(Vorweg: Man kann Bügeln als autobiographisches Buch lesen, in dem Protagonistin und Autorin in eins fallen. Ich werde immer von der Protagonistin sprechen, als wäre sie nicht wesensgleich mit der Autorin. Damit will ich diese Lesart nicht generell in Abrede stellen – sie zu forcieren hielt ich aber für nicht gerechtfertigt.)
Frauen & Sex: kaum eine andere Kombination von zwei Worten ist so aufgeladen, geradezu geflutet mit Versprechungen und Verheißungen, ist bis zum Rand gefüllt mit kulturellen und historischen Querverweisen, Vorstellungen, Mythen, Ideen, Projektionen, Lügen, Ängsten, Klischees (und, auch wenn das oft in Abrede gestellt wird: Gewalt). Ein weites Feld, könnte man sagen – und vor allem ein Feld, das über eine lange, lange Zeit hauptsächlich von Männern bestellt wurde.
Das hat sich glücklicherweise geändert. Heute schreiben Autorinnen wie Liz Strömquist (Der Ursprung der Welt), Sarah Berger (bitte öffnet den Vorhang), Margarete Stokowski (Untenrum frei), Doris Anselm (Hautfreundin), Olivia Kuderewski (Haha Heartbreak), Katja Lewina (Sie hat Bock), Virginie Despentes (King Kong-Theorie), Bettina Stangneth (Sexkultur), Kate Davies (Love addict) (um nur einige zu nennen; natürlich gibt es noch viele, viele mehr, auch im Wissenschafts- und Ratgeberbereich, sowie im Bereich der dezidiert erotischen Literatur; es soll auch nicht unterschlagen werden, dass schon vorher, vermutlich schon immer, Frauen über ihr Begehren geschrieben oder es auf anderen Wegen ausgedrückt haben, diese Geschichten und Zeugnisse aber nicht bewahrt oder sogar unterdrückt, getilgt wurden) über Sex und Begehren, detailliert, freimütig, aufklärerisch, kritisch.
Diese Fülle an Publikationen ist erfreulich und ein Stück weit werden dadurch wohl auch überkommene gesellschaftliche Ansichten und kulturelle (und moralische) Praktiken aufgebrochen, aber sie beenden natürlich nicht über Nacht eine jahrhundertewährende Repression und die Spuren, die sie in Verhaltensweisen, Erziehungsgewohnheiten und an vielen anderen Stellen hinterlassen hat. Gut also, wenn Frauen auch weiter über Sex schreiben – wie Sofie Lichtenstein in Bügeln.
Formal ein Tagebuch, in dem das Dating- und Sexleben der Protagonistin von ihr selbst nacherzählt und reflektiert wird, könnte man dem Buch auch den Charakter eines Manifests unterstellen, aber dazu später mehr. Im Zentrum von Bügeln steht weder ein romantisches Ideal noch eine besondere sexuelle Obsession (sieht man davon ab, dass die Protagonistin einer Person nachtrauert, die nur als SIE bezeichnet wird), sondern schlicht der Wunsch nach Nähe, nach Körperlichkeit. Sex ist hier die meiste Zeit bar jeder Metaphysik – ein Grundbedürfnis, zwar aufgeladen mit verschiedenen Erwartungen und Ängsten, mit zahlreichen Intensitäts- und Spielarten, das aber weder verklärt noch künstlich mit Bedeutung überfrachtet wird.
Was aber nicht heißt, dass wir es bei der Protagonistin mit einem unbeschwerten Sex-Positivitiy-Freigeist zu tun haben, die einer Netflix-Serie entsprungen sein könnte; eher mit dem Gegenteil. Lichtensteins Hauptfigur ist unsicher, zynisch, trinkt viel, struggelt mit dem eigenen Begehren, ringt mit Verlustängsten und der Furcht vor Bedeutung, weil in diesem Kontext der eigene (vermeintliche) Hang zum Scheitern eine zu große Rolle spielen könnte. Ganz abseits der Sex-Thematik könnte man das Buch auch als Seelenstudie lesen, als Schilderung des Innenlebens einer Person, die sich nach vielem sehnt, aber alles scheut, was genuin sein könnte, weil, wenn man sich darauf einlässt, nicht mehr die Möglichkeit besteht, einfach weiterzuziehen, weiterzumachen.
Obwohl sich die Protagonistin am stärksten zu einer Frau (Chris) hingezogen fühlt und eine der längsten Affären mit einer weiteren Frau (Anja) hat, trifft sie hauptsächlich Männer. Kaum eines dieser Treffen verläuft reibungslos: von schlecht küssenden, über stumpfvögelnde, bis hin zu sich selbst übertrieben anpreisenden und ihre eigenen Vorsätze ignorierenden, sowie emotional- und intellektuell eher unflexiblen/unreflektierten Herren der Schöpfung ist alles dabei. Sehr gut gelingt es Lichtenstein in diesem Kontext, den inneren Zwist und die Gedankenwelt ihrer Protagonistin minutiös, mit allen zarten bis heftigen Ausschlägen auf der Gefühlsskala, abzubilden. Wie viel Diskrepanz kann man mit dem Wunsch nach Nähe, der Lust auf Sex überbrücken? Was kann man ignorieren und wo fangen die Prinzipien an, was muss man lernen als Warnsignal zu begreifen?
Diese und andere ähnliche Fragen werden manchmal direkt verhandelt, schwingen aber auch sonst oft mit. Jedes Treffen ist ein neuer Mix aus Anziehung und Abstoßung, Interesse und Unverständnis, Wunsch und Wirklichkeit. So entstehen nicht nur Protokolle geschlechtlicher Handlungen – nebst einem Panorama der Dinge, mit denen sich Frauen beim Sex konfrontiert sehen, vom Herabsetzen ihrer eigenen Ansprüche, damit überhaupt ein Akt möglich ist, bis hin zur Angst vor Schwangerschaft und Gewalt – sondern auch eine unterschwellige Analyse der Zerrbegriffe, Ideen und Vorstellungen, inmitten derer die meisten Menschen versuchen, ihre eigene Sexualität auszuleben.
Man geht eben nicht nur mit einem Menschen ins Bett (dieser anderen Welt in einem fremden, uns unzulänglichen Kopf, voller uns unbekannter Erfahrungen, Wunden, Annahmen), sondern wir tun dies in einer Welt voller Schönheitsideale, Moralbegriffe, Narrative und Kontranarrative. Sex, sagt uns die Pornographie, ist einfach und geil – und schon deswegen hat sie einen mangelnden Bezug zur Wirklichkeit, denn Sex findet meist in einem komplexen Geflecht statt und selten unter idealen Bedingungen, mit reibungslosem (sic!) Ablauf. Es ist teilweise wohl auch diese Vorstellung von Sex (als einem Ort der eigenen Phantasiebefriedigung, statt einem Ort, an dem sich aus dem Gemeinsamen etwas ergibt), die gutem Sex im Wege steht – aber solcherlei Spekulationen führen hier zu weit.
Stattdessen will ich noch einmal zurückkommen auf den oben angesprochenen Aspekt des Manifests. Denn ich denke, manche Leser*innen werden an diesem Buch Anstoß nehmen, an seinem rohen, teilweise stark urteilenden Ton und ihm vielleicht auch eine Agenda unterstellen, verweisend auf die vielen, vielen Momente, in denen Männer vermeintlich einseitig dargestellt und ihre Handlungen immer in das schlechtmöglichste Licht gerückt werden. Und es lässt sich nicht verhehlen, dass das Buch in der Tat mit fast allen männlichen Gestalten relativ hart ins Gericht geht – allerdings werden auch die weiblichen Figuren nicht mit dem Samthandschuh angefasst und in beiden Fällen werden die schnellen Affekturteile ggf. auch reflektiert, modifiziert.
Trotzdem habe auch ich mich dabei ertappt, in der ein oder anderen Situation zu denken: na ja, das kann man auch so oder so sehen. Oder ich bin zusammengezuckt, halb schuldbewusst und halb empört, wenn mal wieder ein klares Statement der Protagonistin zum Verhalten eines Mannes auftauchte. Nun kann man es sich in solchen Momenten leicht machen und schlicht eine Dafür- oder Dagegenhaltung entwickeln, selbst ein schnelles Urteil fällen. Eine Art des Umgangs, die bei Literatur (und auch in manch anderen Fällen) allerdings wenig Gewinn bringt, wenig Erkenntnis. Denn man(n) muss ja nicht immer zustimmen oder ablehnen, man kann auch mal: Nachdenken.
Ich sage nicht, dass dies die Absicht der Autorin war, aber ich glaube, man kann anhand von Bügeln, gerade wegen der ungeschönten Art des Textes,sehr viel über die eigenen sexuellen Erfahrungen und die Bewertungen dieser Erfahrungen nachdenken, vor allem als (cis)Mann. Statt sich angegriffen oder herausgefordert zu fühlen, kann man das Buch auch als Chance sehen, in sich zu gehen, sich selbst mit dem wenig schmeichelhaften Bild zu konfrontieren, das Lichtenstein teilweise vom männlichen Dating- und Sexualgebaren zeichnet. Statt sich zu rechtfertigen, könnte man sich auch einfach mal fragen: was ist dran? Woher rühren diese Eindrücke, Urteile? Sollte ich nicht versuchen, sie zu verstehen? Denn was auffällig ist: obwohl sie hart urteilt, versucht Lichtensteins Protagonistin ihr Gegenüber in der Regel zu verstehen (wenn ihr die Erklärungen auch oft nicht gefallen, sie die Agenden und Vorurteile dahinter sofort identifiziert). Bei den Männern hat man dagegen oft den Eindruck, dass sie mit dem Verstehen wollen in dem Moment aufhören, wo neue Erkenntnisse entweder das eigene Selbstbild oder die liebgewonnene Projektion destabilisieren würden.
Ich will das Buch aber nicht auf diesen Aspekt, diesen möglichen Lerneffekt reduzieren, denn Lichtenstein hat dieses Buch sicher nicht FÜR Männer geschrieben, ebenso wenig wie sie es gegen Männer geschrieben hat. Vielmehr hat sie ein beeindruckend offenes Buch über Sex und Dating verfasst, mit all dem Frust, den Hoffnungen und Querelen, Momenten des Glücks und Augenblicken der Agonie, die diesem Thema innewohnen. Flüssig geschrieben, ist das Buch konfrontativ und scheint wenig Ambivalenz zu beinhalten, aber nur auf den ersten Blick. Wer reflektiert liest, der*die wird sich nicht nur unterhalten fühlen, sondern auch berührt und mitunter auf sich selbst zurückgeworfen; ja, die Kunst, der Text, stellt das Selbst infrage. Wie heißt es noch mal bei Rilke angesichts des leblosen Torsos von Apollon:
„und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“