Zu “Bügeln” von Sofie Lichtenstein


(Vorweg: Man kann Bügeln als autobiographisches Buch lesen, in dem Protagonistin und Autorin in eins fallen. Ich werde immer von der Protagonistin sprechen, als wäre sie nicht wesensgleich mit der Autorin. Damit will ich diese Lesart nicht generell in Abrede stellen – sie zu forcieren hielt ich aber für nicht gerechtfertigt.)

Frauen & Sex: kaum eine andere Kombination von zwei Worten ist so aufgeladen, geradezu geflutet mit Versprechungen und Verheißungen, ist bis zum Rand gefüllt mit kulturellen und historischen Querverweisen, Vorstellungen, Mythen, Ideen, Projektionen, Lügen, Ängsten, Klischees (und, auch wenn das oft in Abrede gestellt wird: Gewalt). Ein weites Feld, könnte man sagen – und vor allem ein Feld, das über eine lange, lange Zeit hauptsächlich von Männern bestellt wurde.

Das hat sich glücklicherweise geändert. Heute schreiben Autorinnen wie Liz Strömquist (Der Ursprung der Welt), Sarah Berger (bitte öffnet den Vorhang), Margarete Stokowski (Untenrum frei), Doris Anselm (Hautfreundin), Olivia Kuderewski (Haha Heartbreak), Katja Lewina (Sie hat Bock), Virginie Despentes (King Kong-Theorie), Bettina Stangneth (Sexkultur), Kate Davies (Love addict) (um nur einige zu nennen; natürlich gibt es noch viele, viele mehr, auch im Wissenschafts- und Ratgeberbereich, sowie im Bereich der dezidiert erotischen Literatur; es soll auch nicht unterschlagen werden, dass schon vorher, vermutlich schon immer, Frauen über ihr Begehren geschrieben oder es auf anderen Wegen ausgedrückt haben, diese Geschichten und Zeugnisse aber nicht bewahrt oder sogar unterdrückt, getilgt wurden) über Sex und Begehren, detailliert, freimütig, aufklärerisch, kritisch.

Diese Fülle an Publikationen ist erfreulich und ein Stück weit werden dadurch wohl auch überkommene gesellschaftliche Ansichten und kulturelle (und moralische) Praktiken aufgebrochen, aber sie beenden natürlich nicht über Nacht eine jahrhundertewährende Repression und die Spuren, die sie in Verhaltensweisen, Erziehungsgewohnheiten und an vielen anderen Stellen hinterlassen hat. Gut also, wenn Frauen auch weiter über Sex schreiben – wie Sofie Lichtenstein in Bügeln.

Formal ein Tagebuch, in dem das Dating- und Sexleben der Protagonistin von ihr selbst nacherzählt und reflektiert wird, könnte man dem Buch auch den Charakter eines Manifests unterstellen, aber dazu später mehr. Im Zentrum von Bügeln steht weder ein romantisches Ideal noch eine besondere sexuelle Obsession (sieht man davon ab, dass die Protagonistin einer Person nachtrauert, die nur als SIE bezeichnet wird), sondern schlicht der Wunsch nach Nähe, nach Körperlichkeit. Sex ist hier die meiste Zeit bar jeder Metaphysik – ein Grundbedürfnis, zwar aufgeladen mit verschiedenen Erwartungen und Ängsten, mit zahlreichen Intensitäts- und Spielarten, das aber weder verklärt noch künstlich mit Bedeutung überfrachtet wird.

Was aber nicht heißt, dass wir es bei der Protagonistin mit einem unbeschwerten Sex-Positivitiy-Freigeist zu tun haben, die einer Netflix-Serie entsprungen sein könnte; eher mit dem Gegenteil. Lichtensteins Hauptfigur ist unsicher, zynisch, trinkt viel, struggelt mit dem eigenen Begehren, ringt mit Verlustängsten und der Furcht vor Bedeutung, weil in diesem Kontext der eigene (vermeintliche) Hang zum Scheitern eine zu große Rolle spielen könnte. Ganz abseits der Sex-Thematik könnte man das Buch auch als Seelenstudie lesen, als Schilderung des Innenlebens einer Person, die sich nach vielem sehnt, aber alles scheut, was genuin sein könnte, weil, wenn man sich darauf einlässt, nicht mehr die Möglichkeit besteht, einfach weiterzuziehen, weiterzumachen.

Obwohl sich die Protagonistin am stärksten zu einer Frau (Chris) hingezogen fühlt und eine der längsten Affären mit einer weiteren Frau (Anja) hat, trifft sie hauptsächlich Männer. Kaum eines dieser Treffen verläuft reibungslos: von schlecht küssenden, über stumpfvögelnde, bis hin zu sich selbst übertrieben anpreisenden und ihre eigenen Vorsätze ignorierenden, sowie emotional- und intellektuell eher unflexiblen/unreflektierten Herren der Schöpfung ist alles dabei. Sehr gut gelingt es Lichtenstein in diesem Kontext, den inneren Zwist und die Gedankenwelt ihrer Protagonistin minutiös, mit allen zarten bis heftigen Ausschlägen auf der Gefühlsskala, abzubilden. Wie viel Diskrepanz kann man mit dem Wunsch nach Nähe, der Lust auf Sex überbrücken? Was kann man ignorieren und wo fangen die Prinzipien an, was muss man lernen als Warnsignal zu begreifen?

Diese und andere ähnliche Fragen werden manchmal direkt verhandelt, schwingen aber auch sonst oft mit. Jedes Treffen ist ein neuer Mix aus Anziehung und Abstoßung, Interesse und Unverständnis, Wunsch und Wirklichkeit. So entstehen nicht nur Protokolle geschlechtlicher Handlungen – nebst einem Panorama der Dinge, mit denen sich Frauen beim Sex konfrontiert sehen, vom Herabsetzen ihrer eigenen Ansprüche, damit überhaupt ein Akt möglich ist, bis hin zur Angst vor Schwangerschaft und Gewalt – sondern auch eine unterschwellige Analyse der Zerrbegriffe, Ideen und Vorstellungen, inmitten derer die meisten Menschen versuchen, ihre eigene Sexualität auszuleben.

Man geht eben nicht nur mit einem Menschen ins Bett (dieser anderen Welt in einem fremden, uns unzulänglichen Kopf, voller uns unbekannter Erfahrungen, Wunden, Annahmen), sondern wir tun dies in einer Welt voller Schönheitsideale, Moralbegriffe, Narrative und Kontranarrative. Sex, sagt uns die Pornographie, ist einfach und geil – und schon deswegen hat sie einen mangelnden Bezug zur Wirklichkeit, denn Sex findet meist in einem komplexen Geflecht statt und selten unter idealen Bedingungen, mit reibungslosem (sic!) Ablauf. Es ist teilweise wohl auch diese Vorstellung von Sex (als einem Ort der eigenen Phantasiebefriedigung, statt einem Ort, an dem sich aus dem Gemeinsamen etwas ergibt), die gutem Sex im Wege steht – aber solcherlei Spekulationen führen hier zu weit.

Stattdessen will ich noch einmal zurückkommen auf den oben angesprochenen Aspekt des Manifests. Denn ich denke, manche Leser*innen werden an diesem Buch Anstoß nehmen, an seinem rohen, teilweise stark urteilenden Ton und ihm vielleicht auch eine Agenda unterstellen, verweisend auf die vielen, vielen Momente, in denen Männer vermeintlich einseitig dargestellt und ihre Handlungen immer in das schlechtmöglichste Licht gerückt werden. Und es lässt sich nicht verhehlen, dass das Buch in der Tat mit fast allen männlichen Gestalten relativ hart ins Gericht geht – allerdings werden auch die weiblichen Figuren nicht mit dem Samthandschuh angefasst und in beiden Fällen werden die schnellen Affekturteile ggf. auch reflektiert, modifiziert.

Trotzdem habe auch ich mich dabei ertappt, in der ein oder anderen Situation zu denken: na ja, das kann man auch so oder so sehen. Oder ich bin zusammengezuckt, halb schuldbewusst und halb empört, wenn mal wieder ein klares Statement der Protagonistin zum Verhalten eines Mannes auftauchte. Nun kann man es sich in solchen Momenten leicht machen und schlicht eine Dafür- oder Dagegenhaltung entwickeln, selbst ein schnelles Urteil fällen. Eine Art des Umgangs, die bei Literatur (und auch in manch anderen Fällen) allerdings wenig Gewinn bringt, wenig Erkenntnis. Denn man(n) muss ja nicht immer zustimmen oder ablehnen, man kann auch mal: Nachdenken.

Ich sage nicht, dass dies die Absicht der Autorin war, aber ich glaube, man kann anhand von Bügeln, gerade wegen der ungeschönten Art des Textes,sehr viel über die eigenen sexuellen Erfahrungen und die Bewertungen dieser Erfahrungen nachdenken, vor allem als (cis)Mann. Statt sich angegriffen oder herausgefordert zu fühlen, kann man das Buch auch als Chance sehen, in sich zu gehen, sich selbst mit dem wenig schmeichelhaften Bild zu konfrontieren, das Lichtenstein teilweise vom männlichen Dating- und Sexualgebaren zeichnet. Statt sich zu rechtfertigen, könnte man sich auch einfach mal fragen: was ist dran? Woher rühren diese Eindrücke, Urteile? Sollte ich nicht versuchen, sie zu verstehen? Denn was auffällig ist: obwohl sie hart urteilt, versucht Lichtensteins Protagonistin ihr Gegenüber in der Regel zu verstehen (wenn ihr die Erklärungen auch oft nicht gefallen, sie die Agenden und Vorurteile dahinter sofort identifiziert). Bei den Männern hat man dagegen oft den Eindruck, dass sie mit dem Verstehen wollen in dem Moment aufhören, wo neue Erkenntnisse entweder das eigene Selbstbild oder die liebgewonnene Projektion destabilisieren würden.

Ich will das Buch aber nicht auf diesen Aspekt, diesen möglichen Lerneffekt reduzieren, denn Lichtenstein hat dieses Buch sicher nicht FÜR Männer geschrieben, ebenso wenig wie sie es gegen Männer geschrieben hat. Vielmehr hat sie ein beeindruckend offenes Buch über Sex und Dating verfasst, mit all dem Frust, den Hoffnungen und Querelen, Momenten des Glücks und Augenblicken der Agonie, die diesem Thema innewohnen. Flüssig geschrieben, ist das Buch konfrontativ und scheint wenig Ambivalenz zu beinhalten, aber nur auf den ersten Blick. Wer reflektiert liest, der*die wird sich nicht nur unterhalten fühlen, sondern auch berührt und mitunter auf sich selbst zurückgeworfen; ja, die Kunst, der Text, stellt das Selbst infrage. Wie heißt es noch mal bei Rilke angesichts des leblosen Torsos von Apollon:

„und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“

100 Jahre Originalton


Mit Lyrikline.org gibt es seit einer Weile schon unzählige Tonaufnahmen von Gedichten im Netz. Dennoch: so weit wie hier reichen sie nicht zurück und die Auswahl ist erlesen. Auch die Tonqualität, obwohl natürlich selten optimal, ist erstaunlich. Abgesehen von einer Jandl-Aufnahme, hat mir bisher kein Track Probelme bereitet.

Die schiere Masse der Namen: Friedrich Achleitner . Ilse Aichinger . Erich Arendt . Hans Arp . H.C. Artmann . Rose Ausländer . Wolfgang Bächler . Ingeborg Bachmann . Johannes R. Becher . Jürgen Becker . Gottfried Benn . Werner Bergengruen . Thomas Bernhard . Marcel Beyer . Johannes Bobrowski . Elisabeth Borchers . Nicolas Born . Bas Böttcher . Volker Braun . Bertolt Brecht . Rolf Dieter Brinkmann . Georg Britting . Christine Busta . Hans Carossa . Paul Celan . Heinz Czechowski . Franz Josef Czernin . Theodor Däubler . Hilde Domin . Kurt Drawert . Albert Ehrenstein . Günter Eich . Adolf Endler . Hans Magnus Enzensberger . Elke Erb . Erich Fried . Günter Bruno Fuchs . Franz Fühmann . Peter Gan . Robert Gernhardt . Elfriede Gerstl . Eugen Gomringer . Günter Grass . Ludwig Greve . Durs Grünbein . Michael Guttenbrunner . Michael Hamburger . Peter Handke . Rolf Haufs . Raoul Hausmann . Manfred Peter Hein . Helmut Heißenbüttel . Günter Herburger . Stephan Hermlin . Hermann Hesse . Hugo von Hofmannsthal . Walter Höllerer . Ricarda Huch . Peter Huchel . Richard Huelsenbeck . Steffen Jacobs . Ernst Jandl . Mascha Kaléko . Marie Luise Kaschnitz . Norbert C. Kaser . Erich Kästner . Alfred Kerr . Rainer Kirsch . Sarah Kirsch . Wulf Kirsten . Thomas Kling . Barbara Köhler . Alfred Kolleritsch . Werner Kraft . Theodor Kramer . Karl Kraus . Karl Krolow . Johannes Kühn . Günter Kunert . Reiner Kunze . Elisabeth Langgässer . Christine Lavant . Wilhelm Lehmann . Michael Lentz . Hermann Lenz . Paula Ludwig . Rainer Malkowski . Friederike Mayröcker . Christoph Meckel . Ernst Meister . Karl Mickel . Franz Mon . Heiner Müller . Helga M. Novak . Albert Ostermaier . Bert Papenfuß . Oskar Pastior . Dirk von Petersdorff . Reinhard Priessnitz . Christa Reinig . Joachim Ringelnatz . Gerhard Rühm . Peter Rühmkorf . Nelly Sachs . Robert Schindel . Friedrich Schnack . Raoul Schrott . Kurt Schwitters . Lutz Seiler . Jürgen Theobaldy . Ernst Toller . Christian Uetz . Guntram Vesper . Georg von der Vring . Jan Wagner . Peter Waterhouse . Josef Weinheber . Franz Werfel . Anton Wildgans . Paul Wühr . Albin Zollinger . Stefan Zweig

Ich kann diesen Schatz nur jedem ans Herz legen, der gerne Gedichte liest und hört.

Details:

Hörbuch MP3-CD, 3 CDs, Laufzeit: 10h 38min

ISBN: 978-3-8445-3924-0

Zu George Orwell


Die meisten Leser*innen können Orwell als Autor der beiden Bücher, die er als letztes geschrieben hat: “Farm der Tiere” und “1984”. Ersteres eine brillante politische Parabel auf seine eigenen Zeit, das andere eine immer akkurater werdende Zukunftsvision.

Aber Orwell war nicht nur in seinen fiktiven Werken einer der wichtigsten politischen Denker seiner Zeit, sondern auch in seinen essayistischen Schriften und Reportagen. Ich empfehle sehr, sich zusätzlich zu diesem großartigen Dreierpack noch “Mein Katalonien” zuzulegen, Orwells Bericht aus dem spanischen Bürgerkrieg. Liest man dieses Buch und die hier enthaltenen großen Essays, so ist man gut gewappnet gegen vielerlei ideologische Fallstricke.

Orwell, selbst in Armut aufgewachsen und teilweise in ihr lebend (siehe hierzu auch sein allererstes Buch: “Erledigt in Paris und London”), erkannte Armut und Elend als die eigentlichen, dringlichen Themen seiner Zeit (und aller Zeiten, bis heute). Er sah voraus, dass die industrielle und technologische Entwicklung zwei mögliche Wege nehmen könnte: Entweder werte sie menschliche Arbeit auf, da Menschen schließlich nicht mehr arbeiten müssten, weil Maschinen nach und nach die meisten Routine-Jobs übernehmen – oder sie werte menschliche Arbeit ab, weil diese plötzlich als niedere Tätigkeit angesehen werde. In welche Richtung wir uns derzeit bewegen, dürfte auf der Hand liegen.

Aber auch was Kolonialismus angeht, hatte Orwell einige Erfahrungen und sein Blick auf dieses Thema ist zwar nicht mehr ganz so frisch wie bei den Themen Armut und Totalitarismus, aber dennoch bestechend. Man kann generell sagen, dass Orwell in seinen Essays eine Haltung vertritt, die man nicht mehr häufig vertreten sieht: Anstand. Simple Menschlichkeit, weder rührselig, noch romantisch, sondern sehr direkt und schnörkellos.

Orwell lesen heißt weiterdenken, in jeglicher Hinsicht. Und für gerade mal 15 € kann man hier nichts falschmachen!

Zum Buch:

Übersetzt von Heike Holtsch, Jan Strümpel

Paperback , Broschur, 800 Seiten, 12,2 x 18,7 cm

3 Bände im Schuber, Paperback, matt

ISBN: 978-3-7306-1212-5

Neuer Gedichtband


Beim Aphaia Verlag ist dieser Tage ein neuer Gedichtband erschienen, Titel: Nachumahmungen.

Link mit Beispielgedicht: https://aphaia.de/produkt/nachumahmungen-timo-brandt

Wenn jemand den Band mit Widmung über mich beziehen will, schreibt mir einfach an timo.brandt.7@gmx.de

Lyristix


Während Blog und Podcast leider beide (derzeit) wegen der Arbeit an Manuskripten und Lohnarbeit hintenanstehen, habe ich mit ein paar Kolleg*innen auf Instagram den Channel Lyristix gegründet, auf dem wir von nun an Lyrikbände besprechen. Wer sich dafür interessiert, der kann uns unter @lyristix dort finden oder diesem Link folgen: https://www.instagram.com/lyristix/

Ein Verzeichnis der besprochenen Bücher findet sich hier: https://lyrikpoemversgedicht.wordpress.com/verzeichnis-der-besprochenen-titel-auf-dem-instagram-channel-lyristix/

Zu mir, zum hier


#kkl Magazin

Timo Brandt für #kkl16 “Der freie Wille”




Zu mir, zum hier


Als ein Übermaß von Zeit erscheinen

mir die winzigkleinen Veränderungen.


Mein Fragen und Verraten liegt verdreht

in einer Muschel deren Ränder ich

fast unmerklich abfahre. Jedoch nur Meere

schleifen etwas von ihr ab. Derweil

ich jedes Interesse am Hier vergrabe. Bessere


Zeiten werden davon zu zehren verstehen.


Halte ich mich ans Ohr kann ich nur andere

hören. Was sie in mir sehen entzieht sich krumm

meinen Blick. Meine Fassung ist stumm aber

leuchtet wohl denn andere finden zu mir. Genug

könnte ich sagen. Aber das wär‘ ein Rauschen.




Timo Brandt lebt als Dichter, Rezensent + Brotjobs in Wien. Zuletzt erschien „Das Gegenteil von Showdown“ (Limbus Verlag 2020).






Über #kkl HIER

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Zu “Wir haben” (k)eine Wahl” von Franziska Heinisch


9783896677112

Manifeste haben Hochkonjunktur – wie immer in Zeiten der Krise. Und in einer solchen befinden wir uns, auch wenn es die meisten in Westeuropa nicht wahrhaben wollen. Oder: nicht können, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, sich über kommende, drohende, mögliche Krisen zu streiten. Dabei sind wir längst mitten drin.

Als Teil der letzten Generation, die noch ein bisschen im “Alles wird immer besser”-Zeitalter aufgewachsen ist, aber in den heutigen Zeiten der Aussichtslosigkeit sozialisiert und vor allem politisiert wurde, bin ich prädestiniert fürs Aufgeben. Die schlimmsten Verwerfungen des Klimawandels und der entsolidarisierten Gesellschaften werden mich eher nicht mehr betreffen, zumindest erst im hohen Alter; darüber hinaus habe ich eben noch die illusorischen Vorstellungen von der Welt kennengelernt, die für die älteren Generationen prägend waren und kann sogar verstehen, warum sie an diesen Illusionen festhalten wollen.

Es gibt also keine unmittelbaren Gründe zu handeln und ein geringer Glaube an ein Umdenken bei den älteren Generationen, deren Einischt aber gebraucht wird, um wirklich eine Wende in vielen Bereichen voranzutreiben. Zum Glück gibt es aber Bücher wie dieses, die eben nicht nur mit Fakten in die Debatte eingreifen, sondern sie gleichsam auch, anhand dieser Fakten, emotionalisieren.

In einigen Besprechungen zu diesem Buch wurde der Vorwurf laut, das Buch sei eine Art Abrechnung ohne Lösungsansatz. Dem kann ich nicht zustimmen. Ja, ich würde sogar behaupten, das ist eine fahrlässige oder von absichtlicher Ignoranz geprägte Unterstellung. Was all diesen Rezesent*innen wohl sauer aufgestoßen ist: dass die Autorin sich eindeutig links positioniert und keinen Hehl aus ihren mit dem Thema verbundenen Emotionen macht. Daraus wird ihr dann ein Strick gedreht, aber warum eigentlich?

So lange man die Fakten auf seiner Seite hat, ist Emotionalität kein Handikap. Ich verstehe auch nicht, warum man immer ruhig bleiben sollte, wenn man es mit Dummheit und Ignoranz zu tun hat, die bei all den Themen, die Heinisch behandelt, nicht gerade rare Ware sind. Warum sollen gerade die Dummen und Ignoranten die lautesten sein – wir brauchen kluge, junge Stimmen, die auch laut sind, solange sie wie Heinisch einen wertvollen und konstruktiven Beitrag zur Debatte leisten und die pessimistisch-zynische Kultur in intellektuellen Kreisen ordentlich aufmischen.

Zu “doggerland” von Ulrike Draesner


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Letztens lass ich einen elektrisierenden Gedanken (in Randall Munroes Buch “What if 2”), nämlich, dass alle jetzt lebenden Menschen zwangsläufig von ein paar wenigen hundert Menschen abstammen müssen, mit denen uns eine nie abgebrochene Fortpflanzungskette verbindet. Kein besonders überraschender Gedanke, aber doch elektrisierend, weil darin die generelle Erkenntnis steckt, dass unsere ganze unübersichtliche Gegenwart aus dem entstanden ist, was sich durchgesetzt und überlebt hat (während vieles andere auf der Strecke blieb). Wir stehen sozusagen nicht auf dem Höhepunkt der bisherigen Schöpfung, wir liegen hinter dem Nadelöhr (oder die Gegenwart ist sogar das Nadelöhr).

Und somit ist auch die Vergangenheit nicht einfach die Geschichte vom Wandel, der zur Gegenwart führt, sondern das Zuhause einer Vielfalt, die heute nicht mehr existiert oder nur noch in Fragmenten und Bruchstücken erhalten geblieben ist. “Doggerland” eine Region zwischen Norddeutschland und Großbritannien, vor über 8000 Jahren vom Meer verschlungen, kann als Sinnbild für diese riesige Vergangenheit, die nur in Teilstücken fortlebt, angesehen werden.

Zum einen lebt sie in den Mythen fort, den Geschichten um Atlantis und den Garten Eden, in den gräulichen Phantasien von Lebensraum und Germanentum. Aber man landet auch zwangsläufig in doggerland, zumindest abstrakt, wenn man sich rückwärts in der Sprache bewegt, in einem Raum, in dem sich das Angelsächische und Deutsche annähern, bis zwischen ihnen zahlreiche Funken von Bedeutung überspringen.

Was erhellen diese Funken? Manchmal nur eine fast schon kalauerische Verwandtschaft, aber oft genug kann man im Lichte dieser Funken einen Blick auf die Vergangenheit erhaschen. Wie in einem Teilchenbeschleuniger, werden die Sprachteilchen aufeinander geschossen, mit der ungeheuren Geschwindigkeit, die Jahrtausende in wenigen Sekunden überbrückt, und die Reaktionen reichen von Verpuffen, über Leuchten bis hin zu stabilen neuen Elementen, unbekannten Bausteinen der Wirklichkeit.

Wie viel kann uns die (Sprach)Geschichte über uns selbst sagen? Was aus der Vergangenheit tragen wir in uns mit und inwieweit sind wir diesem Erbe verpflichtet? Diese Fragen sind schwer zu beantworten, aber Draesner liefert mit Doggerland eine Möglichkeit, sich auf ihren Grund zu begeben. Man muss sich teilweise auf ihre Assoziationen einlassen, teilweise kann man aber auch seine ganz eigenen Wege gehen. In jedem Fall erwartet einen eine spannende Reise.

Zu “Averno” von Louise Glück


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Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.”

Wer kennt es nicht, das berühmte Hölderlin-Gedicht, in dem sich die Hoffnungen und Ängste sich im Sinnbild der Jahreszeiten treffen. Was bei Hölderlin sehnsuchtsvolle Beschreibung der Natur im Geiste des Ideals ist, war bei den alten Griechen und später Römern noch teilweise ein Werk der Götter, vor allem einer Göttin, nämlich Demeter.

Die verfiel nämlich in einen solchen Gram, als ihre Tochter Kore/Persephone vom Gott der Unterwelt, Hades, geraubt wurde, dass alle Pflanzen auf der Erde zu verblühen begannen und die Temperatur stetig sank. Zeus erreichte mit seinem Bruder Hades schließlich einen Kompromiss: Die eine Hälfte des Jahres (Sommer und Frühling) verbringt Persephone bei ihrer Mutter auf der Erde, die andere Hälfte des Jahres als Hades Frau in der Unterwelt (Herbst und Winter).

Was hat das alles mit Louise Glück und “Averno” zu tun? Nun, der Kratersee galt den Römern einst als Eingang zur Unterwelt. Und genau wie bei Hölderlin (bspw. im Titel) noch die alte Sage von Persephone mitschwingt – die Idee von einem halben Leben an der Schwelle des Todes, einem halben Leben umgeben von der Erfüllung des Lebens – ist sie auch bei Louise Glück sehr präsent.

Sie ist die Figur, die zwischen den beiden Gegensätzen steht, die Naht zwischen Tod und Leben, die auch wir sind, verkörpert (zumindest als Mythos). Wir alle sind Persephone und wir alle sind gleichsam geraubt und verbannt und können doch platznehmen in den Freuden der Welt, zumindest für eine Zeit.

„ Komm zu mir, sagte die Welt. Ich stand

in meinem Wollmantel an einem hellen Portal –

endlich kann ich sagen

vor langer Zeit; es bereitet mir großes Vergnügen.“

Glücks Poesie hat etwas Martialisches, teilweise auch übertrieben Saumseliges. Aber es gelingt ihr dennoch eine spannende Philosophie des Lebens, das dem Tod versprochen ist, zu entwerfen. Wie gehen wir um mit dieser Endlichkeit, die umgeben ist von einer Unendlichkeit? Was können wir hoffen, was müssen wir glauben, was sehen wir und was sehen wir ein?

Vieles wiegt schwer bei Glück und wer sich auf solch eine schwere Poesie nicht einstellen kann, wird wohl wenig Freude an ihren Gedichten haben. Für wen Poesie aber immer auch eine Auseinandersetzung mit der Geworfenheit des Menschen ist, der oder die wird hier viel Nachdenkenswertes vorfinden, viel poetische Kraft, geschmiedet im Feuer des Dilemmas, der Hoffnung, der Verzweiflung.

Zu “Dinosaurier auf anderen Planeten” von Danielle McLaughlin


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Wenn einige Rezensent*innen diese Debütautorin mit den unnachahmlichen Alice Munro und dem berühmten William Trevor vergleichen, sind die Erwartungen zwangsläufig hoch. Ich glaube nicht, dass Danielle McLaughlin diesen Standard ganz erfüllt, dennoch handelt es sich bei “Dinosaurier auf anderen Planeten” um eine vielversprechende Sammlung von Geschichten, die im Laufe der Zeit an Schwung gewinnt.

Wollte man die Geschichten in etwa auf einen Nenner bringen, könnte man sagen, dass diese meist eher leisetretende Sammlung vor allem vom vereinzelten Individuum erzählt, ihren sich entwickelnden Platz in einem oft ungewissen, immer geheimnisvollen Universum beschreibt. Wie einst bei Raymond Carver ist die titelgebende Geschichte die letzte und enthält folgende Beschreibung (es geht in der Geschichte um einen kleinen Jungen, der glaubt, einen Dinosaurierschädel entdeckt zu haben): “Es gab Sterne, Millionen von ihnen, die vertrauten Konstellationen, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie waren weißglühende Wolken aus Staub und Gas, und wenn man ihnen zu nahe kam, konnte das Licht einen blenden.”

Tiere kommen in Dinosaurier auf anderen Planeten nicht gut weg, ebenso wenig wie in vielen Fällen Eltern-Kind-Beziehungen oder Beziehungen zwischen Liebenden. Eine besonders beunruhigende Geschichte, “Eine andere Gegend”, handelt von einer unbedarften, naiven Frau namens Sarah, die mit ihrem neuen Freund Jonathan zum Haus seines Bruders Aidan und dessen hochschwangerer Freundin Pauline reist. Während die Wehen bei Pauline einsetzen, wird Sarahs Unschuld erschüttert, als sie von den beunruhigenden und geheimnisvollen Aktivitäten der Brüder erfährt.

Ein andere Geschichte handelt von einer gestressten Ehefrau, deren arbeitsloser Ehemann mit ihrem psychotischen kleinen Sohn zu Hause bleibt. Die Spannung steigt, während wir die Besessenheit des Sohnes von toten Enten miterleben und ein Wanderprediger, der wie Angelina Jolie aussieht, auftaucht, ebenso wie ein verdorbener Mann, der der Grund für das Unglück sein könnte.

Mit psychologischem Scharfsinn gestaltet Danielle McLaughlin ihre Geschichten, die gegen Ende – größtenteils – Auflösung, Entfremdung und in einigen Fällen Erlösung mit sich bringen.