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Die zwei großen Narrative Literatur und Wissenschaft


Erkenntnis und SChönheit

Naturwissenschaft und Literatur, zwei große Narrative der Menschheitsgeschichte. Beiden sind Vorstellungen von Fortschritt und Tradition eingeschrieben, beide wollen die Welt darstellen, wollen das Innenleben jener materiellen und ideellen Form von Dasein ergründen, die in diesem Universum und all seinen Erzeugnissen vorherrscht.

Diese beiden Narrative, versponnen und gegeneinandergehalten, sind es, die McEwan in den Mittelpunkt nahezu aller Texte in diesem Band gestellt hat, von denen vier Vorträge sind und einer ein Artikel, gehalten bzw. publiziert zwischen 2003-2019. Der letzte Text legt dann noch einen besonderen Fokus auf die Religion (das dritte große Narrativ), genauer auf Endzeitvorstellungen.

Eine Persönlichkeit, die in den anderen vier Texten immer wieder eine Rolle spielt, ist Charles Darwin. Für McEwan ist er nicht nur als Begründer der Evolutionstheorie interessant, sondern auch (und teilweise vielmehr) als Literat. „Die Entstehung der Arten“ und auch Darwins andere Bücher, allen voran „Der Ausdruck der Gemütsbewegung bei Menschen und Tieren“, sind für McEwan nicht einfach nur wissenschaftliche Texte, Beweise für Theorien, sondern Literatur im besten Sinne.

Mehr als einmal bricht McEwan, nicht nur im Fall von Darwin, im vorliegenden Buch eine Lanze für die Wissenschaftsliteratur, ja, für die Wissenschaft(geschichte) als große Erzählung von den Dingen, die der Literatur näher steht, als uns die Trennung in arts und science glauben lässt. Denn obgleich es der einen um die Schönheit, der anderen um die Erkenntnis zu gehen scheint, findet sich auch in der Literatur Erkenntnis und in der Wissenschaft Schönheit. Ihre Ziele und vor allem ihre Errungenschaften haben einiges gemeinsam.

McEwan ist ein sehr non-stringenter Essayist. Er arbeitet keine klare Conclusio heraus, vielmehr sind seine Texte ein konstantes Vermitteln von Ideen, Referenzen, Verhältnissen, Möglichkeiten. Das ist angenehm, inspirierend, mitunter aber ist die Bewegung des Textes, trotz ihrer Eleganz, schwer nachzuvollziehen. Wer sich an dieser leichten Inkonsequenz nicht stört, dem wird McEwan in seinen Texten einen ganzen Kosmos an Überlegungen, Lektüren und Geschichten eröffnen.

Zu “Die ersten Amerikaner” von Thomas Jeier


Die ersten Amerikaner „Es galt, in diesem Buch vor allem mit in vielen Jahrzehnten manifestierten Klischees aufzuräumen, neueste Wissenschaftserkenntnisse aufzugreifen und so dem Leser ein möglichst umfassendes Bild indianischer Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln.“

Dies Buch ist ein kniffliger Fall. Sein Verfasser ist ein durchaus renommierter Autor, in dessen (sehr langer) Werkliste jedoch auch zahlreiche Groschen- und Abenteuerromane auftauchen. Natürlich sehe ich dieses Sachbuch nicht allein deswegen kritisch und solange ich keinen seiner Romane – von denen einige auch im historischen und gegenwärtigen Milieu der amerikanischen Ureinwohner spielen – gelesen habe, werde ich sie nicht vorverurteilen. Aber sowohl das, was in den Klappentexten dieser Romane steht (das klingt schon hier und da sehr nach heischendem Kitsch), als auch einige Bemerkungen in „Die ersten Amerikaner“, haben mich etwas stutzig gemacht.

Es gibt da zum Beispiel dann und wann Widersprüche in den Aussagen. Ein Beispiel: Zuerst weist der Autor die Marterpfähle als regionale Eigenheiten einer bestimmten Stammeskultur aus, einige Seiten später spricht er dann aber davon, dass jede/r weiße Siedelnde im mittleren Westen am Marterpfahl landen konnte, wenn die Ureinwohner*innen seine Farm überfielen.

Auch schwankt immer wieder das Ausmaß der Darstellung: manchmal spricht Jeier klug und kundig über die verschiedenen Stämme, bevor er sich dann in anderen Abschnitten in bestimmte Beispiele hineinsteigert, den Leser*innen einen beispielhaften, schmalen Eindruck von bestimmten Phänomenen gibt. Gegen diese Sprunghaftigkeit, den Wechsel zwischen Weitläufigkeit und Konkretion, ist eigentlich nichts einzuwenden, das Ganze wirkt aber hier und da ein wenig unübersichtlich und führt außerdem dazu, dass manche Abschnitte extrem informativ und spannend, andere voller Wiederholungen und ermüdender Kleinstdarstellungen sind. Beides zu haben ist sicher gut, aber es macht das Buch etwas unrund.

„Jedes Jahr halte ich mich mehrere Wochen oder Monate in den USA auf und verbringe einen großen Teil meiner Zeit im amerikanischen Westen und in Reservaten.“

Man kann festhalten: das Standardwerk zum Thema amerikanische Ureinwohner*innen hat Jeier mit diesem Buch nicht vorgelegt. Trotzdem kann er mit sehr viel Insiderwissen aufwarten und hat meist einen klaren Blick, der die native americans nicht verklärt oder als bloße Opfer stilisiert, sondern das an ihnen begangene (und in einzelnen Geschichten von ihnen begangene) Unrecht und die verheerende Geschichte ihrer Dezimierung durch die europäischen Kolonialmächte in vielen Einzelheiten und Facetten schildert.

„Der Krieg gegen die Indianer, von Regierung und Kirche gleichermaßen vorangetrieben, wurde zu einem Genozid gigantischen Ausmaßes, der durch grausame Massaker und Massentötungen gekennzeichnet war. Die Angaben der zwischen 1492 und 1900 getöteten Indianer schwanken zwischen zwei und zehn Millionen Menschen. Die Ermordung von unbewaffneten und hilflosen Männern, Frauen und Kindern und die systematische Ausrottung ganzer Dörfer durch heimtückische Überfälle und der Ausbruch ansteckender Krankheiten gehörten zum Alltag der 300 Jahre dauernden Indianerkriege.“

„Die ersten Amerikaner“ ist vor allem ein Buch, das mitunter gekonnt den Spagat zwischen populärwissenschaftlicher Darstellung und tiefergehenden Ambitionen meistert, manchmal bei diesem Spagat aber auch etwas ungeschickt aussieht. Es werden sehr viele Geschichten erzählt und Wissen wird hier und da großzügig gestreut. Einige Abschnitte haben es mir sehr angetan, wie etwa die Schilderungen der von den mittelamerikanischen Einflüssen geprägten Hochkulturen im Süden der heutigen USA und einige Schilderungen zur heutigen Lage der natives sind Meisterstücke.

Dennoch kommt sich das Buch mit seiner akribischen Verbrechensverfolgung und -auflistung ein wenig selbst in die Quere. Gewiss, diese seitenlangen Nacherzählungen von konkreten Verbrechen sind wichtig und erfüllen die dokumentarische Ambition. Die Schilderung von Lebensweisen, Vorstellungen und dergleichen, die die Ureinwohner Amerikas pflegten, wird dabei auch nicht vergessen, sondern gewissenhaft und regelmäßig eingeflochten. Aber letztlich konkurrieren beide Aspekte ein wenig miteinander und die Darstellungen des Lebens fallen in meiner Leseerfahrung hinter die Darstellung des Sterbens und Unterdrücktseins zurück.

Das ist vielleicht folgerichtig, immerhin ist genau das mit den Ureinwohnern Amerikas passiert: ihre Kultur, ihre Lebensgewohnheiten und, in vielen Fällen, ihre Existenz, wurden ausgelöscht, es blieb ihre blutrünstige Statist*innenrolle in Westernfilmen. Vielleicht muss ein Buch diesem Narrativ, so zwingend es zu sein scheint und so gut es auch das Schicksal der natives widergibt, nicht folgen. Denn es ist ja nicht ihre ganze Geschichte (und Jeier schildert auch die Zeit vor der Begegnung mit Europa, aber eben nur in 2. Kapiteln).

Letztlich ist Jeiers Buch immer noch eine beeindruckende Arbeit, sicherlich die Arbeit vieler Jahre, die ich weder ihm noch allen potenziellen Leser*innen madig machen will. Meine Bedenken habe ich vorgebracht, jetzt bleibt nur noch, hervorzuheben, dass ich einige spannende Erkenntnisse und manch prägenden Eindruck aus diesem Buch erhalten habe. Es ist in jedem Fall ein lesenswertes Werk und vielleicht verfehlen meine Kritikpunkte letztlich auch die Idee dieses Buches, lassen sie außer Acht. Ich hätte mir wohl eine Geschichte der amerikanischen Ur-Einwohner gewünscht, in der nicht der Hauptaspekt auf den Verbrechen liegt, die sie erlitten (nicht um das Auszublenden, sondern weil ich mich für ihre Kultur und nicht primär für deren Untergang interessiere). Aber vielleicht ist das einfach nicht möglich. Vielleicht ist das die schlimmste Erkenntnis.

Tolkiens ganze Meisterschaft – von Tom Shippey in seinem Buch “Tolkien – Autor des Jahrunderts” wunderbar präsentiert


Tolkien als großer Autor des 20. Jahrhunderts? Da gibt es wohl nicht wenige, die Protest einlegen würden. Wie könnte jener Autor, der das Fantasy Genre (mit-)begründete (eine als trivial und unterhaltungsversessen abgestempelte Richtung der Literatur), denn ein großer Autor, ja, ein wahrer Meister seines Faches, der Sprache, der Literatur sein?

Barock und mythenverklärt, infantil und pathetisch, eindimensional, weltfremd und heroisch – es gibt genug Vorwürfe gegen Tolkien und seine Werke. Dass die meisten dieser Vorwürfe einer Unkenntnis des Werkes entspringen, sich lediglich auf Vorurteile oder Medien zweiter Hand (Filme, Nacherzählungen, Zusammenfassungen) stützen, ist das eine; dass aber trotz der Verehrung und Popularität, die Tolkien und seine Werke genießen, für einen Großteil der Leser noch immer nicht ersichtlich und klar ist, dass Tolkien einer der vielschichtigsten, fortgeschrittensten und wegweisensten Autoren seiner und unserer Zeit ist, nicht nur thematisch, sondern erzähltechnisch, allegorisch, metaphysisch, Ambivalenz und sprachliche Schönheit mit Wissen, Transzendenz und Können vereinend, kann man fast nur als unverständlich und muss es als rückständig ansehen.

Dieses Buch kann bei diesem Missstand etwas Abhilfe schaffen. Es zieht einen wirklich in die Materie von Tolkiens künstlerischem Hintergrund, gespeist von seinem Leben und seiner Arbeit mit dem Altenglischen, den Sagen der britischen Inseln, dem Beowulf-Epos, sowie einigen zentralen philosophischen Problematiken, um die seine Werke kreisen: der Ursprung von Gut und Böse, die Willensfreiheit des Individuums im Kontext übergreifender Ereignisse, Fragen der Hoffnung und der Tod und die Ewigkeit. Einem werden die Augen geöffnet inwieweit Der Herr der Ringe und Tolkiens andere Werke nicht nur Geschichten, sondern metaphysische, psychologische und mythische Kosmen sind, die durch ein Gespann von Handlung gezogen und ausgebreitet werden, aber im Kern immer ein metaphorisches und transzendentes Wesen, Bezüge und Konzepte haben.

Es macht außerdem einfach Spaß dieses Buch zu lesen. Über die Einleitung, die sich auch ein bisschen mit Tolkiens Rolle in der Literaturlandschaft des 20. Jahrhunderts beschäftigt, über eine genauere Betrachtung der einzelnen Werke, bis hin zur Analyse einiger grundlegender Motive in seinem Werk wird man bestens unterhalten und belehrt, ganz ohne elitäre Strapazen. Gerade für Leute, die Interesse an Sprache haben, ist dieses Buch eine Goldgrube. Da der Autor selbst Philologe ist gelingt es ihm zu zeigen wie Tolkien einst durch sein Suchen nach den Ursprüngen der Worte zu Namen, Orten und Einfällen (und eigenen Sprachen) für seine Werke kam und führt uns ganz nah heran an die Quellen seiner phantastisch anmutenden Werke, die dadurch nicht weniger phantastisch werden, aber viel ansichtiger, heller, mit einer Balance zwischen Fiktion und Idee. Das macht nicht nur die Werke zugänglicher, sondern bringt auch ihren Autor klarer und menschlicher, als Kontur dahinter, hervor und zu Bewusstsein; wir lernen Tolkien kennen, als Schaffenden und Suchenden, lernen die besondere Beschaffenheit seines Denkens zu verstehen.

Gleichzeitig ermöglicht uns Shippey Einblick in die große Dimension von Tolkiens Leistung. Man ist fast dazu verleitet, sofort sämtliche Werke Tolkiens aufzutreiben und zu studieren, zu lesen – diesem großen Reichtum hinter dem Text nachzugehen, die Shippey uns mit seinen Betrachtungen öffnet und der einen vermuten lässt, dass jede Sprechweise der Charaktere, jede Szene, ein tieferes Postulat, eine größere Gedankenwelt bereit hält.

Nachdem ich das Buch zweimal gelesen habe und es schon wieder lesen will, fasziniert von Sachen, die ich gelesen und schon wieder vergessen habe, die aber Anstoß für weitreichende Überlegungen waren, kann ich nur sagen: dieses Buch ist lesenswert, es ist inspirierend und vor allem sollte es gelesen werden, damit klar wird, was für ein großer Geist hinter den Werken des J. R. R. Tolkien steht.

Zu Borges und den Essays in seinem Sammelband “Inquisitionen”


“Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand – was dann?”
Samuel Taylor Coleridge

“Zwei Tendenzen”, schrieb Borges im Epilog, “habe ich beim Korrigieren der Druckfahnen in den vermischten Arbeiten dieses Bandes entdeckt.
Zum einen die Tendenz, religiöse und philosophische Ideen wegen ihres ästhetischen Wertes und dessentwegen zu schätzen, was in ihnen an Einzigartigem und Wunderbarem enthalten ist. Zum anderen die Tendenz, anzunehmen (und mich dessen zu vergewissern), dass die Zahl der Fabeln oder der Metaphern, die zu erfinden die Vorstellungskraft der Menschen fähig ist, begrenzt sei, dass aber die zählbaren Erfindungen jedem alles bedeuten können, wie der Apostel Paulus.”

Jorge Luis Borges gehörte zu den seltenen Literaten, die ihr Leben nicht nur dem Schreiben, sondern vor allem dem Lesen gewidmet haben – Faszination war ihm alles und Bescheidenscheit sein höchstes Prinzip in Bezug auf seine eigenen Leistungen – welche allerdings ein paar der wichtigsten Impulse für die Moderne und Postmoderne lieferten, gar nicht zu reden von der Synthese aus Wissen, Philosophie und Phantasie, die seine Texte zu einer zeitlosen, inspirierenden Erfahrung machen. Kaum einer, der seine Erzählungen (Das Aleph, Fiktionen), seine Gedichte (Mond gegenüber; Schatten und Tiger) oder eben seine Essays liest, wird darin nicht einer der schönsten Ausformungen von gesetzter und doch dabei von wundersamen Eingebungen und Ideen angefühlter Erzählkunst und Gelehrtheit begegnen.

Seine zahllosen Lektüren und Interessen erstreckten sich auf nahezu alle Gebiete, von Religion über klassische Literatur, Krimis und phantastischen Erzählungen, nahöstliche, antike und moderne Philosophien, bis hin zu politischen Werken und historischen Momenten, altenglischer Literatur und Sprache und modernen Innovationen wie die von Joyce, Pound oder Valery. Für Borges war der Wert einer Idee wichtig und nicht ob sie sich in irgendeiner Weise instrumentalisieren ließ; Ideen als Spiegel, in denen sich eine bestimmte Ungewissheit oder Gewissheit unseres Lebens mannigfaltig widerspiegelt.

“Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang.”

In diesem Buch teilen sich die Literatur, die Philosophie und die Geschichte das Feld. Von einer Notiz zum 23. August 1944 (Befreiung von Paris) und einer daraus folgenden These über das Böse, über Literaten wie Kafka, Coleridge, Wilde, Valéry, Nathaniel Hawthrone (diesen Autor kann ich, dank Borges, nur jedem empfehlen!), bis zum etwas längeren Essays “Widerlegungen der Zeit”, in dem Borges eine persönliche Theorie der Einheitlichkeit der Zeit vorstellt, wird der Leser auf einem Fluß der reinen Faszination mitgetragen. Ich denke man kann beim ersten Mal noch nicht alles fassen, was Borges hier in meist nur 3-5 Seiten langen Texte anschneidet, sicher aber bin, dass jede Leser das Buch mit einer neuen Anregung verlässt und es bestimmt wieder zur Hand nimmt. Denn Borges kann man immer wieder lesen: um sich Dinge ins Gedächtnis zu rufen, um Zusammenhängen und Verbindungen auf die Spur zu kommen, um sich von einer bestimmten Idee zu eigenen Gedanken verführen zu lassen. Jeder, der sich gerne in Gedanken an alles Mögliche, Faszinierende, Metaphysische, Inspirierende verliert, findet in Borges Büchern eine Welt, die wir für ihn geschaffen scheint – eine Welt voller erstaunlicher Bewandtnisse, mit großen Vorkommen einzigartiger Geschichten und Reliquien.

Borges Schriften sind nicht nur eines der großen Geschenke der lateinamerikanischen Literatur, magischrealistisch, allerdings auf andere Weise, sondern auch ein Anstoß selbst zu denken, Gedanken nicht nur zu setzen, sondern sie auszuformen, ihren Inhalt nicht vorauszusetzen, auch mal wider dem bereits Gedachten und Angenommenen zu denken; es steckt viel europäische Gelehrsamkeit in Borges Büchern, aber auch ebenso viel argentinische Selbstbehauptung, eine Art die Dinge in ihrem Status als Wunder anzusehen, in Opposition gegen das allzu Gesicherte, Alltägliche. (Er selbst schrieb lakonisch über die Argentinier: “Der Europäer und der Nordamerikaner sind der Ansicht, dass ein Buch, das irgendeinen Preis erhält, gut sein muss; der Argentinier gibt die Möglichkeit zu, dass es vielleicht nicht schlecht ist, trotz des Preises.”)

“Im Laufe eines Lebens, das weniger dem Leben als dem Lesen gewidmet war, habe ich oft festgestellt, das literarische Absichten und Theorien nichts anderes sind als Reizmittel, und dass das abgeschlossene Werk sie meistens ignoriert und sogar widerlegt. Wenn in einem Autor etwas steckt, kann keine Absicht, mag sich noch so albern oder irrig, dem Werk einen Schaden unheilbarer Art zufügen.”

Borges lesen, dass ist Träumen, Denken und Lesen zugleich. (“Schopenhauer schrieb bereits, dass unser Leben und unser Träumen Blätter desselben Buches seien und dass sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen, Leben bedeutet, in ihnen wahllos zu blättern aber Träumen sei.”)

Spirituelle Erlebnisreise: “Das Heilige und das Profane” von Mircae Eliade


“Es ist das höchste Ziel des Religionshistorikers, das verhalten des homo religiosus uns sein geistiges Universum zu begreifen und es anderen begreiflich zu machen. Das ist nicht immer leicht. Für die moderne Welt ist die Religion als Lebensform und Weltanschauung kaum zu trennen vom Christentum. Ein westlicher Intellektueller hat im besten Falle die Möglichkeit, sich mit einer gewissen Anstrengung mit der religiösen Schau des klassischen Altertums oder auch bestimmten großen, östlichen Religionen wie Hinduismus oder Konfuzianismus, vertraut zu machen. […] Diese Mythologien sind schon zu sehr geprägt durch die lange Arbeit der Gelehrten […] Doch für den Religionshistoriker, der alle existentiellen Situationen des homo religosus verstehen und verständlich machen will, ist das Problem noch komplexer. Eine ganze Welt noch liegt vor den Ackerbaukulturen, die wirklich primitive Welt […] der Völker auf der Stufe des Sammelns und Jagens.” (Aus dem Vorwort)

Mit seinem Buch “Das Heilige und das Profane” hat Mircea Eliade sich auf ein Themengebiet begeben, dass weitab der heutigen menschlichen Vorstellung liegt; es nicht einmal in Medien oder Filmen oder Romanen besonders präsent. Zwar stößt man ab und zu (in Büchern über die ersten Weißen in Südamerika und in zahllosen Filmen mit Ureinwohnern oder Erzählungen von ihren Göttern und Schamanen etc.) auf eine minimale Dosis archaischer Religionskultur und -mythen, jedoch ist das ehemals globale, elementare Feld dieser spirituellen Lebensart und ihrer Lebens- bzw. Weltenmythen, bis heute, 54 Jahre nach Eliades Buch, immer noch relativ unbekannt.

“Der religiöse Mensch kann nur in einer geheiligten Welt leben, weil nur eine solche Welt am Sein teilhat und somit wirklich existiert.”

In diesem Buch geht es nicht um die monotheistischen und auch nicht um die in Asien etablierten Religionen, sondern um spirituelle Vorstellungen und Beispiele aus Zivilisationen, die vor der Zeit des Ackerbaus lebten. Es wirft ein differenziertes Bild des Spirituellen in diesen Gesellschaften auf und versucht im Ganzen die ehemalige Tragweite, die das mystische Erleben und die spirituellen Rituale in unserer Welt, in unserem Dasein, hatten, zu verdeutlichen.

Nahezu alle frühen Völker glaubten an eine von Gott geschaffene Welt, in der jeder profane Gegenstand und jeder Teil des Lebens, von der Geburt bis zum Tod, ein Symbol der Transzendenz darstellte (Eliade schreibt hierzu : “Und das Symbol spielt eine wichtige Rolle im religiösen Leben der Menschheit; durch die Symbole wird die Welt transparent, fähig Transzendenz zu zeigen”). Das heißt, dass jede Sache, die man tut und der ganze Kosmos um einen herum, nach einer bestimmten göttlichen Ausrichtung geordnet ist. Und nur in diesem Rahmen zu leben, bedeutet demnach wahrhaft zu sein.

“Das Verlangen des religiösen Menschen, ein Leben im Heiligen zu führen, ist das Verlangen, in der objektiven Realität zu leben, nicht in der endlosen Relativität subjektiver Erlebnisse gefangen zu bleiben, in einer wirklichen und wirkungskräftigen – und nicht in einer illusorischen – Welt zu stehen. (das Heilige offenbart die absolute Realität und ermöglicht dadurch eine Orientierung […])”

Dieses Verlangen, ebenso wie der nach göttlicher Ausrichtung fixierte Rahmen, sind immer noch Teil religiöser Ideale, allerdings weniger Teil der religiösen Wirklichkeit. Und gerade dieser Unterschied ist das Interessante zwischen diesen ersten archaischen Welt und der Moderne; ein Unterschied, der nicht allein mit der Religion, sondern mit der Lebenswirklichkeit zu tun hat, was Eliade sehr gut aufzeigt.

Das Buch enthält viele Beispiele aus zahlreichen Erdteilen und Kulturen, mit zahlreichen einzigartigen Facetten und Herangehensweisen; auch auf die Vielfalt der Symbole wird eingegangen: so gibt nicht nur heilige Räume, sondern auch eine heilige, immer wiederkehrende Zeit, bestimmten Riten, um sich von Zuständen zu lösen, Übergänge und Mythen von Tod und Neugeburt.

Wie gesagt: Was sich erstmal anhört wie eine bekannte, spirituell inspirierter Lebensart, ist auf einer bestimmten Ebene für uns heute fast unzugänglich; am Besten sieht man es im Vergleich:

“Für den unreligiösen Menschen sind alle vitalen Erlebnisse – Sexualität, Ernährung, Arbeit uns Spiel – desakralisiert. Das bedeutet vor allem, dass es allen diesen physiologischen Akten an einer geistigen Bedeutung und damit an der wahrhaft menschlichen Dimension fehlt.”

Der Autor beantwortet nicht die Frage, ob der desakralisierende Prozess Übel oder Unausweichlich ist; dies sei, so sagt er, auch vielmehr die Frage der Philosophie und der Psychologie. Doch weißt er uns mit dem Fingerzeig auf die vorzeitlichen Kulturen und Religionen, unbewusst auch einen Weg zu einem zweigeteilten Verständnis der Welt.
Denn obgleich der religiöse Mensch sich sozusagen bindet, um in einem geheiligen Rahmen für sein Leben Erfüllung zu finde, indem er alle Ausrichtungen seines Handelns so nah als möglich ans Göttliche verlegt, so ist doch auch der profane Mensch im Profanen auf der Suche nach einem Rahmen – aus Wissen, Macht oder Besitz – welches gleichsam heilig sein soll; weil es eine unterschwellige Verbindung zur Transzendenz (Unsterblichkeit, Ruhm, Glück, Wissen um die Metaphysik) verbricht.

Sich vorzustellen, dass alles Lebendige auf Erden ein Symbol ist, ist keinem Menschen völlig unverständlich. Auch die kultische Begehung von Sexualität (die Liebe ist eine Art Ritus, die Transzendenz errichtet) und Festlichkeiten, sind niemals ganz verschwunden. Die Sehnsucht ist geblieben und sucht zwar alle Götter zu vernichten, doch es bleibt die Frage nach dem Gott in sich und in allem, in der Welt.

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