Zu den Gedichten von Reinhard Lechner in “Erzähl mir vom Mistral”


„Eichen stellen ihre Nahrung um
auf ein leichteres Licht,

der Mensch am Meer entwirft sich in Wellen,
brandet gegen den anderen, entwirft sich wieder,

verkörpert ein Ganzes, das sich hinnimmt ins Kleine“

Der Mistral ist ein häufig auftretender Wind in Frankreichs Provence, der von Nordwest kommt, kühle Luft mit sich bringt und erstaunliche Geschwindigkeiten entwickeln kann. Er bedingt auch ein tiefes Dunkelblau am Tag und einen klaren Sternenhimmel in der Nacht.

So hat die Aufforderung „Erzähl mir vom Mistral“, die den Titel von Reinhard Lechners neustem Band bildet, eine magische Note, die etwas Drückendes, Drohendes und doch auch etwas Leuchtendes mit sich führt. Die Gedichte selbst sind ein bisschen auf dieses Magische ausgerichtet, greifen es auf, wo sie es finden können.

„Der Wagen läuft warm unter Sternen.“

Den Inhalt des Bandes bilden eine Frankreichreise und die daraus resultierenden, illuminierten Eindrücke. Schon das erste Gedicht, das früh das Stern-Motiv aufgreift, stellt den Aufbruch dar, im Folgenden werden dann häufig Orte (beispielsweise Cannes oder Nizza) zu Titeln und Motiven der Gedichte werden.

Was sich schnell bemerkbar macht ist ein gewisses Fernhalten, ein Rahmen der Momente, das oft sehr klar das Objekt vom Betrachter trennt, bevor sie ineinander fallen, und zwischen der reinen Beobachtung & Darstellung und den Momenten der Verschmelzung changiert. Der beschwörende, aber auch mit allen Erscheinungen kommunizierende Tonfall skizziert mit schneller und doch bedächtiger Hand den Anschein hinter dem Erblickten, entfremdet es aber auch unerwartet.

„kommen und gehen Tage, da ist die Welt, wie man sie sieht:

es regnet, oder die Villen haben geweint
(ihr Make-up ist verwischt), einige Balkone sind zu Boden gefallen;
nachts tritt jemand hinaus, raucht, hegt Groll auf die Sterne.“

Doch in diesem Streifen und Zuspitzen werden sehr genau die Szenerien aufgetrennt, manchmal präziser als man zunächst denkt. Der Ton setzt hoch an, geht aber dann nicht noch höher, hält vielmehr das Geschehen mit seinen Gesten in seinem Bann.

Rastlos und doch verweilend, die Zeilen; dieses Verweilen in der Hand wiegend und dann auf etwas kommend, dann bis zum Kern vordringend, aber ohne den Gegenstand zu entblättern, ihm bleibt seine Untiefe. Erfahrungen dieser Art machte ich oft beim Lesen. Und dann der Moment, wenn wirklich Landschaft und Ich, Seele und Sicht ineinander gleiten:

„Du kannst langsam auf dich zusinken, in der präzisen
lila Landschaft
findest du zurück in deine Hülle,
Bäume wachsen aus dem Gras, minutiös wachsen Pfirsiche,
Ziegen dechiffrieren die Welt mit einem Laut
und fern der Quellcodes weißt du es:

du wirst wieder Milch trinken“

Ein kurzer, aber sich einprägender Lyrikband, dessen Gedichte zu einer wiederholten Lektüre, zu einer wiederholten Erfahrung einladen. Das Verhältnis von Ich und Welt wird hier auf eine spannende Weise erforscht und fokussiert, dann wieder zerfasert, dann wieder herangeholt. Sollte man lesen!

 

Leave a comment