Lektüre schon fast als ein Rätsel auftritt, als etwas Nebulöses, schon beinahe unkenntlich gemacht. Das mag enttäuschend sein, aber nur wenn man konkrete Erwartungen hegt. Und das Paul Auster aus so einem Motiv keinen hochgestochenen Verschwörungsthriller, sondern eine zutiefst ambivalente, menschliche Geschichte gemacht hat, ist ihm letztlich sogar hoch anzurechnen. Dadurch wirkt das Buch zwar manchmal auch etwas unentschlossen und nicht gerade zielstrebig, was aber wiederum zu der Geschichte passt.

Trotzdem sei dies schon mal klar in den Raum gestellt: Wer nicht in die Beschaffenheit/Welt eines Buches, mit all seinen Abzweigungen, Änderungen am Grundthema und dem Verschieben der Perspektiven, eintauchen kann, ist mit diesem Werk wahrscheinlich schlecht beraten. Dabei ist es nicht mal ein sonderlich kompliziertes Buch. Aber, und dies hat auch mit den fiktiven Begleitumständen der Niederschrift des Berichtes, aus dem das Buch besteht, zu tun: es ist ein eher unordentliches, nicht gerade lineares Werk – bewahrt sich dadurch allerdings eine stille, dem Leben angeglichene Authentizität.

Wie nicht selten bei Auster beginnt das Buch mit einer Ausgangslage, die das ganze spätere Werk auf gewisse Weise prägt, weil sie im Kern Form und Rahmen der ganzen Erzählung bereits festlegt. In diesem Fall ist es der Anfang eines Bekenntnisses oder eines Berichts, beginnend mit den Worten: “Vor sechs Tagen hat sich im nördlichen Wisconsin ein Mann am Rande einer Straße in die Luft gesprengt.” Ein Satz wie Dynamit. Und doch auch sehr rätselhaft; schon dieser erste Satz wirft einen Schatten über das ganze Buch. Es folgt, wider erwartend, keine reißerische, bunt gefächerte, sondern die zutiefst menschliche und erstaunlich wendungsreiche Geschichte eines Lebens, das zwischen Glück und Niedergang einen seltsamen Weg beschreitet und in dem das Schicksal einen raubbauhaften Einfluss betreibt. Das Buch und die Geschichte legen sich wenig fest, verändern oft die Prioritäten, haben ein-zwei Längen – und sind doch am Ende fast grandios.

Ein guter Roman baut einen Sog auf, dem man sich nicht mehr ganz entziehen kann – bei der (potentiell und zumeist) längsten literarischen Gattung, die wir kennen, ist das ja auch irgendwie überlebenswichtig. Dennoch ist der Sog unterschiedlich; bei einigen Büchern tritt er sofort zu Tage, bei anderen ist er kaum vorhanden, liegt weniger in der Spannung der Geschichte, dem Sturm der Ereignisse und offenen Fragen, als vielmehr in einer hartnäckigen Neugier, die das Geflecht und die Windungen des Romans bis zum Ende gehen will, die alles Erleben will, was der Roman in seiner inhärenten Beschaffenheit für sie bereithält. Leviathan ist ein Roman von letzterem Kaliber. Man darf das jetzt nicht so verstehen, dass er langweilig ist. Aber seine innere Konsequenz bleibt bis zum Schluss zum Teil im Dunkeln, beinah bis zur letzten Seite ist sie nicht ganz offensichtlich. Darin liegt wiederum der große Reiz des Romans: Man weiß nicht, wo er einen hinführt. Ein Zug, der ihn auf eine beinahe morbide Art lebendig macht.

Es gäbe sicherlich noch viel zu sagen, noch viel was eine Erwähnung wert wäre. Das Ende z.B., das auszudeuten bleibt, aber auch die vielen Grauzonen (Dinge aus zweiter Hand, Widersprüchliches) die unauffällig den Roman immer wieder begleiten (und zuletzt noch Austers ewiges Thema: der Zufall, der auch die Manifestierung des Leviathans sein könnte) – das alles ist nicht ganz festgelegt und lässt das Werk in seinen Dimensionen gleichsam wachsen und verschwinden. Doch was man ihm nicht absprechen kann, dass sind ein Gesamtkonzept, welches alles andere als uninteressant ist und eine unaufdringliche Klasse, die man während des ganzen Buches spüren kann. Wie gesagt, wenn ein wenig Geduld mit ihm hat, kann Auster einen immer wieder überraschen und in seinen Bann schlagen, auch in diesem Werk. Man muss sich darauf einlassen – oder eben nicht.

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*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen