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Warten auf den Fatalismus, Italien 1939/40


9783949203077

„Es ist merkwürdig, in welcher Eintracht hier alle die Möglichkeit eines Krieges gar nicht erst in Betracht ziehen. Ich meine nicht nur die Bevölkerung, die die Fakten nicht kennt, sondern auch Kenner der Materie. (Venedig, 16. Juli 1939)“

Die Schriftstellerin Iris Origo wurde in England geboren, als Tochter eines reichen amerikanischen Industriellen und einer irischen Adeligen. Von 1927 bis zu ihrem Tod lebte sie jedoch mit ihrem Mann in Italien, in Chianciano Terme nahe Montepulciano (in der Toskana) und in Rom.

Die meisten ihrer Werke sind historischer Natur und beschäftigen sich mit italienischen Persönlichkeiten, u.a. Francesco Datini und Giacomo Leopardi. Bekannt wurde sie international durch ihr Toskanisches Tagebuch, ein Bericht aus den Kriegsjahren 1943/44, der zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, dann aber doch 1947 erschien.

Unveröffentlicht blieben zunächst, obwohl bekannt, Origos Aufzeichnungen aus den Jahren 1939/40; sie erschienen erst nach ihrem Tod, vermutlich weil sie unspektakulärer waren als die Schilderungen aus den späteren Kriegsjahren.

Es ist aber gut, dass diese Aufzeichnungen doch noch erschienen sind und auch in einer Übersetzung von Anne Emmert (mit einem Vorwort von Lucy Hughes-Hallett und einem Nachwort von Katia Lysy, der Enkelin von Origo) auf Deutsch vorliegen. Es fehlt ihnen beileibe auch nicht an Dramatik, ganz im Gegenteil: die Leser*innen werden Zeug*innen der aufgeladenen Atmosphäre am Vorabend des Krieges, der in Italien alles andere als sicher und gewollt erscheint.

Vielmehr schildert Origo bei verschiedenen Gelegenheiten das Bangen der Land- und Stadtbevölkerung um ihre Söhne und den Frieden, oft gipfelnd in dem Wunsch, nicht in den „deutschen“ Krieg hineingezogen zu werden. Überhaupt hat ein Großteil der Italiener anscheinend nicht viel für den deutschen Verbündeten übrig (wenn auch nicht viel für die Franzosen und Polen, noch etwas mehr für die Engländer, zumindest zunächst), selbst wenn man gemeinhin vom italienischen Faschismus, mal mehr mal weniger glühend, überzeugt ist. Die meisten hoffen darauf, dass Mussolini seine Forderungen ohne Gewalt durchsetzen kann und Italien seine Unabhängigkeit zelebrieren darf, aber nicht verteidigen muss.

Origo schildert vor allem Gespräche mit Freund*innen und Zufallsbekanntschaften, gibt Zeitungs- und Rundfunkberichte wieder (mit ihrem teilweise verstörenden Mischmasch aus Informationen, Desinformation und Propaganda) und versucht die Stimmung in der Bevölkerung zu deuten. Ihre Darlegungen sind meist kurz und sachlich; die Persönlichkeiten und Zusammenhänge, auf die sie referiert, werden direkt am unteren Seitenrand erläutert.

Immer wieder findet Origo, trotz der dramatischen Entwicklung und ihrer eigenen Verwicklung in die Geschehnisse (ihr Patenonkel ist in der amerikanischen Botschaft tätig, ihre Mutter englische, sie selbst amerikanische Staatsbürgerin), auch Zeit für Anekdotisches, bspw.:

„Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.“ (15. Mai 1940)

„Eine seltsame Zeit des Wartens“ kann wohl nicht bedenkenlos allen Leser*innen empfohlen werden, ist aber, so wage ich zu behaupten, auch kein gewöhnliches Tagebuch. Vom März 39 bis Juli 40 (danach schloss sich Origo freiwillig dem italienischen roten Kreuz an und begann, wie oben erwähnt, erst wieder 1943 mit ihren Aufzeichnungen) gibt es uns einen ziemlich guten Einblick in die Geisteswelt und die Gefühle eines Teils der italienischen Bevölkerung – und zeigt auf, wie unklar, verwirrend und wechselhaft diese Monate für viele Menschen in Italien waren, wie sehr das erste Kriegsjahr dort nicht allein von Begeisterung und Eifer, sondern Misstrauen, Hoffnung und Zweifeln begleitet war. Am Ende obsiegt, so möchte man pointiert und zynisch schreiben, nicht der Faschismus, sondern der Fatalismus in den Herzen der Bevölkerung.

Leidenschaft der Klugheit, Klugheit der Leidenschaft


Schon Lukas Bärfuss erster Essayband „Stil und Moral“ hatte mich überzeugt und so war ich gespannt auf den zweiten, mit dem vielversprechenden, aber auch gefährlichen Titel „Krieg und Liebe“. Und, was soll ich sagen: ich bin verblüfft, berückt, aufgewühlt, beseelt.

Wenn es um Begeisterung geht, furiose zumal, ist immer die Frage, wie man die vernünftig zu Papier bringt. Und in diesem Fall könnte sie auch ausufern, denn nicht nur sind die Texte von Bärfuss in sich gut, sie schneiden zudem unglaublich viele Themen an, über die lange nachzudenken nicht schwerfallen dürfte, auch über die Ansätze und Ideen von Bärfuss hinaus.

Da ich hier nicht auf alle Texte eingehen kann, will ich nur 1-2 als Beispiele kurz herausgreifen. Als erstes gleich den Einstiegstext, der zunächst unaufgeregt, geradezu bewusst neutral wirkt, wie ein kurzer Abriss, eine eher uninspirierte Rezensionsnotiz zu einem japanischen Kriegsbericht.

Und dann geschieht das Wunder: mit einer kurzen Beobachtung, die er gegen Ende hin zuspitzt, schafft Bärfuss es, dass den Leser*innen aus dem glatten Text eine fulminante Erkenntnis entgegenspringt: Er verquickt die Leidenschaft, mit der sich die Soldaten für ihr Land, ihren Kaiser oder dergleichen opfern, mit der Leidenschaft der Liebe. Und formt aus dieser unheiligen Verbindung die Frage: kann es sie geben, eine Welt ohne Krieg, in der aber noch (leidenschaftlich) geliebt wird? Wie lässt sich die Leidenschaft für das eine von der Leidenschaft für das andere trennen?

Sie haben immer ein bisschen etwas Abwegiges an sich, diese Essays, und stoßen dann mit einem Mal oder auch ganz subtil ins Zentrum der Überzeugungen vor. Nicht anders in einem Text, in dem es um Nietzsche „und die Populisten“ geht. Gähn, hab ich da gedacht. Und erstmal wirkte der Text auch recht gewöhnlich, gutgeschrieben durchaus, aber eher lammfromm, überschaubar.

Doch schon bald war da eine besorgniserregende Umwälzung zu beobachten und nach der Lektüre musste ich mir eingestehen: ich hatte noch nie einen so guten Text über Nietzsche oder über Populismus gelesen; ich begriff jetzt wesentliche Aspekte von beiden, wo ich bisher meinte, dass eine vage Vorstellung, eine vorgefasste Meinung genügen würde.

Nicht alle Texte in dem Buch sind so umwerfend wie diese beiden oder auch die grandiose Dresdener Rede „Am Ende der Sprache“, die ich nun schon mehrmals gelesen habe und die so trostspendend und gleichsam kämpferisch ist wie nur Weniges, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Aber immer sind sie interessant, hinterfragen, zeigen auf, schaffen Perspektiven, wo es vorher nur festgelegte Linien zu geben schien.

Es ist ein Buch für jene, die sich gern wirklich mit Texten beschäftigen, nicht nur denken gefällt mir (nicht), nicht nur Unterhaltung suchen, sondern auf der Suche nach Auseinandersetzung, Denkimpulsen, Erschütterung und Belebung sind. Kurzum: es ist wirklich nur ein Buch für leidenschaftliche Leser*innen. Aber die werden es zu ihren Schätzen zählen, da bin ich mir sicher.

Zu “Die Schule am Meer” von Sandra Lüpkes


Die Schule am Meer Es ist schon ein besonderes Buch, mit dem Sandra Lüpkes uns da beglückt hat. Ich habe schon einige Bücher über die Zeit der Weimarer Republik gelesen und auch einige Romane, die in dieser Zeit spielen (hervorzuheben sind hier u.a. „Die neuen Bekenntnisse“ von William Boyd und „Das Brandmal“ von Emmy Hennings, Lion Feuchtwangers „Erfolg“ und Romane von Irmgard Keun und Vicki Baum).

Die meisten dieser Bücher spielen jedoch in Städten (meist in Berlin) oder haben deren Bevölkerung im Blick und das Gesellschaftspanorama ist dadurch immer etwas zu fixiert, zu wenig fließend, da vor allem Gruppen genannt und gegeneinander ausgespielt/sich gegenübergestellt werden. Dies eben ist die große Qualität von „Die Schule am Meer“, das hier, in dieser Darstellung einer Enklave, eines Mikrokosmos, alle bekannten Konflikte der Zeit vorhanden sind, aber von Individuen ausgetragen werden, die nicht nur eine Zugehörigkeit haben, sondern vielschichtige Figuren sind.

Das verwässert aber die Problematiken und auch die langsame Zuspitzung der Ereignisse und Umstände nicht, sondern intensiviert im Gegenteil die Konflikte und ihre Wirkungen auf die Leser*innen; die individuelle Tragödie geht unter die Haut, weil sie erfahrbar ist und mit einer konkreten Geschichte verknüpft, die ein vielfältiges Identifikationspotenzial bereithält.

Insofern ist dieses Buch, wie gesagt, ein Glücksfall. Es gibt zwar durchaus einige Kritikpunkte, die angebracht werden können (so wurde hier und da einiges an Potenzial verschenkt, was die Beziehungen zwischen den Figuren angeht und überhaupt erscheinen manche Figuren in einer Szene sorgsam entworfen, in einer anderen etwas zu schematisch), aber alles in allem ist dies tatsächlich ein Roman, von dem man sagen kann, dass er einen neuen Aspekt bereithält, ein neues, interessantes Licht auf die Zeit der Weimarer Republik, ihre Gesellschaft, ihre Ideen, ihre Charaktere wirft.

Zu “Herkunft” von Saša Stanišić


Herkunft Saša Stanišić ist ein Autor, der sich, ähnlich wie bspw. Kazuo Ishiguro, viel Zeit für seine Romane lässt. Zwischen dem ersten Roman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“, der ihn zu einem Shootingstar der deutschen Literaturszene machte, und dem zweiten Roman „Vor dem Fest“ lagen acht Jahre, zwischen dem zweiten und dem dritten Roman „Herkunft“ dann immerhin auch noch fünf (wobei hier in der Zwischenzeit auch ein schmaler Band mit Erzählungen erschien).

Diese Langsamkeit hat etwas Sympathisches und lässt die Romane schon vor der Lektüre wie etwas Kostbares (und auch wie etwas sehr Gewissenhaftes) erscheinen. Möglicherweise ist es diesen Erwartungen und dem Sympathievorschuss geschuldet, dass ich mich mit „Herkunft“ ein bisschen schwergetan habe. Aber vielleicht zunächst zum Inhalt, auch wenn er wohl bereits jeder/m an dem Buch Interessierten durch Klappentext und andere Besprechungen bereits bekannt sein dürfte:

Der Roman liest sich wie eine fiktionalisierte und mit Ausschmückungen versehene Biographie des Autors, mit speziellem Fokus auf die Beziehung zu seiner Großmutter und den Jahren nach der Flucht aus dem ehem. Jugoslawien in der neuen „Heimat“ Deutschland. Die einzelnen Kapitel sind kurz und Stanišić bedient sich immer wieder unverhofft schöner Sprachkapriolen, statt einfach nur einen gelungenen Stil zu pflegen und springt viel in der Zeit hin und her, was manchmal einen etwas übereifrigen Eindruck macht.

So entsteht aus der Schilderung eines Lebens ein Gestrüpp/Geflecht von sich überlagernden Empfindungswelten, das zwar immer wieder beeindruckende Muster hervorbringt, aber auch genauso oft zu leichten Verhedderungen in der Wahrnehmung führt, zumindest bei mir war es so. Stanišić greift auf viele Register und Stilmittel zurück, sein Roman ist ein sehr agiles Konstrukt, aber manchmal wirkt es dabei nicht nur bravourös, sondern wie auf allzu flüchtigen Ideen erbaut.

Was dabei vor allem verloren geht, ist die Anschaulichkeit. In vielen Momenten hatte ich das Gefühl, das Stanišić einem wichtigen Detail viel Mühe angedeihen lässt, dabei aber über das Ziel hinausschießt, weil das Anschauliche eben eine Frage der Balance und nicht der Kompensation ist. Es mag vermessen wirken, dass ich über einen hochverdienten Autor solch eine Kritik verhänge, aber auch wenn ich viele meiner Eindrücke relativieren kann, dieser Eindruck bleibt doch bestehen.

Dabei ist Stanišićs Sprache keineswegs ohne Prägnanz. Vielmehr hat sie alles: Witz, Prägnanz, Ruhe, Dynamik, nur eben manchmal in für mich unpassenden Verhältnissen/Ausprägungen. So schwingt viel mit, aber wenig verdichtet sich zu einem Begriff, einem Verstehen, in das man sich begeben kann. Vielleicht ist die Erwartung, die aus dieser meiner Auseinandersetzung hervorscheint, auch einfach fehl am Platze. Vielleicht haben diese meine Erwartungen etwas mit der oben bereits genannten Aura der Sorgfalt zu tun, die (für mich) Stanišićs Romane umgibt. In jedem Fall ist „Herkunft“ ein wichtiges Buch, das mitunter auch blendend unterhält, aber einige Längen hat.

Eine Bestandsaufnahme der serbischen Seele – zu Marko Dinićs “Die guten Tage”


Die guten Tage „Ich wurde bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr dazu erzogen, Muslime, Albaner, Kroaten und Gott weiß wen noch zu hassen – das ist ein Verbrechen, für das niemand eine Entschädigung zahlen wird! Wir können uns schließlich nicht wehren, wir halten die Klappe und fressen die ganze Scheiße, schwenken die Fähnchen und schwören irgendeinem Deppen, dessen Namen wir als Kinder nicht einmal richtig aussprechen konnten, die Treue. Mein Lieber, im Grunde wurden wir für die Ohnmacht gezüchtet!“

Wie schafft man es, aus einer Tirade einen Roman zu machen? Vor diesem Problem steht nicht etwa Marko Dinić – wobei auch sein Debütroman „Die guten Tage“ sich in Teilen wie eine Tirade liest, gegossen in eine Narrativ –, sondern der Sitznachbar seines Protagonisten, mit dem dieser im ersten Teil gemeinsam im „Gastarbeiterbus“ von Wien nach Belgrad sitzt und der ihm unentwegt von seinem Buchprojekt erzählt (wobei unklar ist, ob es dieses Projekt wirklich gibt).

Grund für die Reise ist der Tod der Großmutter (des Protagonisten). Es ist eine Rückkehr nach 10 Jahren in der Diaspora – damals hat der Protagonist Belgrad gerade zu fluchtartig verlassen, ist abgehauen, mit Geld von eben jener nun verstorbenen Großmutter und mit ihrem Ehering, beides gab sie ihm, den Ring bringt er nun auf Anweisung seines Vaters zur Beerdigung zurück.

Im ersten Teil changiert das Buch zwischen aufkommenden und/oder geträumten Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Belgrad – auch u.a. während der Zeit des Bombardements von 1999 – und den Episoden im Bus, die zu großen Teilen aus den Monologen des Sitznachbarn bestehen. Letzterer ist eine markante und doch absonderliche Gestalt und man fragt sich mit der Zeit, ob er überhaupt existiert oder nicht doch eine Art Wahnvorstellung ist, in der der Protagonist seine eigenen Ansichten bündelt und ihnen so mal ab- und mal zugeneigt sein kann, weil er sie selbst nicht verkörpern muss, während er sich im permanenten Selbstgespräch befindet.

In Summa ist das Buch ein Ringen mit der Frage nach der Bedeutung der serbischen Herkunft und aller damit einhergehenden Merkmale – eine Bestandsaufnahme der serbischen Seele, so könnte man sagen. Der verhasste und doch auch bemitleidete Vater ist dabei das Sinnbild für den serbischen Nationalismus, den Kadavergehorsam und die Staats- und Volksverherrlichung, die umso verwerflicher sind, je mehr die realen Verhältnisse im Land den Bach runtergehen und das Auseinanderklaffen von Mythos und Wirklichkeit kaum mehr zu leugnen ist. Kurzum: er steht für alles, gegen das sich ein Mensch, der noch ein Leben haben will, noch andere Hoffnungen und Träume hat, auflehnen muss.

Aber auch der Protagonist, der das Land bereits vor 10 Jahren verlassen hat, kann sich nicht lösen von seiner Obsession mit Serbien und all seine Ausfälle und Überlegungen zur Verkommenheit seiner Familie und den gesellschaftlichen Verhältnissen, der Indoktrination und der Perspektivenlosigkeit sind zwar einerseits eine Art Weckruf, eine Kampfansage, aber auch eine Rechtfertigung, eine Verzweiflung, ja vielleicht sogar eine Furcht vor dem Anteil, der von dieser Abscheulichkeit in seinem eigenen Selbst vorhanden ist. Ich habe mich an ein Gedicht des tschechischen Dichters Jan Skácel erinnert gefühlt (übersetzt von Reiner Kunze):

“kindheit ist das was irgendwann
gewesen ist und aus dem Traum nun hängt
ein faden fesselrest den man
zersprengen kann und nie zersprengt”

Dinićs Erstling weißt eine beachtliche Sprachgewalt auf, die wohl nicht umsonst entfernt an Louis-Ferdinand Céline erinnert (und irgendwo auch, in ihrer Eklatanz und gleichzeitigen Ambivalenz, an Curzio Malaparte). In seinen eigenen Gedanken-Schleifen aus Abscheu und Indifferenz gefangen, bleibt der Protagonist, bei aller Offenheit, eine fast schon undurchsichtige Figur, in der sich verschiedene Dilemmata und Klarheiten mit gleicher Intensität spiegeln. Die Verkommenheit, die er anprangert, ist geschminkt mit Trauer, die Wut, die er loslässt, schlägt auch ein bisschen über ihm selbst zusammen.

Man könnte dem Roman vorwerfen, dass er nirgendwo hinkommt, sich um sich selbst dreht. Aber genau das ist wohl auch der Punkt. Es gibt keinen Ausweg, denn der Protagonist ist nicht gedacht als touristisches Ausflugsziel für Leser*innen, die mal in Serbien einen Entwicklungsroman durchleben wollen. Vielmehr leidet er unter genau jener Ohnmacht, die im ersten Zitat beschrieben wird. Er ringt mit dieser Ohnmacht und findet doch außerhalb von ihr und seinem Ringen wenig vor, das ihm Halt gibt. So gelingt Dinić das außergewöhnliche Portrait einer geschädigten Seele, einer von vielen.

Zu John Wrays “Gotteskind”


Gotteskind John Wrays neuster Roman kreist um das Schicksal einer jungen Amerikanerin, die (aus Trotz/aus jugendlichem Leichtsinn/aus religiöser Überzeugung/um ihren Eltern zu entfliehen/im Zuge einer Sinnsuche, all diese Motive spielen eine Rolle, die Gewichtung bleibt der Interpretation der Leser*innen überlassen) ihr Leben in den USA hinter sich lässt und zusammen mit einem Freund nach Pakistan aufbricht, um dort (verkleidet als junger Mann) in einer Medrese (Koranschule) den islamischen Glauben zu praktizieren. Von Anfang an ist sie aber auch faszinierend von den Gläubigen, die die Grenze überqueren und in Afghanistan für den Gottesstaat kämpfen, eine Faszination, die immer mehr zu einem Vorhaben wird…

In der Literatur, so sagt man, werden die ersten guten Romane über historischen Ereignisse und ihre Kontexte 5-10 Jahre nach den Ereignissen vollendet/veröffentlicht. Insofern ist John Wray mit “Gotteskind” fast schon “spät dran”, den der Roman spielt in dem geschichtsträchtigen Jahr 2001:

11 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks herrscht in Afghanistan immer noch Bürgerkrieg. Während des Kalten Krieges (genauer ab 1979) hatten (von der amerikanischen Regierung finanzierte) Mudschahedin gegen die Besatzer aus der UdSSR gekämpft, viele davon Söldner, die nach dem Abzug der russischen Streitkräfte blieben und weiterkämpften; viele schlossen sich den Taliban an, die mit der Unterstützung Pakistans bald große Teile des Landes beherrschten.

Wray lässt diese Backgroundinformationen außen vor, sein Roman ist nicht der Versuch eines großen Panoramas oder einer vielschichtigen historischen Aufarbeitung. Er legt den Fokus ganz auf die Empfindungen und Erlebnisse seiner Protagonistin Aden Sawyer (die sich vor Ort Süleyman nennt), wir erleben alles nur durch ihre Augen (obgleich Wrays Roman keine Ich-Perspektive hat, sondern in einer personellen Erzählhaltung verfasst ist).

Das ist die Bravour und der Reiz dieses Romans, denn durch diesen Fokus, zusammen mit Wrays guter Charakterzeichnung, manifestiert sich Aden als eine sehr lebendige Figur, die einen ebenso in Erstaunen versetzen wie auch zur Weißglut treiben kann, mit ihren klugen Fragen oder ihrem unvorsichtigen Verhalten. Wray lässt uns teilhaben an Momenten, in denen sie über sich hinauswächst, während sie bei anderen Gelegenheiten ganz und gar ihren Schwächen unterliegt. Der Roman ist die langsame Entschlüsselung, Entblätterung von Adens Charakterfacetten und lässt doch Spielraum für viele Fragen, Spiegelungen, Ambivalentes.

Trotz dieser guten Charakterzeichnung, die mich gefesselt hat und das Buch in jedem Fall zu einem lesenswerten Roman macht, komme ich nicht umhin, festzustellen, dass mich die letzten 50-60 Seiten des Buches doch ein wenig enttäuscht haben. Ich habe das Gefühl, Wray konnte sich nicht entscheiden, wie er den Stoff zu Ende spinnen soll, wie und ob er einige größere und kleinere Fäden kreuzen soll, ob die Geschichte kulminieren oder in sich zusammenbrechen, sich verlaufen soll und so geschieht alles und nichts zugleich – die endgültige Transformation der Figur gelingt in meinen Augen dadurch auch nicht.

Es ist natürlich immer leicht, Romane nach einmaliger Lektüre für das zu kritisieren, was sie nicht ausgelöst oder befriedigt haben. Ich möchte daher betonen: es ist bemerkenswert, was Wray hier an Charakterzeichnung leistet, wie gut er bei seiner Figur bleibt, wie umsichtig er vorgeht. Unbestritten. Gerade deshalb ist der Abfall am Ende auch so deutlich, in meinen Augen. Er negiert nicht das literarische Erlebnis der ersten 300 Seiten, das ich jeder/m ans Herz legen kann, aber es bleibt ein leicht unwillkommener Nachgeschmack.

Zu der Ausgabe der Gesammelten Erzählungen von Eduard von Keyserling


landpartie Eduard von Keyserling, der vor fast genau 100 Jahren starb, gilt als einer der wenigen bedeutenden spätnaturalistischen (oder impressionistischen) Schriftsteller. Seine bedeutendsten erzählerischen Werke diktierte er in den Jahren 1903-1918, erblindet und an verschiedenen Gebrechen leidend, seinen Schwestern in der Abgeschiedenheit seines Hauses. Wer mehr über sein Leben vor dieser Zeit wissen oder zumindest einen Eindruck bekommen will, dem empfehle ich die fiktive Biographie von Klaus Modick („Keyserlings Geheimnis“).

Ich mochte Keyserling schon immer, weil er eine sehr angenehme, aber durchaus hintergründige Art zu Erzählen hatte – ein bisschen erinnert er dann und wann an Tschechow. Eine weitere Gemeinsamkeit: Auch Keyserlings Werk besteht vor allem aus längeren Erzählungen und Novellen. Diese neue Ausgabe kann sich rühmen, wirklich alle bedeutenden Erzählungen zu versammeln – sie kann allerdings nicht vollends konkurrieren mit einer Ausgabe, die 1998 bei Heyne erschien („Harmonie. Romane und Erzählungen“) und die neben vielen wichtigen Erzählungen auch die längere Novelle „Wellen“ enthält, sowie die Romane „Dumala“ und „Feiertagskinder“.

Trotzdem lohnt es sich, diese neuere Ausgabe anzuschaffen, vor allem, weil sie nicht ganz so wuchtig ist wie Ausgabe von Heyne. Wer auf der Suche nach einer malerischen und dennoch feinsinnigen Lektüre ist, der kann mit Keyserling nichts verkehrt machen. Seine Geschichten über den alten Adel, die Leichtigkeit und Schwere der kleinen Missverständnisse und großen Gefühle, die er mit vollendeter Schlichtheit skizziert, sind von bleibender Eleganz und auch heute noch, als Seelenerkundungen, sehr stimmig.

Liste der enthaltenen Texte:

Nur zwei Tränen
Mit vierzehn Tagen Kündigung
Das Sterben. Ein Sommerbild
Grüß Gott, Sonne!
Grüne Chartreuse
Die Soldaten-Kersta
Der Beruf
Schwüle Tage
Harmonie
Sentimentale Wandlungen
Im Rahmen. Skizze
Seine Liebeserfahrung
Gebärden
Die sentimentale Forderung
Osterwetter
Die Verlobung
Geschlossene Weihnachtstüren
Frühlingsnacht
Landpartie
Bunte Herzen
Föhn
Winterwege
Prinzessin Gundas Erfahrungen
Am Südhang
Nachbarn
Die Kluft. Zwei Dialoge
Das Landhaus
Vollmond
Schützengrabenträume
Nicky
Verwundet
Der Erbwein
Pfingstrausch im Krieg
Das Kindermädchen
Das Vergessen
Die Feuertaufe
Im stillen Winkel

Zu Ralf Georg Reuths “Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs”


kurze geschichte des 2. weltkrieges Ralf Georg Reuth hat eine “Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs” verfasst. Ist aber nicht schon wirklich genug über diese sechs Jahre geschrieben worden? Es gibt riesige Wälzer über Stalin und Hitler, es gibt andere Wälzer mit detaillierten Analysen der einzelnen Feldzüge, Analysen und Beweise der Kriegs- und Zivilverbrechen, Guido Knopp und andere haben Zeitzeugen befragt, Historiker haben über den großen Rahmen, den Krieg der Ideologien, geschrieben. Und wer will, der kann sich tagelang Fernseh-Produktion zum Dritten Reich und dem Krieg anschauen. Was bleibt da noch zu tun?

Nun, viele der erwähnten Publikationen sind selbst (freiwillig oder unfreiwillig) Teilnehmer an einem Konflikt, einem Kampf um die Deutungshoheit –s denn bei kaum einem historischen Ereignis gibt es so viele unterschiedliche Ansätze, so viele Fokusse vor allem. In welchem Licht soll man den Zweiten Weltkrieg und seine Akteure betrachten, vor allem was die größeren Zusammenhänge und die Absichten angeht?

Ralf Georg Reuth wirft dieses Licht in seiner Zusammenfassung vor allem auf Adolf Hitler, er ist für ihn die Schlüsselfigur, und sein Buch ist eine Analyse von Hitlers Entscheidungen und in vielen Teilen eine subtile Dekonstruktion von dessen Nimbus. Er stellt ihn nämlich nicht mit jener Ehrfurcht dar, die selbst die kritischen Biographien lange Zeit irgendwie mitgetragen haben, die in jedem Spiegel-Sonderheft-Artikel immer noch mitschwingt und die hinter den tausenden Einzelpublikationen Pate stand. Vielmehr zeigt er Hitler als einen Mann, der permanent in Illusionen gefangen war und der nicht von ihnen lassen konnte – und dessen militärische Erfolge zumeist Glückstreffer waren.

Reuth verharmlost den Diktator keinesfalls, auch seine Talente beim Reden und die bezwingende Energie seiner Präsenz, seine Wirkung auf die Massen, stellt er nicht in Abrede. Nur schreibt er dies alles ganz klar dem Wahnhaften seines Wesens zu und nicht irgendeiner Form von Größe oder Finesse.

Mit Hitler im Mittelpunkt, der lange seiner Vorstellung von einem Bündnis mit Großbritannien alles unterordnete und auch ansonsten völlig unrealistische Bündnisse zustande bringen wollte, führt uns Reuth durch die militärischen Ereignisse des 2. Weltkriegs. Er fasst das meiste gut zusammen und bringt viele kleinere Randnotizen zur Geltung (bspw. mit wem Hitler sich bzgl. seiner meist scheiternden Bündnis- und Kriegspläne trifft), die neue Einblicke erlauben, führt ebenso ohne Scheu den Irrsinn und die Absurdität vieler Aspekte vor Augen. Manchmal gefällt er sich, so kommt es mir vor, ein bisschen zu sehr in seiner Rolle als Zusammenfasser und Aufdecker. Aber dies sei ihm verziehen.

Diese neuste, zusammenfassende Publikation zum 2. Weltkrieg ersetzt natürlich nicht die vielen breiteren Werke und Analysen, aber ergänzt sie wunderbar und kann gut für sich stehen. Wer eine kluge, undramatische und nicht allzu aufs Militärische versessene Geschichte des 2. Weltkriegs sucht: Voila.